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Thema: 2036: a Union at war

  1. #41
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
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    @Colonel Maybourne: Die Aschen stehen genau wie viele andere Völker auch unter der Bedrohung durch Antiker, die ihre alten Welten wieder beanspruchen. Aber anders als andere können sie den Eindringlingen nützlich sein, so dass sie vor die Wahl gestellt wurden: Für sie arbeiten oder gegen sie kämpfen. Und da sie ein gnadenlos rational und wirtschaftlich denkendes Volk sind, haben sie sich als Söldner einspannen lassen. Ihnen liegt nichts an den Antikern. Sie zahlen nur gut.

    @Heiko_M: Ich hatte mir felsenfest vorgenommen dieses Kapitel auf halber Länge in zwei Teile zu schneiden und die einzeln zu Posten. Habe ich auch gemacht. Nur habe ich den Schnitt inhaltlich festgelegt und nicht aufgrund der Textmenge. So ist dummerweise schon der erste Teil für sich siebzehn Seiten lang geworden. Ich hoffe auf Nachsicht.

    @Azrael und Dante21: Danke für das betätigen des Buttons.


    So, und hier das nächste (Halb-)Kapitel. Das ganze knüpft an die Handlung von 1.20 "Ein Teil jener Kraft, die gutes will, doch böses schafft" an. Handlungsort ist der Planet Langara und ich hoffe einige Überraschungen eingebaut und das ganze vor allem unterhaltsam gemacht zu haben. Gesamtlänge 18 Seiten (eigentlich: 17 und drei Zeilen). Viel Spaß beim Lesen.


    Episode 9: Kämpfer für die Vergessenen

    Erste Strahlen der Morgensonne fielen durch das mit den Jahren milchig angelaufene Glas des Fensters und ließen Vin Thartus blinzeln. Als er die Augen aufschlug fiel sein Blick auf die Männer, die für die Nacht den Raum mit ihm geteilt hatten. Es hatte nur zwei Betten gegeben, so dass einige hatten in Decken eingewickelt auf dem Fußboden schlafen müssen. Er sah im Augenwinkel, dass Noor, eine der beiden Frauen unter ihnen und zwei Männer sich dicht aneinandergeschmiegt und ihre Decken eng umeinander geschlungen hatten und musste schmunzeln. Sie war mit kaum fünfundzwanzig Jahren die jüngste der Gruppe und kannte seit frühester Kindheit nur eine Welt, die in einem Krieg gefangen war, dessen Gesicht sich zwar gewandelt hatte, der jedoch derselbe geblieben war. Ihr Leben war hart gewesen und hatte sie unbarmherzig und distanziert gemacht. Nie hatte sie jemanden emotional an sich heran gelassen und schien nur bei ihnen geblieben zu sein, weil sie sonst keinen Ort hatte an den sie gehen konnte. Doch Kälte konnte Menschen einander manchmal auf wundersame Weise näher bringen. Und sei es auch nur für die Wärme.

    Sachte bewegte er sich und glaubte die Nacht habe alle Wärme aus seinen Gliedmaßen vertrieben. Seine Finger, die immer noch auf dem Lauf seines Gewehrs lagen, waren kalt und schmerzten und seine Bewegungen waren steif und ungelenk. Er stieß einen leisen, missmutigen Laut aus, schlug die Decke beseite und setzte sich auf der Bettkante auf. Die Müdigkeit wich binnen weniger Augenblicke. „Guten Morgen, Commander“, durchbrach eine Stimme die Ruhe. Er sah auf. Einer der Männer saß gegen die Wand gelehnt neben der Tür, das Präzisionsgewehr gegen die Schulter gelehnt. Er hatte die letzte Wache gehalten. Vin nickte ihm zu und stand auf. Langsam und mit viel Kraft bewegte er sich ein wenig auf der Stelle, ließ alle großen Muskeln einmal spielen. Die Schultern schmerzten ein wenig. Zehn Jahre Krieg und zehn Jahre auf der Flucht begannen ihren Tribut zu fordern. Er trat ans Fenster, öffnete es und streckte den Kopf hinaus in den frischen Wind. Obwohl der Frühlingsanfang schon fast zwei Monate zurück lag, fielen die Temperaturen hier, hoch im Norden, nachts immer noch unter den Gefrierpunkt. Sein Blick schweifte über die vom Frühnebel verschleierten Ebenen. Das Land besaß eine unglaubliche Weite. Von einem breiten Fluss durchzogene mächtige und dunkle Wälder, die noch weiter gen Norden im Flachland der Tundra ausliefen, erstreckten sich bis zum Horizont. Es war ihm unverständlich, wie jemand an diesem Ort leben konnte. Die Bewohner dieses kalten, unwirtlichen Landes waren ihm suspekt. Möglich, dass sie einmal die selben Farben getragen hatten, aber nur wenige aus der Gruppe waren wirklich bereit ihnen vertrauen.

    Er wandte sich vom Fenster ab und stieg über die am Boden liegenden Männer hinweg – einige wurden von der kalten Frischluft geweckt – zum wackeligen Tisch, der in einer Ecke des Raumes stand. Das Wasser in der Waschschüssel darauf war von einer dünnen Eisschicht bedeckt. Er zerschlug das Eis, tränkte einen Waschlappen im kalten Wasser und warf einen Blick in den Spiegel. Sein Gesicht war vom Schmutz der letzten Tage verklebt, in denen sie keine Bleibe gefunden und unter freiem Himmel hatten biwakieren müssen. Er rieb sich mit dem Lappen ab und rückte seinen alten Mantel zurecht. Das einmal dunkle Grau des Stoffs war verwaschen, hatte viele verschiedene Schattierungen angenommen. Einige Flecken ließen sich nicht mehr herauswaschen, die Knöpfe fehlten sämtlich und die Lederstücke, die er an den Ellenbogen aufgenäht hatte, waren durchgewetzt. Seit er ihn bekommen hatte, hatte er ihn keinen lang Tag mehr abgelegt, hatte Nachts darin geschlafen und würde darin sterben. Und wenn er darin vor die Wächter des Jenseits treten würde, würde er ihnen sagen: Schickt mich zurück, ich bin noch nicht fertig. Die meisten hatten das Grau fortgeworfen, verbrannt oder ihre Mäntel neu gefärbt. Wer es noch trug, tat es aus Überzeugung und war stolz darauf. Selbst auf den Straßen der Hauptstadt Kelownas würde er ihn nicht ablegen. Sollten sie alle wissen was er war, wofür er gekämpft hatte. Es würde ihnen vor Augen führen wie leer ihr Sieg war, denn sie hatten ihn nicht gebrochen.

    Er scheuchte die anderen hoch und nahm die Treppe nach unten. Im Parterre ging er in einen großen Raum, in dem eine junge Frau dabei war an einer großen Tafel Essen aufzutragen. Es war ein großer, fensterloser Gemeinschaftsraum, der nur vom Herdfeuer und einigen flackernden Lampen ausgeleuchtet wurde. Einige Männer saßen schon beim Essen und er entdeckte auch ihren Anführer. Deros Kota saß in einer Nische des Raumes auf einem Teppich bei einer greisen Frau, deren runzeliges, verschrumpeltes Gesicht und krummer Rücken erahnen ließen wie alt sie sein musste, sowie drei Männern, die zu ihren Seiten saßen. Die Frau trug ebenso wie einer der Männer eine in farbenprächtigen Mustern gewobene einheimische Tracht und unterhielt sich mit zittriger Stimme mit dem Offizier. Zu sprechen schien ihr schwer zu fallen. Vin setzte sich an den Tisch und langte nach einem der Emaillenäpfe, in denen das Frühstück serviert wurde. Wie alles in diesem Haus waren sie hundertfach aufpoliert, repariert oder wiederverwertet worden. Die Emaillierung war zerkratzt und an einigen Stellen abgeplatzt. Der hohe Norden war schon immer das Armenhaus der Föderation gewesen. Das erste Mal, dass sein Weg ihn hierher geführt hatte, war er Soldat einer sich zurückziehenden Armee gewesen und hatte Land und Leuten keine wirkliche Beachtung geschenkt. Erst jetzt, in den letzten Tagen, war ihm klar geworden um wie vieles besser es den Leuten in der Hauptstadt und den großen Ballungsräumen im Süden doch trotz der viel beschworenen harten Zeiten seit Kriegsende ging.

    Ohne einen Gedanken an Besteck zu verschwenden – es lag sowieso keines auf dem Tisch – langte er in den Napf und schob sich etwas vom Frühstück zwischen die Zähne. Beinahe hätte er es wieder ausgespuckt. Er sah aus dem Augenwinkel zu dem Soldaten neben sich und fragte: „Ist das roher Fisch?“ Der Mann vernarbte Veteran nickte. „Roh und gesalzen. Sie sollten trotzdem versuchen etwas zu essen. Es gibt nichts anderes.“ Leicht angewidert betrachtete er die rohen Stücke klein geschnittenen Fischs und schob den Napf wieder eine Armeslänge von sich weg. Land, Leute und Essen ähnelten sich auf erschreckende Weise. Dunkel erinnerte er sich an einen Freund aus ferner Vergangenheit, irgendwann vor dem Krieg, dessen Gesicht er sich nur noch verschwommen ins Gedächtnis zu rufen vermochte, der oft von der guten Nordlandküche geschwärmt hatte und fühlte sich rückwirkend betrogen. Dann seufzte er, kratzte sich einen kleinen Fischrest aus dem Gebiss und versuchte statt zu essen dem Gespräch zwischen ihrem Anführer und ihren Gastgebern zu lauschen. Verwundert stellte er fest, dass Kota sich im selben kehligen Dialekt artikulierte, wie seine Gegenüber. Leise murmelte er: „Ich wusste gar nicht, dass der Colonel dieses primitive Kauderwelsch spricht.“ „Genauso dumm, blind und chauvinistisch wie du aussiehst“, erscholl Noors Stimme hinter ihm. Die junge Schützin drängelte sich an ihm vorbei, setzte sich an den Tisch und schnappte sich den Napf, den er so schnöde verschmäht hatte. „Ich glaube ich habe nicht richtig gehört, Specialist.“ „Verzeihung. Ich meinte natürlich: Genauso dumm, blind und chauvinistisch, Sir.“

    Vin verzog das Gesicht. „Was waren das doch noch für goldene Zeiten, als Lagerhaft und Strafdienst die geringsten Strafen für Insubordination waren.“ „Wir haben verloren, oder?“, fragte sie mit vollem Mund. „Die Ausführung des Befehls 'Haltet diese Linie' hat sich etwas schwerer gestaltet als erwartet.“ Er grummelte eine Erwiderung in seinen Dreitagebart und dachte über ihre Worte nach. „Ich und blind...“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist Schwachsinn. Kota ist ein ebenso ehrbarer andarischer Name, wie Thartus oder Silas.“ „Nur ist es nicht sein Name, Genie. Nicht wirklich. Er wurde in Cuvesh geboren und ist ein Qazan.“ Innerlich sträubte Vin sich reflexartig gegen diese Vorstellung. Auch wenn sie seit Jahrhunderten zunächst Teil des andarischen Königtums und später der Föderation waren, sahen viele Andarier in den Qazan nicht mehr als primitive Hinterwäldler, Wilde irgendwo am Rand der Welt, vielleicht sogar noch einen Schritt weiter. Die Idee dass ein Mann wie Kota von hier stammen könnte, erschien ihm lächerlich. Fünfzehn Jahre die sie einander kannten hatte er zwar nie ein Wort über seine Herkunft verloren, aber immer so zivilisiert gewirkt, dass er in ihm nie etwas anderes gesehen hatte, als einen Andari. Doch die Freundlichkeit, die diese Leute ihm gegenüber an den Tag legten und die Art, wie er sich als alles gesagt war vorbeugte, damit die Alte ihm wie bei einer Segensgeste die Hand auflegen und die Stirn küssen konnte, sprachen eine andere Sprache.

    Keine halbe Stunde später verließen sie den einsam auf einer Anhöhe gelegenen Hof und fuhren in einer Kolonne von 4 Fahrzeugen über Forstwege durch die Wälder weiter in Richtung Norden. Vin saß am Steuer des ersten Wagens neben Kota und warf ihm immer wieder verstohlene Blicke zu. Es fiel ihm immer noch schwer in ihm einen Nordmann zu sehen, auch wenn Noors Behauptung ihn nun über die hellen Flecken im Gesicht des Obristen nachdenken ließ, die er immer für einfache Pigmentstörungen gehalten hatte. In der Vorkriegszeig und den ersten Jahren des Konflikts war es noch üblich gewesen Rekruten aus dem Norden ihre Tätowierungen – ein in den andarianischen Kernlanden traditionell mit Kriminellen und Huren in Verbindung gebrachter Körperschmuck, zumal bei den Nordleuten oft Symbole verbotener Glaubensgemeinschaften – mit Säure aus der Haut zu ätzen. Kota hingegen schien ihn nicht wahrzunehmen. Er starrte nur schweigend und mit jenem ausdruckslosen Gesicht, das er immer zur Schau stellte wenn er seine Gefühle verheimlichen wollte, aus dem Fenster. Die Ausläufer der Wälder zogen an ihnen vorbei. Sie erreichten die Tundra, die Straßen wurden zusehends schlechter und es verlangte viel Geschick auf der mit Schlaglöchern übersäten Piste eine halbwegs annehmbare Geschwindigkeit beizubehalten. Als nach mehrstündiger Fahrt ein salziger Nordwind die nahe Küste verriet, löste Kota sich schließlich aus seiner Starre, griff nach seinem Funkgerät und sagte: „Wir sind da.“

    Vin steuerte den Wagen an den Straßenrand und stieg aus. Um sie herum taten sich gen Ost und West die schier endlos erscheinenden Weiten der Tundra aus, eine nur sacht hügelige Ebene, bedeckt mit kurzen Gräsern und Kräutern, immer wieder durchsetzt von Seen und kleinen Flussläufen. Doch da war mehr. Während die anderen aus den Fahrzeugen ausstiegen, nahm er sich seine Waffe, kletterte er auf einen etwas höheren Hügel hinauf und sah in die Ferne über ein gezeichnetes Land. Er stellte einen Fuß auf einen Stein, stützte sich auf sein Knie und legte die Waffe über die Schulter. Er stand da wie der erste Späher einer Armee, die gekommen war um ein weiteres Mal um dieses Land zu kämpfen, den Blick auf den Horizont gerichtet, wo sich die Fluten des Nordmeeres als silberner Streifen abzeichnete und Cuvesh auf einem Hügel lag. Cuvesh, jene alte Siedlung, die seit Anbeginn der Geschichtsschreibung auf einer felsigen Hügelkette thronte, in der heiße Quellen aus der Tiefe Langaras an die Oberfläche drängten und es den Menschen erlaubten den eisigen Wintern der Tundra zu trotzen. Vor der Ankunft der Andari war es nur eine Ansammlung einfacher Holzhäuser um einen heidnischen Götzentempel herum gewesen. Mit dem Einzug der Zivilisation war es zu einem bedeutenden Kaltwasserhafen geworden, aus dem die Reichtümer des Nordens, das Holz der Wälder, Pelze, Fischtran oder das Elfenbein der Säbelzahnrobben, gen Süden verschifft worden waren. Mittlerweile wurde im Hafen allerdings etwas ungleich wertvolleres verladen.

    Der Anblick weckte düstere Erinnerungen. Vierzehn Jahre war es her, dass sich die vierte Föderationsarmee mit den Überresten der fünften und siebten vor dem anrückenden Feind nach Cuvesh zurückgezogen hatte. Ihre Anführer hatten darauf gehofft die Stadt so lange halten zu können, dass die Strenge der Nordlandwinter die Kelownaner zermürben konnte. Ein Plan, der auf fatale Weise gescheitert war. Die Spuren der gewaltigen Schlacht waren immer noch zu sehen. Explosionskrater, die Spuren von Panzerketten und damals ausgehobene Schanzsysteme verunstalteten das Land noch immer wie Pockennarben. An vielen Stellen hatte sich noch nicht einmal eine neue Pflanzendecke bilden können. Aber eine ungleich größere Wunde wurde dem Land erst vor kurzem geschlagen: Einige Kilometer entfernt fraß sich ein gigantischer Ölsand-Tagebau durch die Erde. Keine zwei Meter unter der Bodenkrume gefror das Erdreich zu hartem Permafrostboden, so dass immer wieder weiträumige Sprengungen durchgeführt wurden, um an das wertvolle Material zu gelangen.

    Vin betrachtete den Tagebau für einen Moment, dann sah er wieder in Richtung der Küste und steckte sich eine Zigarette an. Wenn zehn Jahre schon Panzerspuren nicht zu heilen vermochten, was bedeutete der Tagebau dann erst für die Tundra? Die Zerstörung von Land, die Vertreibung weiter Teile der heimischen Fauna – die in Bodenhölen lebenden Marder, deren Felle einmal der Grund für die Eroberung dieses Landes durch die andarianischen Könige gewesen waren, wurden hier wahrscheinlich gerade in freier Wildbahn ausgerottet – durch die Sprengungen und die dauerhafte Vergiftung des Bodens. Bei allem Mangel an Sympathie für die Einheimischen: So etwas hatte niemand verdient. Er rauchte die Zigarette zu Ende und schnippte den Stummel ins Gras. Plötzlich hörte er Kotas Stimme hinter sich. „Zu deinen Füßen ruhen die Gebeine von Königen. Zeig also ein wenig Respekt.“ Der Colonel war so lautlos hinter ihn getreten, dass er erschrocken herumfuhr und beinahe zu seiner Waffe gegriffen hätte. Er widerstand dem Drang ihn anzuschreien, während er den Stummel wieder aufsammelte. Dabei fiel ihm auf, dass der Hügel auf dem sie standen tatsächlich kreisrund war, als sei er von Menschenhand aufgeschüttet worden. Auch Kota sah über die Ebene. Seine Augen blieben am Rand der Gruben haften, wo die schweren Maschinen beim Abtrag des Bodens gerade einen ähnlichen Hügel niederwalzten. Mit zittriger Stimme murmelte er dabei: „Das sind die Gräber meiner Vorfahren.“ Ehrlich betroffen antwortete Vin: „Es tut mir leid, Colonel.“ Sein Mitleid schien jedoch nicht hörbar gewesen zu sein, denn Kota wandte seinen Blick zu ihm und sah ihn vorwurfsvoll an.

    „Erspare uns das, Vin. Ihr habt uns nie verstanden. Ihr habt es nicht mal versucht.“ Als wolle er ihn als Beweisstück präsentieren hielt er die achtlos weggeworfene Zigarette in die Höhe. „Dort wo jetzt die Bagger stehen stand noch als wir im Krieg hier waren eine heilige Stätte, die wir aufgebaut hatten, weil ihr uns verboten habt unsere Rituale in den Städten und Dörfern durchzuführen. Diese Hügel bedeckten das Land einmal viele Meilen weit. Mein Großvater konnte jeden beim Namen nennen. Noch als ich ein Junge war quoll dieses Land“ - er breitete die Arme zu einer Geste aus, die die gesamte Tundra um sie herum einschloss - „im Sommer vor Leben über, wenn die großen Herden wieder aus den Wäldern zurückkehrten, Raubtiere ihren Winterschlaf beendeten und Zugvögel in Schwärmen kamen, die die Sonne verdunkeln konnten. Die scharfe Linie des Horizonts, das Land, die Tiere von denen wir gelebt haben, das ist es, was mein Volk überhaupt erst ausmacht. All unsere Traditionen fußen darauf.“ Er deutete nach Süden. „Die Familie, die uns letzte Nacht aufgenommen hat... Sie sind Gilyas, Flussleute. Ihr Volk lebt so lange am Ainu-Fluss, wie meins in der Tundra. Der Fisch, den du so schnöde von dir geschoben hast, ist ein derart wichtiger Bestandteil ihrer Nahrung, dass die alte Frau mit der ich gesprochen habe nach achtzig Lebensjahren nichts anderes mehr essen kann, ohne davon krank zu werden. Und genau das habt ihr nie in eure verdammten Schädel reinbekommen. Andarier haben uns unsere Bräuche, unsere Sprache und unseren Glauben verbieten wollen und dabei mit gönnerhaftem Lächeln behauptet uns das Licht der Zivilisation zu bringen.“ Er sah noch einmal in Richtung des Abbaugebiets, dann wandte er sich zu gehen. „He, Colonel“, fragte Vin ihn noch, „wie ist den Name?“ „Du kennst ihn.“ „Nein. Ich meine deinen wirklichen Namen.“ Er blieb stehen und sah sich noch einmal um, zögerte. Nach einem Augenblick antwortete er: „Dinier. Dinier Altay.“ Vin nickte. „Dinier, warum immer auch wir hier her gekommen sind, ich stehe weiter hinter dir.“

    Sie stiegen wieder vom Hügel herab, wo der Rest der Gruppe sich mittlerweile eingefunden hatte und wartete. Vierzehn Männer und Frauen, einige in den gleichen grauen Mänteln wie Vin, andere in Zivil, doch alle bewaffnet. „Colonel“, meinte Noor, „vielleicht wäre es an der Zeit uns zu sagen warum wir hier sind. Es ist doch ein ganz schönes Stück von Kelowna hier her. Kota, nein, Dinier Altay nickte. „Ich nehme mal an ihr alle habt den Tagebau im Norden bemerkt.“ Allgemeines bestätigendes Murmeln oder Nicken. „Thanos Standard baut dort Ölsand ab, den sie in einer Raffinerie vor Cuvesh verarbeiten. 350000 Tonnen pro Woche.“ Einige der Männer warfen einander verschwörerische Blicke zu, andere begannen zu tuscheln. Thanos Standard war der größte Ölkonzern Kelownas und vor der gerichtlich erzwungenen Ausgliederung weiter Firmenteile einmal so mächtig gewesen, dass die Vorstände selbst der Regierung Gesetze hatten in die Feder diktieren können. „Nicht dass ich diese Typen leiden könnte“, warf einer der Soldaten ein, „aber seit wann bekämpfen wir Großkapitalismus oder hemmungslose Umweltzerstörung?“ „Das tun wir nicht“, erwiderte der Colonel. „Hier bietet sich uns endlich eine Chance an unsere Leute ran zu kommen, auch wenn sie auf der anderen Seite der Welt festgehalten werden. Thanos Standard unterhält einige lukrative Verträge mit den Geheimdiensten von Kelowna. Thanos agiert weltweit und ist so mächtig, dass kaum jemand es wagt sich mit ihnen anzulegen oder ihnen einmal genauer in die Karten zu schauen. Damit werden sie zur idealen Fassade für verdeckte Operationen und Bewegungen. Und wie es der Zufall will ist Tomis zu Ohren gekommen, dass Valis Hale aus dem Staatsdienst als Sicherheitsdirektor für die hiesige Operation zu Thanos gewechselt ist.“

    Ein erwartungsfrohes Grinsen stahl sich auf einige Gesichter. Hale war einer der Hauptverantwortlichen hinter dem Verschwinden tausender Kriegsgefangener während und direkt nach dem Krieg gewesen und hatte die Arbeitslager in denen sie immer noch festgehalten wurden maßgeblich mit organisiert. „Wir schnappen ihn uns und bieten ihm die Freiheit im Austausch für Informationen über jedes einzelne Lager. Und dann machen wir diese Bastarde berühmt. Sie werden in einige Erklärungsnot kommen, wenn wir dem Weltrat und jeder größeren Medienagentur auf Langara ihre schmutzigen Geheimnisse verraten. Es ist die beste Chance die wir je hatten.“ Noor legte den Kopf schräg und runzelte die Stirn. „Hat Tomis uns nicht vor gerade mal zwei Monaten an die Tau'Ri verraten?“ (Anm. des Verfassers: Auf Langara sind die Mondphasen fast doppelt so lang wie auf der Erde) „Jep. Sicher, er ist er ist ein elender Feigling, aber normalerweise sind seine Infos zuverlässig und bei unserem letzten Treffen hat ihm niemand eine Kanone an den Kopf gehalten.“ „Vielleicht hätten sie es tun sollen.“ Er schüttelte den Kopf. „Tomis weiß, dass ich ihn finden und ihm seine eigenen Eingeweide verfüttern würde, sollte er nochmal versuchen uns zu linken.“

    „Wie sieht die Strategie aus?“ „Die Raffinerie ist gewaltig. Sie hat einen eigenen Hafen, mehrere Exkraktions- und Destillationsanlagen und wird von zwei Kompanien der kelownaner Armee bewacht. Vin, Drakos, Mellic, wir verkleiden uns als Inspekteure um durch das Haupttor zu kommen und holen uns Hale. Sollte die Sache schief gehen, werden wir Rückendeckung und eine Exfiltrationsstrategie brauchen. Daran“, er sah zu einem der Scharfschützen des Teams, „wir schmuggeln dich mit rein. Du musst eine Überwachungskamera außer Gefecht setzen, damit Noor an die großen Öltanks ran kommt. Ein paar Pfund N9 (Anm. des Verfassers: Auf 9%, also brutal hoch, mit Naquadria angereichterter Sprengstoff) dürften ein gutes Argument sein, sollten wir uns den Weg freipressen müssen.“ Die Sprengexpertin nickte. „Wenn ich die Ladungen so platziere, dass sie ernsthaft Schaden anrichten könnten, verwandele ich den Tank damit in eine gigantische Aerosolbombe. Sollten wir tatsächlich sprengen, verdampfen wir alles im Umkreis von 3000 Meter und töten jede Seele auf 5000. Wir würden auch Teile von Cuvesh erwischen. Willst du das wirklich riskieren?“ „Nein. Weder will ich es, noch würde es Sinn machen. Cuvesh ist Thanos egal. Aber in der Raffinerie sind 2000 Kelownaner beschäftigt, die auf dem Gelände arbeiten und wohnen. Außerdem ist das ihre zweitgrößte Raffinerie. Das werden sie nicht riskieren.“ Noor nickte und salutierte. Altay lächelte zufrieden und begann vor der Gruppe auf und ab zu gehen. „Bleibt noch der Punkt das Gelände im Zweifelsfall wieder zu verlassen. Kilian, das ist deine Aufgabe...“

    Gegen Abend fanden sie sich auf einer breiten, zweispurigen Schotterpiste außerhalb von Cuvesh wieder, die die Straße zwischen Stadt und Raffinerie mit dem Tagebau verband, wo ihr Wagen mit geöffneter Motorhaube am Fahrbahnrand stand. Vin hatte sich über den Motor gebeugt, kontrollierte einige Teile und überprüfte den Ölstand, während der Schütze Mellic und der Colonel einige Meter entfernt standen und rauchten. Sie sahen, zumindest auf den ersten Blick, wie gewöhnliche Einheimische aus, deren Wagen liegen geblieben war, wäre da nicht der vierte im Bunde gewesen, der im Wagen sitzen geblieben war und an einem versteckten Funkgerät die Frequenzen der Kelownaner abhörte. Seit fast einer Stunde lauschte er dem Funkverkehr zwischen einer Patrouille, die das Abbaugebiet und die umliegenden Pisten abfuhr, und der Basis. Etwa alle 45 Minuten setzte sie einen Funkspruch ab. Gerade erst war die Meldung durch den Äther gedrungen, dass sie ein weiteres Planquadrat ohne besondere Vorkommnisse überprüft hatten. Dann kam der Satz, auf den er gewartet hatte: „Basis, hier Guardian24: Wir haben hier ein liegen gebliebenes Zivilfahrzeug auf dem Zubringer. Wir überprüfen die Sache.“ „Verstanden, Guardian24. Machen sie Meldung, sobald die Straße wieder frei ist.“ Mit einer Geste signalisierte er dem Colonel und Millic, dass ihre Beute im Anmarsch war. Der Offizier nickte, entsicherte die Waffe die er über dem Steiß im Hosenbund trug. Das Patrouillenfahrzeug hielt gut hundert Meter entfernt. Drei Mann stiegen aus, während zwei weitere sitzen blieben. Während einer mit einer Maschinenpistole absicherte kamen die anderen näher. Ein Mann mit den Abzeichen eines Corporal trat vor und fragte: „Hallo. Sie blockieren einen wichtigen Verkehrsweg. Können wir ihnen helfen?“ Altay musterte den Kelownaner und meinte: „Hm... Ja, sozusagen.“

    „Wo liegt ihr Problem? Haben sie eine Pa...“ Er wurde in seinem Redefluss unterbrochen, als der einige Meter hinter ihm stehende Soldat sich auf einmal an den Hals fasste, wie um ein Insekt zu erschlagen, das ihn gestochen hatte. Er zog sich einen Betäubungspfeil aus der Halsschlagader und sah ihn für eine Sekunde fassungslos an, um dann umzukippen wie ein nasser Sack. Erschrocken wollte der Corporal seinem Begleiter und wahrscheinlich auch den Männern im Fahrzeug etwas zurufen, doch im selben Moment zog Altay seine Waffe und jagte ihm einen Pfeil in den Leib. Seinem Begleiter erging es nicht besser. Er wurde von Vin und Millic praktisch gleichzeitig getroffen. Die Andarier hatten ihre Waffen mit Treibladungen von niedriger Energie geladen und Schalldämpfer aufgeschraubt, so dass nichts zu hören war. Nicht durch Schüsse alarmiert stiegen die beiden anderen Kelownaner ebenfalls aus, als sie sahen, wie ihre Leute umfielen. Kaum dass das Schussfeld auf sie frei war, erledigte sie der Scharfschütze, der schon den ersten ausgeschaltet hatte.

    Als der letzte das Gleichgewicht verlor, gaben acht Personen, die im Gras zu beiden Seiten der Piste gelegen hatten, ihre Deckung auf. Sie alle hatten ihre Position mit Tarnnetzen und an der Kleidung befestigten Tundragräsern verborgen. Gemeinsam mit den vier Lockvögeln liefen sie sofort zum nun herrenlosen Fahrzeug. Einige schleppten die ausgeknockten Männer von der Straße, andere machten sich mit schnellen Handgriffen daran die Nummernschilder des Geländewagens auszutauschen und die Sitzbank im Fond des Wagens zu entfernen. Der Stauraum darunter war voll mit Notfallausrüstung, Reservemunition und zusätzlichen Benzinkanistern, die weichen mussten um Platz zu schaffen. Altay sah dem Treiben zu und knöpfte dabei seine Kleidung auf, unter der eine vor Jahren erbeutete kelownanische Offiziersuniform zum Vorschein kam. Er sah zu ihrem Scharfschützen und meinte: „Also los, Daran. Viel Glück.“ Der so angesprochene ließ nur einen an ein Brummen erinnernden Laut vernehmen und antwortete: „Muss ja funktionieren.“ Dann nahm er sein Gewehr nebst einer zweiten Waffe auseinander, versteckte diese unter dem Fahrersitz und zwängte sich in recht schmerzhaft aussehender Weise den Hohlraum. Währenddessen hatte der Fernmelder sich am Funkgerät zu schaffen gemacht. Wie alle elektronischen Geräte der Kelownaner war es mit einem Computer verbunden. Es war diese verdammte Computertechnik, die in allen Einheiten exzessiv zum Einsatz kamen, zusammen mit ihrer gesamten absurd hoch technisierten Kriegsführung gewesen, die ihnen im Krieg den entscheidenden Vorteil verschafft hatte. Ihre Halbleitertechnik war der aller anderen Völker um gut zwei Jahrzehnte voraus. Niemand hatte sich erklären können, wie sie so plötzlich mit so fortschrittlicher Technologie hatten aufwarten können. Bis die Geheimhaltung ihres Sternentores versagte. Auch wenn Kelowna es nie bestätigt hatte vermuteten viele, dass diese Technik außerirdischen Ursprungs sein musste.

    Funkgeräte auf Fahrzeugen und Stützpunkten konnte sie abhörsicher chiffrieren, indem sie alle analogen Signale in digitale umwandelte und analogen Funkverbindungen konnten Transpondersignale an die Trägerwelle angehängt werden, die Irreführung ausschlossen. Zumindest solange, bis ein Außenstehender ein solches Gerät in die Finger bekam. Der Fernmelder nahm hastig einige Einstellungen am Funkgerät selbst vor, die den Eindruck von Interferenzen erwecken sollten. Dann nahm er sich die Hundemarken seines kelownanischen Kollegen und begann durchzugeben: „Basis, hier Guardian24. Das Zivilfahrzeug hat einen Motorschaden. Wir schleppen es bis zur Hauptstraße und setzen dann unsere Patrouille fort.“ Rauschen und Knistern mischten sich in die Antwort. „Guardian24, die Verbindung ist schlecht. Ich habe Schwierigkeiten sie zu verstehen.“ „Verstanden. Ich wiederhole, Basis: Das Zivilfahrzeug hat einen Motorschaden. Wir schleppen es bis zur Hauptstraße, um den Zubringer frei zu machen.“ Einige Sekunden des Schweigens folgten. Dann kam die Antwort, mit der er dank der schlechten Verbindung gerechnet hatte, machte diese doch seine Stimme praktisch unkenntlich: „Guardian24, identifizieren sie sich.“ „Private Bendis, Dienstnummer 24031-Sulu.“ „Bestätigt, Private. Setzen sie ihre Patrouille fort.“ Er nahm Kopfhöher und Mikrophon ab, atmete erleichtert durch und signalisierte Altay, dass alles geklappt hatte. Dann zog auch er sich eine kelownanische Uniform an und sie fuhren los.

    Ihnen blieb kaum eine halbe Stunde, bevor die Basis das Verstummen der Patrouille bemerken und der Sache nachgehen würde, so dass Vin so stark aufs Gas trat, wie er konnte ohne zu riskieren mit seiner flotten Fahrweise Misstrauen zu erregen. Der Posten am Schlagbaum des vielfach umzäunten Raffineriegeländes winkte sie glücklicherweise aber ohne viel Aufhebens durch, nachdem sie sich ihm als Offiziere für eine außerplanmäßige Inspektion der hiesigen Truppe vorstellten und die mittlerweile mit ihren Bildern versehenen Dienstausweise jener Männer, denen sie vor neun Jahren die Uniformen abgenommen hatten unter die Nase hielten und Altay ihn mit scharfer Stimme anwies sich zu beeilen, so dass er darauf verzichtete ihre 'Dienstnummern' im Computer zu überprüfen. Auf dem Gelände lenkten sie den Wagen auf einen für die Wachposten schlecht einsehbaren Parkplatz und stiegen aus. Ein junger Offizier im Rang eines Captain, dem man seine Unerfahrenheit auf den ersten Blick ansehen konnte, kam ihnen entgegen, als sie sich auf den Weg zu den Verwaltungsgebäuden machten. Er salutierte und sagte: „Major, ich bin Captain Haymer, Kommandant der 192. und 193. Kompanie. M...“ „Ich weiß wer sie sind“, unterbrach Altay ihn mit einer Abschätzigen Geste, während er sich an ihm vorbei schob. „Lassen sie ihre Männer um 2100 auf dem Platz für eine Inspektion durch meinen Lieutenant antreten. Ich werfe in der Zwischenzeit einen Blick auf ihre Unterlagen.“ Mit einem „Jawohl, Sir“ stürzte der Kelownaner diensteifrig davon. Vin und Mellic konnten sich indes ein Lachen nur schwer verkneifen. Seit dem Krieg hatten sie keine derartige Naivität in Uniform mehr zu Gesicht bekommen. Aber das Bewachen einer Ölförderstätte war wahrscheinlich keine Aufgabe, an die man eine Eliteeinheit verschwendete.

    Während sie im zentralen Verwaltungsgebäude verschwanden, lauschte Daran im Wagen angestrengt nach allen Geräuschen in der Umgebung. Als er weder Schritte, noch Gespräche oder sonstige Geräusche hören konnte, löste er sich vorsichtig aus seiner unbequemen Verrenkung und schob die Sitzpolster vorsichtig nach oben. Mit der blank polierten Klinge seines Messers riskierte er einen Blick nach draußen. Dann befreite er sich endgültig, verstaute die Teile seiner Waffen in einem Rucksack und stieg aus. Geduckt und im Schatten arbeitete er sich zur nächsten Gebäudeecke vor, immer ein Auge auf die schier allgegenwärtigen Kameras. Als er sicher war, dass er unbeobachtet war, setzte er sich in Richtung der großen Öltanks in Bewegung. Da er die Uniform eines der Männer trug, die sie auf dem Zubringer überfallen hatten, fiel er nicht sofort als Fremder auf. Mit schnellen Schritten verschwand er zwischen den Tanks, erklomm eine der gewaltigen Konstruktionen mit Wurfanker und Seil und machte sich daran seine Waffen zusammenzusetzen. Zuerst sein Präzisionsgewehr, das er durchgeladen und Schussbereit neben sich legte. Die zweite Waffe war ein leistungsstarkes Druckluftgewehr Marke Eigenbau, das praktisch alles verschießen konnte, für das er den richtigen Lauf hatte. Er hatte damit schon Zielen auf 300 Meter Distanz praktisch lautlos Revolverkugeln in den Kopf gejagt. Nun lud er eine mit Wasser gefüllte Gelatinekugel und legte auf die Kamera an, die eine Gasse zwischen den Tanks und einer Lagerhalle im Auge behielt. Es war nicht einfach mit einem solchen farblosen Paintball auf 60 Meter Entfernung zu treffen, doch beim zweiten Versuch schaffte er es. Die Kugel zerplatzte an der Seite der Kamera an den Lüftungsschlitzen der Kühlung, Wasser spritzte hinein und verursachte einen Kurzschluss.

    Er gab Noor durch kurzes, dreimaliges Klopfen auf das Mikro seines Funkgeräts ihr Signal. Sie war über einen Kanal, der alle Abwässer vom Gelände zum Meer hin ableitete in die Abwasserrohre der Anlage gekrochen. Sie drückte den Kanaldeckel eine Hand breit nach oben. Ihr Blick wanderte herum. Dann zog sie sich mit einer schnellen Bewegung nach oben, holte eine Tasche aus dem Schacht, die sie die ganze Zeit hinter sich her gezogen hatte, schob den Deckel zurück in seine Position, nahm ihr Atemgerät ab und erklomm den Tank, auf dem Daran in Position gegangen war. Der Scharfschütze drehte sich auf den Rücken und sah in ihre Richtung, als sie flach an das Metall gepresst zu ihm gekrochen kam. Mit einem breiten Grinsen wedelte er sich demonstrativ mit der Hand vor der Nase und meinte: „Ah, der betörende Duft einer Frau.“ Sie bedachte ihn mit einem sehr finsteren Blick. „Das nächste Mal sorge ich dafür, dass du durch die Scheiße kriechen musst. Bei dir zu Hause fühlt man sich doch unter der Erde wohl.“ „Nur wenn wir Kohle aus einem Berg kloppen dürfen. Außerdem ist Grubengas geruchlos. Man wird nur ohnmächtig davon.“ Zu leise als dass er es hätte verstehen können murmelte sie eine Erwiderung. Dabei kroch sie zum Deckel des Tanks und öffnete unter Aufbietung aller Kraft die offenbar in der aggressiven Meeresluft rostig und schwergängig gewordenen Verschlüsse. Sie befestigte ein Seil an der obersten Sprosse jener Leiter, die sie zuvor hinaufgeklettert war, öffnete die Luke und schwang sich durch die Öffnung. Während sie an der Innenseite Naquadrialadungen anbrachte, tat sich plötzlich etwas vor dem Verwaltungsgebäude. Daran warf einen Blick durch sein Zielfernrohr und fluchte leise. „Scheiße. Noor, es gibt Probleme.“

    Energisch öffnete Vin die Tür zum Büro des Sicherheitsdirektors und Altay trat mit seinen Begleitern ins Vorzimmer. Die dort arbeitende Sekretärin, die er entgegen aller üblichen Praxis der Streitkräfte und Thanos als Einheimische Erkennen konnte, ein hübsches Ding, dessen enger Rock vermuten ließ, dass der Mann denn zu ergreifen sie gekommen waren sie für mehr angestellt hatte, als nur ihre Kenntnisse einheimischer Sprachen oder als Schreibkraft, erhob sich und fragte auf Kelownanisch: „Was kann ich für sie tun?“ Mellic grinste nur breit und meinte: „Uns nicht im Weg herumstehen.“ Sein unüberhörbarer Akzent musste sie alarmiert haben, denn sie wollte schon die Hand nach dem Notfallschalter am Telefon ausstrecken. Bevor ihre Finger den Knopf berühren konnten, war Altay mit einem Ausfallschritt bei ihr und hielt sie mit eisernem Griff fest. Er sah ihr in die Augen und murmelte in der Sprache der Qazan: „Lass es. Ich will niemanden von meinen eigenen Leuten verletzen müssen. Für einen Augenblick sah sie ihm ängstlich ins Gesicht, doch dann nickte sie, als sie in ihm tatsächlich einen ihres Volkes erkannte. Er ließ sie los, riss aber vorsichtshalber noch das Telefonkabel und Teile der Buchste aus der Wand, bevor der den anderen in Hales Büro folgte.

    Der ehemalige Geheimdienstler musste schon auf dem Sprung in den Feierabend gewesen sein. Mantel und Hut lagen auf seinem Sessel, ein Aktenkoffer mit allerhand Unterlagen stand auf einer Ecke des Schreibtisches und Mellic schien ihm dabei überrascht zu haben noch einige Dokumente in seinem Safe einzuschließen. Nun stand er verschreckt und mit nervös zwischen den Soldaten hin und her zuckendem Blick an die Rückseite des Raumes gedrängt. Als er Altay sah, wurde er kreidebleich. „Kota...“ „In Fleisch und Blut. Erfreut sie wiederzusehen, Hale.“ „Es ist nicht lange genug her.“ Der frühere Colonel schmunzelte und sah den Kelownaner an wie ein Raubtier, das seine Beute in die Enge getrieben hatte. „Ich bin untröstlich. Sollen wir wieder gehen?“ Vin schmunzelte und Mellic lachte voller Häme. „Sie werden sich denken können was wir wollen. Ersparen sie sich unnötige Schwierigkeiten und kommen sie mit.“ Der Mann sagte nichts. Die Angst, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, schien seine Lippen zu versiegeln und ihn zu lähmen. Er hatte gute Gründe sich zu fürchten. Er war Augenzeuge gewesen, als die Widerstandskämpfer Männer kaltblütig erschossen hatten, um an ihn heranzukommen, war wochenlang in ihrer Gefangenschaft gewesen, eingesperrt in ein dunkles Kellerloch, ständigen Verhören ausgesetzt. Physisch gefoltert hatten sie ihn nicht. Zumindest nicht im klassischen Sinne, denn jede Form der Folter hinterließ über kurz oder lang körperliche Spuren. Fast ein Jahr hatte es ihn gekostet sich wieder zu erholen. Er hatte seinen Namen geändert, seine alte Identität völlig ausgelöscht und sich hierher auf einen Posten als Mittelsmann mit Thanos versetzen lassen, weit weg vom Zentrum der Macht, weg von allen Gefangenenkolonnen und Kotas Bande. Wir hatten sie ihn hier nur finden können?

    Altay sah zu Vin und nickte in Hales Richtung. Der Soldat nickte ebenfalls und trat an den Kelownaner heran. Probeweise stupste er ihn an, als wolle er testen, ob Hale noch bei ihnen oder im Stehen in Ohnmacht gefallen war. Die Berührung ließ den Mann kurz und erschrocken aufschreien und gegen die Wand taumeln. Vin beugte sich vor und meinte: „Gehen sie voran. Runter auf den Hof und zu den Parkplätzen. Wenn sie Schwierigkeiten machen...“ Er beendete den Satz nicht, ließ aber die Fingerknöchel knacken, um die unausgesprochene Drohung zu bestärken. Hale nickte eifrig. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er war ein Mann von beeindruckender Statur, etwas über zwei Meter groß und, auch wenn er während er die Gastfreundschaft der Widerstandskämpfer hatte genießen dürfen einige Kleidergrößen verloren hatte, recht korpulent. Aber ihm fehlte jede körperliche Härte. Obwohl er selbst Altay noch um fast einen halben Kopf überragte, hätte keiner der Männer Schwierigkeiten gehabt ihn mit bloßen Händen zu töten. Langsam und trippelnd ging er in Richtung der Tür. Als Vin ihn einmal kräftig anstieß, beschleunigte er seine Schritte und sie traten auf den Flur hinaus. Altay blieb im Vorzimmer noch einmal stehen und warf der Sekretärin einen freundlichen Blick zu. Nach einigen Sekunden begann sie zufrieden zu lächeln. Es brauchte keine Worte. Sie ahnte was Hale bevorstand und fand Gefallen bei diesem Gedanken. Er begann zu lachen und folgte den anderen.

    Das Gebäude war bis auf wenige Angestellte, die Überstunden schoben, um über den Tag liegen gebliebenes abzuarbeiten und einige Ingenieure, die ihren Nachtdienst begannen bereits verwaist, so dass niemand sie ansprach oder aufhielt. Am unteren Treppenabsatz gab Vin Hale erneut einen kleinen Anstoß und deutete in Richtung der Tür. Sie schritten nur eine Sekunde nach dem riesenhaften Kelownaner durch die Türflügel. Doch als er seinen Fuß über die Schwelle setzte hörte Altay auf einmal das charakteristische Klicken eines Dutzends Waffen, die durchgeladen wurden und blieb wie angewurzelt stehen. Er wandte seinen Blick nach links und sah in das Gesicht von Captain Haymer, der zusammen mit einigen Soldaten neben der Tür auf sie gewartet hatte und seine Pistole direkt auf seinen Kopf gerichtet hielt. „Sie müssen mich für ziemlich blöd halten“, sagte der kelownanische Offizier. „Dachten sie ich würde nicht im Ministerium nachfragen, ob Inspektoren geschickt wurden?“ Er zuckte mit den Schultern. „So schlecht standen die Chancen nicht. Eigenständiges Denken ist keine Qualität die man mit eurer Infanterie assoziiert.“ Haymer funkelte ihn zornig an und zischte: „Arroganter Bastard. Weg mit den Waffen.“ „Ich glaube nicht.“ Er streckte zwei Finger der rechten Hand aus wie einen Pistolenlauf und richtete sie auf den Offizier. Dessen spöttisches Lachen wurde schlagartig unterbrochen, als ein Geschoss mit angefeilter Spitze aus Darans Scharfschützengewehr seinen Helm durchschlug und seinen Kopf darunter zerplatzen ließ.

    Reflexartig sahen die Soldaten sich um und versuchten die Position des Scharfschützen ausfindig zu machen. Altay nutzte den Moment aus und ließ sich in die Hocke fallen, wobei er einen Kelownaner, der kaum einen Meter von ihm entfernt stand, mit einem Fußfeger umriss. Danach machte er sofort einen Satz über den zu Fall gebrachten hinweg, entriss ihm dabei sein Gewehr und setzte ihn mit einem kräftigen Tritt k.o. und rannte in den nächsten hinein. Vin und Mallic zogen im gleichen Augenblick ihre Pistolen und eröffneten das Feuer, während ihr vierter Mann sich auch auf ihre Gegner stürzte. Es gelang ihnen die Soldaten auszuschalten, wobei zwei sich hinter eine Häuserecke zurückzogen und permanent um Hilfe funkten, doch Vin wurde von einer Kugel am rechten Bein getroffen und die Schießerei scheuchte endgültig jeden Soldaten in Hörweite auf.

    Auf dem Öltank zog Daran ein weiteres Mal den Spannhebel seiner Waffe zurück und richtete die Waffe auf ein weiteres Ziel. Neben ihm schob Noor gerade ein Magazin in ihr Sturmgewehr und zog eine Gewehrgranate aus ihrer Tasche hervor, die sie auf den Mündungsfeuerdämpfer der Waffe aufsetzte. Das Granatvisier an der Spitze des Laufs ausklappend klemmte sie die Waffe mit dem Arm fest in den Hüftanschlag, wobei sie wütend murmelte: „VerdammterScheißdrecktichbringdieelendenBastardeu msovielzumsauberenAblauf.“ Vor ihr lagen die Blaupausen des Verwaltungsgebäudes, die Altay von Tomis bekommen und an sie weitergereicht hatte. Sie warf noch einen letzten Blick drauf, dann zielte sie auf jene Räume in denen sich die Rechner der Überwachungsanlage befinden sollten und drückte ab. Der Rückstoß ließ sie auf dem glatten Stahl, der ihren Stiefeln kaum Halt bot, beinahe ausgleiten. Als sie sich wieder gefangen hatte, sah sie wie die Granate ein Stockwerk zu hoch einschlug. Doch als sie nachladen wollte bemerkte sie, dass das Gebäude offenbar nicht besonders stabil gebaut war. Der aus den billigsten verfügbaren Materialien hochgezogene Plattenbau nahm es übel so traktiert zu werden. Mehrere Platten brachen aus dem Fußboden der getroffenen Etage heraus und begruben den Serverraum krachend unter sich. Zufrieden hängte sie sich ihre Ausrüstung um und meinte: „Sie sind blind. Los, weg hier.“

    Beide rutschten an der Leiter herab und liefen in Richtung des ausgemachten Fluchtpunkts. Um sie herum hatten die Schüsse und die Explosion die Raffinerie aufgescheucht. Arbeiter flüchteten in Richtung der Wohnquartiere, Soldaten rannten auf ihre Posten. Zweimal liefen sie beinahe in kelownanische Infanteristen hinein, die sie aber kurzerhand über den Haufen schossen. Gut zweihundert Meter vor ihrem Ziel trafen sie auf Altay und seine drei Begleiter. Mallic hatte sich den verwundeten Vin über die Schulter geworfen, während die anderen mit erbeuteten Sturmgewehren in alle Richtungen absicherten. Hale war nicht bei ihnen. Der Geheimdienstler hatte sich bei der Schießerei zwischen ihnen und Haymers Männern wieder in das Gebäude geflüchtet und ein Versuch ihn zu holen hätte bedeutet den Bewachern in die Falle zu laufen. Der Colonel wollte etwas sagen, doch das scharfe quietschen von Reifen schnitt ihm das Wort ab. Sie drehten sich um und sahen mehrere gepanzerte Geländewagen ähnlich jenem Fahrzeug mit dem sie hierher gelangt waren, aus Richtung der Kasernen in ihre Richtung rasen. Kaum dass die Soldaten an den schweren Maschinengewehren der Wagen sie bemerkt hatten, eröffneten sie das Feuer. Sie mussten sich in eine Lagerhalle flüchten. Als sie die Tore zugeschoben hatten sagte Altay: „Zeit für unseren Trumpf. Noor?“ Die Sprengexpertin grinste, zog einen Fernzünder aus ihrer Tasche und warf ihn ihm zu. „Schleicht euch zur Seite raus“, befahl er den anderen. „Ich halte sie ein wenig hin.“

    Einige Minuten später hatten fast hundert Kelownaner vor und um die Halle herum Stellung bezogen. Altay stand im Inneren an einer kleinen Tür neben dem großen Schiebetor und wartete. Als schließlich jemand rief „Das Gebäude ist umstellt. Ihr habt keine Chance. Kommt mit erhobenen Händen heraus“ öffnete er die Tür. Als nicht sofort dutzende Sturmgewehre losdröhnten trat er hinaus, in den Händen den Auslöser. Ein Soldat in der Uniform eines First Lieutenant kam um eines der Fahrzeuge herum, richtete sein Gewehr auf ihn und rief: „Auf den Boden und die Hände über den Kopf.“ „Vergiss es“, lautete die knappe Antwort. „Hör zu, Jungchen, sobald ich diesen Zünder hier loslasse gehen vier Kilo Naquadriasprengstoff in einem eurer Öltanks hoch.“ Der Offizier stutzte und senkte seine Waffe ein wenig. „Ich sehe du weißt was das bedeuten würde. Schick ruhig jemanden nachzusehen. Aber lieber die Finger vom Sprengstoff lassen. Meine Leute wissen, wie man so etwas sicher verdrahtet.“ Der Lieutenant schnauzte einen seiner Leute an nachzusehen. Quälend lang erscheinende fünf Minuten, in denen Altay sich in aller Seelenruhe eine Zigarette ansteckte, später kam er zurück und flüsterte seinen Offizier etwas zu. Die bloße Tatsache dass der nicht sofort schoss zeigte ihm, dass ihnen klar war was passieren würde, würden sie die Bombe entschärfen wollen solange sie ein Signal vom Auslöser bekam. Er trat seine Zigarette aus und meinte: „Ich werde jetzt gehen. Wenn ich auch nur das Gefühl habe, dass mir jemand folgt, braucht ihr alle keine Särge mehr.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und schlenderte eine Hand in der Tasche, die andere am Auslöser ruhig in Richtung des Fluchtpunkts.
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

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  3. #42
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
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    Er ging in Richtung der Docks, an denen einmal die Woche ein großer Tanker mit Öl vollgepumpt wurde. Mehrmals sah er sich um. Als er sicher war, dass die Kelownaner tatsächlich einen respektvollen Sicherheitsabstand einhielten – ihr Offizier schien intelligenter zu sein, als man er aussah – stahl er sich in jenen schlecht einsehbaren Winkel am Fuße eines der großen Frachtkräne, an denen einer seiner Leute, der kurz vor seinem Eintreffen mit einem Schlauchboot an den in Abwesenheit eines Tankers verwaisten Dock gekommen war, einige Taucherausrüstungen deponiert hatte. Fünf fehlten bereits und verrieten ihm, dass seine Leute weisungsgemäß das Weite gesucht hatten. Es war schwer mit nur einer Hand die Sauerstoffflaschen anzulegen, doch die hundertfach eingeübten und routinierten Handgriffe saßen. Nur auf den Isolationsanzug musste er verzichten. Auf die hunderten Male vertrauend, die er als junger Mann im Eiswasser eines Frühlingstages geschwommen war, sprang er in die Fluten, tauchte einige Meter tief und begann immer der Kompassnadel nach wegzuschwimmen. Doch er schien die eigenen Fähigkeiten überschätzt zu haben. Nach gut hundert Metern im beinahe auf den Gefrierpunkt ausgekühlten Wasser spürte er in seinen Gliedern nur noch ein eisiges Prickeln wie Millionen kleiner Nadelstiche. Weitere hundert Meter entfernt waren seine Arme taub und die Beine schwer wie Blei. Er begann die Orientierung zu verlieren und glaubte schon das Antlitz des Vaters der Nacht vor sich zu sehen, der ihn ins Totenreich führen wollte, als vor ihm ein zweiter Taucher ins Wasser sprang, ihn packte und an die Oberfläche zog. Halb erfroren merkte er noch wie kräftige Hände ihn packten und ins Schlauchboot zogen.

    Er kam wieder zu sich, als das Boot auf einen Schotterstrand nahe Cuvesh auffuhr. Er lag zusammen mit einem Dutzend Handwärmern und Noor, die ihn festhielt, in Rettungsdecken eingewickelt. „Ewige Nacht“, waren die ersten Worte, die ihm noch in einem Zustand halber Benommenheit über die Lippen kamen, als er das Bewusstsein wieder erlangte. „Das war wirklich idiotisch, Colonel“, antwortete Mallic, der half das Boot an den Strand zu ziehen. Vin, dessen Bein mittlerweile verbunden war, zog eine Thermoskanne mit heißem aus einem Rucksack, schenkte etwas davon in den Deckel und reichte ihn an Noot, die ihn ihrem Anführer einflößte. Der trank dankbar einige Schlucke und stellte erleichtert fest, dass er seine Füße, Zehen und auch sonst den ganzen Körper noch spürte. Er meinte mit dünner Stimme: „Scheiße gelaufen, was?“ Die Soldaten lachten. „He“, meinte Vin, „wir sind immerhin bis zu Hale durchgekommen und haben ein paar Kelos abgeknallt.“ „Ja. Aber wir sind nicht hier um an irgendjemandem Rache zu nehmen, sondern weil wir Informationen brauchen. Und jetzt müssen wir hier weg, bevor sich die halbe kelownaner Army hierher in Bewegung setzt. „Langsam“, wies Noor ihn zurecht und drückte ihn wieder runter, als er aufstehen wollte. Sie flößte ihm noch einen Becher Tee ein und meinte: „Gebt ihm was Trockenes.“ Man reichte ihm etwas trockene Wäsche und einen alten Uniformmantel. Beide befreiten sich aus den Decken und zogen sich wieder an – sie hatte sich bis auf die Unterwäsche entkleidet, um ihm etwas Wärme zu sprenden.

    Er sah sich um. Sie waren keine zwei Kilometer von der Stadt entfernt, wo der Rest der Gruppe auf sie wartete. Nachdem sie ihre Ausrüstung zusammengepackt, gleichmäßig auf alle Schultern verteilt und sich auf den Weg gemacht hatten, fragte Vin: „Sie werden nach uns suchen. Wie verschwinden wir?“ „Wir schleichen uns auf einen der großen Fischtrawler am Hafen. Viel Besatzung, das reinste Labyrinth. Perfekt um sich zu verstecken. Und irgendein patriotischer Kapitän wird uns arme Vaterlandsverteidiger sicherlich mitnehmen wenn wir versprechen während der Fahrt das Deck zu schrubben.“ Als sie die Stadt erreichten konnten sie bereits eine Kolonne von Militärfahrzeugen erkennen, die das Gelände der Raffinerie verließen. Die Lage war definitiv hässlich. Sie luden die Ausrüstung bei den anderen ab, dann machte Altay sich mit einigen Leuten auf den Weg in eine Kneipe. Er kannte noch einige Leute von früher und wusste aus den wenigen Briefwechseln, die er in den letzten Jahren mit seinen letzten Verwandten gehabt hatte, dass nach allem was sie hier anrichteten niemand in Cuvesh wirklich gut auf die Kelownaner zu sprechen war.

    Die Stadt beherbergte kaum zweihunderttausend Seelen und lag dicht gebaut auf einigen Hügeln, die eine Bucht einrahmten, die seit Menschengedenken einen natürlichen Hafen bildete. Die meisten Häuser drängten sich um eine hölzerne Kirche der Götter der Andari herum, die auf der Spitze jenes Hügels stand, auf dem vor langer, sehr langer Zeit einmal die heilige Stätte des Vaters der Nacht und des Todes und der Fürstin des lebendigen Tages gestanden hatte. Die Häuser schmiegten sich dicht aneinander um in der kalten Jahreszeit und während der Herbststürme der Witterung möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und waren meist aus in den Wäldern der Taiga geschlagenem Holz errichtet. Nur in den neueren Teilen der Stadt, die zumeist aus der Blütezeit der Robbenjagd und Walfangs vor gut hundertfünfzig Jahren stammten, dominierten Stein oder Beton. Altay führte seine Leute in eine Bergstraße, von den alten Fischspeichern am Hafen hinauf zum Kirchenhügel führte, wo er direkt auf eine alte Bar zusteuerte, die er oft mit einigen Freunden besucht hatte, bevor man ihn in den Kriegsdienst gezwungen hatte. Er betrat den Schankraum und sah sich um. Alles war noch so wie früher. Die Einrichtung, die Gerüche, die Geräusche, falls man davon absah, dass andere Musik gespielt wurde und die Leute. Auch wenn er kaum ein Gesicht wiedererkannte, war ihm doch auf den ersten Blick klar, das die Bar immer noch Treffpunkt für viele seiner Leute war. In einigen Nischen sah er Männer in traditionellen bunten Mänteln, die ein Würfelspiel mit aus Pferdeknöcheln geschnitzten Würfeln spielten, aber offenbar auch einige ehemalige Soldaten, die auch noch Grau trugen. Der Wirt würzte das Essen immer noch mit Tundrakräutern und Qazan war die vorherrschende Sprache.

    Er entdeckte einen alten Bekannten an der Theke. Er trat neben ihn und bestellte beim Wirt lautstark ein Bier, um sich dann seinem Freund zuzuwenden, wobei er breit grinste. Der starrte ihn für einen Augenblick ungläubig an. „Dinier...“ „Höchstselbst. Hallo Rustam.“ Er schien noch für eine Sekunde wie versteinert, dann brach er in fröhliches Gelächter aus und sie umarmten einander herzlich. „Verdammt, ich hab 10 Jahre lang nichts von dir gehört. Wo hast du gesteckt?“ „Ist 'ne sehr lange Geschichte.“ Sie klopften einander weiter auf die Schulter. Rustam standen vor Freude die Tränen in den Augen. Sie hatten einander zuletzt während der Kesselschlacht um Cuvesh gesehen, in der er als ziviler Helfer rekrutiert worden war Verwundete in die Lazarette zu tragen. „Mann, deine Schwester hat erzählt du wärest noch am Leben, aber sonst hat niemand etwas von dir gehört. Du hast nicht mal geschrieben.“ „Glaub mir, ich wollte. Aber ich war auf der Flucht und bin es immer noch. Hätte ich nicht nach Cuvesh kommen müssen, ich hätte mich nicht gemeldet. Zu gefährlich.“ Der Andere nickte und musterte Altays Mantel. „Bist einer von denen, was? Widerstandskämpfer, meine ich.“ „Nicht was du vielleicht denkst. Andaria bedeutet mir nichts und ich weiß, dass der Krieg zu Ende ist. Es geht um tausende Schicksale, von denen meine Leute und ich nur durch Zufall erfahren haben.“ „Was meinst du?“

    Er sah sich noch einmal um, beugte sich dann etwas vor und sagte leise: „Rustam, in den Massengräbern von Nikomedia liegen keine Soldaten.“ Die Augen des Anderen verengten sich misstrauisch. „Was?“ „Wir waren bei Nikomedia praktisch am Ende. Es gab kaum noch Munition oder Benzin, fast ein drittel der Männer war verwundet und die Panzer nicht mehr zu begreifen. Die elfte Armee hat nicht bis zum letzten Mann gekämpft. Sie hat kapituliert. Meine Einheit hatte sich zurückfallen lassen, um den Vormarsch der Kelownaner zu behindern. Konnten beobachten wie deren Spezialeinheiten zehntausende Gefangene abgeführt haben. In die Gräber haben sie Tierkadaver geworfen und sie mit den wenigen Toten vom Schlachtfeld aufgefüllt. Erst dann haben sie die Stellungen mit einem Flächenbombardement eingeebnet, um den Eindruck einer Schlacht zu entwickeln. Wir haben uns an die Fersen der Gefangenen geheftet und herausgefunden, dass es noch mehr gibt. Es müssen mehr als hunderttausend sein. Sie haben sie in Arbeitslagern zusammengepfercht und zwingen sie zur Arbeit.“ „Das... Das kann nicht sein. So etwas kann man nicht verheimlichen.“ „Das Sternentor haben sie auch vor uns verheimlicht, bis eines Tages diese Ori vor der Tür standen, oder nicht?“ „A...“ „Ich habe die Lager gesehen, Rustam. Eins erst vor wenigen Wochen. Wir versuchen diese Leute freizubekommen und dafür jagt man uns.“ Der jüngere Qazan sah ihn ratlos an, offenbar unschlüssig was er mit diesem Wissen anfangen sollte. Also kam Altay zum Punkt: „In spätestens einer Stunde fällt ein Haufen schießwütiger Kelownaner in die Stadt ein. Die sind irgendwie hinter uns her und wir müssen verschwinden. Kannst du uns auf einen der Trawler schmuggeln?“ Rustam dachte kurz nach, dann antwortete er: „Morgen früh sollte die 'Maglen' einlaufen. Der Kapitän ist einer von uns. Ein guter Mann. Er wird euch mitnehmen.“ „Danke.“ „Triff mich gegen Acht unten am Hafen.“ Er kloppfte seinem Freund noch einmal auf die Schulter und verließ die Bar. Er merkte nicht, wie eine junge Frau, die in einer Ecke saß, ihn über den Rand ihrer Zeitung hinweg beobachtete. Als er den Schankraum wieder verließ, hob sie die Zeitung wieder vor ihr Gesicht und raunte in ein an ihrem Handgelenk verstecktes Funkgerät: „Er ist tatsächlich aufgetaucht. Informiert den Colonel. Die Operation beginnt wie geplant.“

    Die Nächte waren im Norden zu dieser Jahreszeit kurz. Nur für kaum vier Stunden um Mitternacht verschwand die Sonne hinter dem Horizont, so dass es noch nicht dunkel war, als eine schnelle Transportmaschine mit Hoheitszeichen der kelownaner Streitkräfte auf einer Piste zwischen Stadt und Raffinerie aufsetzten. Soldaten in Kompaniestärke in den Uniformen der Spezialeinheiten entstiegen dem stählernen Kolosse und leicht gepanzerte Fahrzeuge wurden entladen. Der Offizier der Einheit wechselte einige Worte mit dem kommandierenden Lieutenant der Wachkompanien und machte sich auf den Weg zu Hale. Dieser saß in seiner Wohnung bei den Arbeiterquartieren auf einem bequemen Ledercouch und war seit einigen Stunden damit beschäftigt eine Flasche guten Kognaks zu vernichten, freilich ohne sich dabei zu betrinken. Der regelrechten Todesangst, die er hatte durchstehen müssen, zum Trotz war er nicht so dumm zuzulassen, dass der Alkohol seinen Verstand umnebelte. Nur die Angst sollte er dämpfen. Schließlich war er Analyst und Organisator, kein nach langem Einsatz an den Schreibtisch weggelobter Feldagent.

    Sein Gast wurde ihm von einem der Soldaten angekündigt, die vor der Tür Wache hielten. Beim Eintreten sah er sich aufmerksam um. Man konnte der Wohnung ansehen, dass Hale gleich für zwei finanzstarke Organisationen tätig war und sich von beiden gut bezahlen ließ. Lagen normalerweise vier Wohnungen für insgesamt zwölf Leute in einer Etage, hatte man für ihn die vier im obersten Stockwerk zusammengelegt und so ausgestattet, dass er keine Annehmlichkeit missen musste, die die Hauptstadt oder die Ferienorte der Reichen und Schönen zu bieten hatten. Folglich blickte der Geheimdienstler reichlich mürrisch drein, als der Offizier mit schweren Kampfstiefeln über die wertvollen Teppiche lief, spülte die ihm auf der Zunge liegenden Kommentare aber mit einem weiteren Schluck Kognak runter. Dann stand er auf und reichte dem anderen Mann die Hand. „Colonel...“ „Colonel Quinn, Sir.“ „Aha. Interessanter Name. Gehören sie zur Familie von...“ „Nein, Sir. Ich bin nicht mit dem Mann verwandt, der damals das Bombenprojekt sabotiert hat.“ Hale nickte. „Sehr Gut. Sie sind also der Ersatzmann für Colonel Kieran.“ „Ja, Sir.“ Er setzte sich wieder und musterte den Militär. Er war dürfte kaum älter als 35 und damit um einiges Jünger als der Mann sein, dessen Aufgabe er übernommen hatte. Er dürfte nur die letzten ein, zwei Jahre des Krieges mitbekommen haben, in denen die Union aus Tiraniern und Andari nur noch auf dem Rückzug war. Das sprach zwar für wenig Erfahrung, was jedoch durchaus ein Vorteil sein konnte.

    „Haben sie Kota schon einmal in die Enge getrieben?“ „Nein, Sir. Ich habe diese Aufgabe erst vor zwei Monaten übernommen. Nach dem Anschlag auf den ersten Minister während der Konferenz.“ Er nickte. „Aber sie wissen, was es über ihn zu wissen gibt?“ „Soweit es sich den Akten entnehmen ließ.“ „Dann ist ihnen auch klar wofür er kämpft?“ „Ja.“ „Und haben sie ein Problem damit?“ „Wenn sie meinen damit ihn zu jagen lautet die Antwort: Nein. Es ist weder meine Aufgabe ein Urteil darüber zu fällen was meine Regierung während des Krieges oder danach angeordnet, noch würde mich die Einrichtung der Lager stören, würde ich nach meiner Meinung gefragt.“ Hale schlug sich klatschend mit der Hand auf den Schenkel. „Hervorragend. Setzen sie sich. Wollen sie was trinken?“ „Wasser, bitte.“ Er gab einen amüsierten Laut von sich. „Soldat im Dienst, was? Gut. Pflichtbewusstsein und Disziplin sind die Grundpfeiler der Stärke unserer Armee.“ Er trank noch einen Schluck und bedeutete dem Colonel sich Wasser aus einer Minibar neben dem Fernseher zu nehmen. „Ich habe es für nötig gehalten zu fragen, weil wir mit Kieran... Probleme hatten. Der Elan mit dem er seiner Aufgabe nachgegangen ist hat schwer gelitten, nachdem er vor ein paar Jahren ein unbenutztes Gewissen in seinem Spind gefunden hat. Ich hoffe sie erreichen mehr.“

    Er stellte sein Glas beiseite, beugte sich vor und fuhr fort: „Ich habe die Garnison angewiesen alle Ausfallstraßen aus Cuvesh zu blockieren und Satellitenüberwachung der Tundra angefordert. Sie können nicht entkommen ohne dass wir sie entdecken. Es gibt für ihn eigentlich nur einen Fluchtweg: Zur See. Bis sich eine Gelegenheit dazu ergibt wird er sich mit seinen Leuten in der Stadt verstecken. Sie müssen also alles durchsuchen. Mit nur dreihundert Mann könnte das zwar schwierig werden, aber in der Stadt steht noch eine tausend Mann starke Garnison der föderierten Streitkräfte. Mit deren Hilfe sollte es klappen. Sollte deren Kommandant sich weigern sie zu unterstützen sagen sie mir Bescheid. Ich werde ein paar Fäden ziehen und ein paar Stunden später hat er den Befehl dazu direkt von seinem vorgesetzten General.“ Er zückte einen Notizzettel mit einigen Adressen. „Konzentrieren sie sich zuerst auf diese Adressen. Das sind alte Bekannte und Verwandte von ihm. An sie wird er sich zuerst wenden.“ Der Colonel nahm die Liste entgegen und meinte: „Ich mache mich sofort an die Arbeit.“ Er salutierte und wandte sich zu gehen. Hale sah ihm hinterher und rief noch: „Und Colonel: Halten sie auch nach meiner Sekretärin Ausschau. Mit dieser verräterischen Schlampe habe ich noch eine Rechnung offen.“

    Der Colonel fuhr von der Raffinerie aus direkt mit einem Zug Soldaten in die Stadt. Sie durchsuchten die Häuser einiger Verwandter des Gesuchten gezielt, jedoch ohne etwas zu finden. Schließlich fanden sie sich vor einer Kneipe ein, die als sechste Adresse auf der Liste stand. Er betrat das Etablissement mit zwei Männern. Es war ein verrauchter Raum voller Leute, vornehmlich Männer, unter denen viele Alteingesessene zu sein schienen. Nur zwei Frauen in Grau, die mit einigen Männern an einem Tisch saßen und Karten spielten und eine in einer Nische, die völlig in eine Zeitung vertieft schien, vertraten das schwache Geschlecht. Sie ernteten viele misstrauische oder wütende Blicke, als sie hereinkamen. Dabei fiel ihm ein Mann an der Theke auf, der anders reagierte. Wie die meisten sah er sich um, als die Tür sich öffnete, fuhr aber erschrocken herum, als er die Soldaten sah und begann inbrünstig sein Getränk anzustarren. Mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen und etwas energischer Auftretend, als es nötig gewesen wäre, so dass jeder Schritt gut hörbar war, ging der Colonel zu ihm. Bei jedem seiner Schritte zuckte der Mann etwas weiter zusammen. Volltreffer! Er stellte sich neben ihm an die Bar und sagte mit honigsüßer Stimme: „Ich suche Deros Kota. Sie können mir nicht zufälligerweise weiterhelfen?“ „I... Ich habe keine Ahnung wovon sie reden.“ Schlagartig wurde Quinns Stimme scharf: „Versuchen sie nicht mich zu verarschen. Sonst werde ich ungemütlich. Wo ist Kota?“

    Neben ihm schlug plötzlich jemand klatschend beide Hände auf den Tresen. Er sah sich um und sah einen der Männer Grau, der zu seinem Verdächtigen sah und einige Worte in jenem kehligen, rauen Landesdialekt an ihn richtete, die dieser dankbar als Anlass nahm aufzustehen und zu verschwinden. „He, wir sind noch nicht fertig.“ „Doch, seit ihr“, meinte der Graumantel. „Reden sie mit mir.“ Er seufzte und gab seinen Männern einen Wink den regelrecht flüchtenden Zivilisten ziehen zu lassen. Ein Kriegsveteran mochte ebenso gut Kotas Kontakt sein. „Also, sie haben mitbekommen was ich wollte?“ Anstatt sofort eine Antwort folgen zu lassen sagte er noch etwas zum Wirt, der unter die Theke griff und eine Flasche hervorholte, mit deren Inhalt er zwei Schnapsgläser füllte. Graumantel stürzte eines davon herunter und deutete auf das andere. „Ein Begrüßungstrunk.“ Quinn sah ihn mürrisch an, nahm sich dann aber in der Hoffnung er möge danach etwas sagen das Glas und trank den Inhalt zurück. Um ein Haar wäre ihm seine letzte Malzeit wieder hochgekommen. Er krümmte sich, hustete heftig und nahm die Hand vor den Mund. Als er sich gefangen hatte knallte er lautstark das Glas auf den Tresen und brüllte sein Gegenüber an: „Was ist das für ein widerliches Zeug?“ „Schnaps aus Tundrakorn. Zur Begrüßung von Gästen, die ungebeten kommen oder nicht wissen wann sie gehen sollten. Zugegebenermaßen etwas gewöhnungsbedürftig.“

    Normalerweise war Quinn ein geduldiger Mensch, doch auf diese Weise zum Narren gehalten zu werden machte ihn wütend. Er packte den Kerl am Kragen, presste ihn gegen den Tresen und fuhr ihn an: „Hör zu, Dreckskerl: Typen wie dich haben wir im Krieg gestapelt und als Sandsäcke benutzt. Du wirst mir jetzt sagen was ich wissen will, oder ich mache dich fertig.“ Graumantel lächelte ihn an und antwortete: „Nimm deine schmierigen Hände von mir, Arschloch.“ Bei diesen Worten hörte er das Klicken einer Waffe. Er sah an sich hinunter und merkte, dass der Kerl einen unter seinem Mantel verborgenen Revolver gezogen und auf seinen Bauch gerichtet hatte. „Schlechte Idee. Sehr schlechte Idee.“ Seine beiden Männer machten einen Schritt vor und legten die Hände auf ihre Maschinenpistolen. Als sei dies ihr Stichwort gewesen erhoben sich zuerst die vier anderen Graumäntel in der Bar, dann nach und nach noch fast zwei Dutzend anderer Männer und Frauen und zogen verborgene Waffen. Auch der Wirt holte eine Schrotflinte unter dem Tresen hervor. Quinn sah in die Runde. Hätten seine Männer nicht als offene Ziele inmitten des Raumes gestanden, er hätte ohne zu zögern den Kampf riskiert. Aber so standen die Chancen schlecht. Er ließ den Graumantel los und meinte: „Das war ein Fehler.“ Schnellen Schrittes verließ er die Bar.

    Kaum dass er gegangen war trat der Graumantel wieder zwischenseine Freunde. „Sie werden hinter dem Mann her sein, der mit Rustam gesprochen hat. Wer immer auch er ist, er ist einer von uns. Ruft alle zusammen und teilt Waffen aus. Sollten sie zurückkommen begrüßen wir sie mit Kugeln.“ Die Veteranen erhoben noch einmal mit einem lauten Schlachtruf als Trinkspruch ihre Gläser, tranken aus und gingen. Die Zeitungsleserin in der Nische sah ihnen hinterher und ahnte, dass die Sache soeben deutlich komplizierter geworden war.

    Einige Stunden später hatten die Männer der Cuvesh-Garnison die Stadt weiträumig umstellt. Andarische Soldaten des neunten Kavalleriebataillons patrouillierten in kleinen Gruppen durch die Tundra und hatten die Checkpoints an der Straße übernommen. Colonel Quinn empfand eine gewisse Belustigung beim Anblick der Männer in ihren braunen Uniformen – graue Stoffe waren ihnen als Symbol vergangener militärischer Stärke wie so vieles in den Kapituliationsbedingungen verboten worden und man hatte ihnen statt dessen Uniformen gegeben, die sich an jene der Freiheitskämpfer während der tiranischen Besetzung ihrer Kernlande anlehnten – die mit zwar vollautomatischen aber ohne Reihenfeuermechanismen gebauten Gewehren und aufgepflanztem Bajonett Wache versahen und sich dabei gebärdeten wie eine echte Armee. Die Streitkräfte der Föderation waren wie jene der Tiranier nur noch Lachnummern, die mehr mit Kostümvereinen gemein hatten, als mit modernen Armee. Beide waren nach dem Krieg auf hunderttausend Mann zurechtgestutzt worden, hatten alle Panzer, Schnellfeuerwaffen und das meiste schwere Material abgeben müssen. Jede dahergelaufene Mittelmacht hätte sie überrennen können, wären sie nicht noch vom Nimbus der einst mächtigsten Völker Langaras umgeben und wären ihre Länder nicht so weit, dass jede Armee, die kleiner war als die kelownanische, unweigerlich unfähig sein würde auf den gewaltigen Distanzen ihre Versorgungslinien aufrecht zu erhalten.

    Doch trotzdem schien noch ein Funken Stolz in den Männern zu stecken. Der kommandierende Major hatte ihn zuerst von seinen Männern mit aufgepflanztem Bajonett vom Kasernenhof jagen lassen, als er seine Unterstützung verlangt hatte. Und auch jetzt stand er aufrecht und mit stoischem Blick am Kommandoposten am Checkpoint und blickte auf die Stadt, sichtlich unzufrieden mit der Situation. Quinn trat an ihn heran und sagte: „Nun, da die Sicherheitszone endlich steht können wir uns der eigentlichen Arbeit zuwenden. Major, die erste, zweite und dritte Eskdron ihrer Einheit werden über die Hauptstraßen vorrücken und die Stadtviertel...“ „Vergessen sie's“, fiel der Andarier ihm ins Wort. „Sie kennen Cuvesh nicht und haben keine Ahnung von den Leuten hier. Wenn sie mit solchem Aufgebot in die Stadt einrücken wird Blut fließen. Ich mag diese Hinterwäldler nicht, aber verdammt noch mal, sie haben an unserer Seite gekämpft und ich werde meinen Leuten nicht befehlen auf sie zu schießen, selbst wenn der Befehl vom Präsidenten kommt. Wenn sie dort rein gehen, dann allein.“ Quinn seufzte. Warum war dieses Land nur so voll von unkooperativen Narren? „Ganz wie sie meinen. Riegeln sie die Stadt einfach weiter ab. Wir zeigen ihnen wie so etwas geht.“

    In drei Kolonnen fuhren die Kelownaner in die Stadt ein und machten sich daran einen ersten Stadtteil abzuriegeln, um von allen Seiten aus vorzurücken und jedes einzelne Haus zu durchsuchen. Als aber eine der Gruppen in ein weiteres Wohnquartier einbog, wurde das führende Fahrzeug plötzlich von einer Granate getroffen und umgeworfen. Die Soldaten, die sich aus dem Wrack retten konnten, wurden aus Sturmgewehren beschossen. Binnen weniger Augenblicke entbrannte eine heftige Straßenschlacht. Sicher seine Ziele aufgespürt zu haben ließ Quinn alle Einheiten in diese Richtung vorrücken. Als sie aber an drei verschiedenen Straßen von vielen Dutzend Gegnern angegriffen wurden, wurde ihm klar, dass sie nicht etwa auf Kotas Gruppe sondern militante Zivilisten gestoßen waren. Der Kampf war sehr viel heftiger als alles mit dem er gerechnet hatte, waren die meisten ihrer Gegner doch Veteranen, die noch alte Waffen mit sehr viel höherer Kadenz und Durchschlagskraft besaßen, als sie der modernen andarianischen Armee erlaubt waren. Er befahl also die Kolonnen zu vereinen und danach wieder zurückzufallen.

    Einige Straßenzüge entfernt wurden Altay und seine Leute vom Kampflärm aufgeschreckt. Sie hatten sich in einer leer stehenden Wohnung versteckt, um den nächsten Morgen abzuwarten. Als sie das Knattern der Gewehre und die Schlachtrufe hörten, wurde ihnen klar das irgendjemand die Kelownanern, die diese Nacht schon zweimal unter ihrer Wohnung vorbeigefahren waren und sich benahmen als sei dies ein Vorort ihrer Hauptstadt und nicht die Stadt der Qazan, mit Gewehren und Granaten eines besseren belehrt haben musste. Als die ersten Gewehrsalven ihn aus dem Schlaf rissen, griff er sich sein Gewehr und kauerte sich unter das nächste Fenster, um zu lauschen. Die Schusswechsel wurden heftiger und spielten sich keinen halben Kilometer entfernt ab. Er verwünschte die Kämpfer lautlos, beschloss dann aber sich nicht einfach still verhalten zu können. „Alle Mann an die Gewehre. Wir rücken aus.“ Er führte seine Leute die Straße hinab in Richtung des Hafens. Vor sich hörten sie plötzlich das laute Krachen schwerer Kampfstiefel und die Geräusche eines Geländewagens. Eine mindestens zugstarke Kolonne der Kelownaner lief auf das nächste Gefecht zu. Sie versuchten sich in Häusereingängen oder Seitengassen zu verbergen, doch einer der Männer schien etwas bemerkt zu haben. Er blieb stehen, lauschte und machte einige Schritte in die Straße hinein. Als er dann seine Waffe entsicherte und einen Funkspruch absetzte, jagte Daran ihm eine Kugel in den Kopf.

    Binnen weniger Augenblicke war die Kolonne zurück. Ein heftiger Kampf entbrannte. Die Widerstandskämpfer töteten drei Gegner, waren aber gezwungen zurückzuweichen. Einander Deckung gebend und immer wieder einen Versuch wagend die feindlichen Fahrzeuge mit Granaten auszuschalten zogen sie sich zurück. Das Knallen ihrer Waffen mischte sich in das der anderen Feuerkämpfe und auch einer von ihnen wurde getroffen. Als ein weiterer Wagen aus einer Querstraße auftauchte wollte Altay Befehl geben sich in einem Gebäude zu verschanzen, doch der Schütze des zweiten Wagens feuerte nicht auf sie. Statt dessen richtete er seine Waffen auf das andere Fahrzeug aus und feuerte seine Panzerabwehrrakete ab. Im gleichen Moment sprangen mehrere Männer vom Wagen ab und eröffneten das Feuer auf die Kelownaner. Gemeinsam mit Altays Leuten gelang es ihnen die Spezialkräfte schnell und sauber auszuschalten.

    Als die Waffen schwiegen trat Altay auf die Straße hinaus und ebenso langsam wie misstrauisch auf ihre unverhofften Helfer zu, die in der Dunkelheit der kurzen Nacht darstanden und keine Anstalten machten das Feuer auf sie zu eröffnen oder ihre Kapitulation zu fordern. Der Anführer der Gruppe kam ihm entgegen. Wie seine Leute war er in die Uniformen der kelownaner Specials gekleidet. Sein Gesicht wurde allerdings von einer Sturmhaube samt Schutzbrille verborgen. Als er Helm und Haube abnahm, blieb Altay für einen Sekundenbruchteil wie angewurzelt stehen. „Bei der Nacht... Kieran?“ Der Mann, der ihn und seine Leute so viele Jahre verfolgt hatte, grinste und antwortete: „Manchmal glaubt man das Schicksal habe Sinn für Humor, was?“ Schlagartig löste Altay sich aus seiner Starre und nahm sein Gewehr wieder in Anschlag. „Was machen sie hier?“ „Ihnen den Arsch retten. Los, Bewegung. Springen sie auf und lassen sie uns verschwinden. Das gilt für sie alle.“ Altay schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Nicht mit ihnen.“ Der ergraute Veteran, dessen Erfahrung seine Gesichtszüge verhärmt und seinen Glauben in beide, sein Volk im Speziellen und die Menschen Langaras im Allgemeinen, erschüttert hatte, sah ihn eindringlich an. „Ich habe gerade meine Landsleute getötet, um sie zu retten. Das sollte ihnen sagen wie ernst es mir ist.“ Langsam senkte er die Waffe wieder und nickte. „Warum?“ „Weil es eine Sache ist Kriegsgefangene als Reparation Schäden wieder beheben zu lassen, aber eine ganz andere sie noch Jahre später knechten zu lassen, nur um das Wirtschaftswachstum um ein Paar Prozente nach oben zu drücken. Und weil ich jemanden gefunden habe, der bereit ist etwas daran zu ändern.“ „Sie wissen was passiert, wenn sie versuchen mich aufs Kreuz zu legen?“ „Die Erfahrung will ich gar nicht erst machen.“

    Sie setzten sich auf den Wagen und fuhren bis zum Stadtrand, wo ein größerer Wagen auf sie wartete. Bis auf Altay und Vin stiegen die Andarier auf den Lastwagen auf. Gemeinsam fuhren sie auf den größten Checkpoint zu, an dem der Gefechtskoordinator der Specials stand. Altay warf dabei forschende Blicke zu Kierans Begleitern. Obwohl sie hochgradig professionelle Soldaten waren, schienen sie keine Kelownaner zu sein. Er fragte sich mit dem der Colonel sich verbündet haben mochte, der bereit war dieses Risiko auf sich zu nehmen. Kurz vor dem Checkpoint zog er noch einmal die kelownanische Uniformjacke, die man ihm gegeben hatte, glatt. Ihm war rätselhaft, wie eine derart schlichte Verkleidung sie durch die Kontrolle bringen sollte, doch Kieran verbreitete Zuversicht. Als sie vorfuhren trat ein Kelownaner an ihren Wagen und fragte: „Warum verlassen sie die Kampfzone?“ Kieran deutete auf den Laster. „Wir haben ein Dutzend Gefangene eingesammelt. Wir haben Befehl sie zur Raffinerie zu bringen und dort ein provisorisches Gefangenenlager einzurichten. Nun war es aus, schoss es Altay durch den Kopf. Der Posten musste einfach nur zu seinem Computer gehen und die stehenden Befehle ihres Befehlshabers überprüfen, um zu sehen, dass alles eine Lüge war. Und nichts anderes konnte es sein, bedachte man dass Kierans Männer zur Vertrauensbildung ihm und seinen Leuten ihre Pistolen gelassen, ihre eigenen Gewehre aber entladen hatten.

    Als er schon damit rechnete sich den Weg freischießen zu müssen kam der Wachposten nach einem Blick auf den Rechner zurück und sagte: „Alles klar. Gute Fahrt.“ Kieran grüßte ihn und trat aufs Gas. Gut drei Kilometer weiter hielten sie kurz am Straßenrand und nahmen jemanden auf, der am Weg in einem Strauch gewartet hatte. Auch er trug eine kelownanische Uniform. „Alles klar“, bestätigte er mit einem seltsamen Akzent, den er nicht einzuordnen vermochte. „Ich hab das Empfangsgerät am Funkwagen angeklemmt, ohne dass sie was gemerkt haben. Unser Mann müsste vollen Zugriff auf alle Rechner haben.“ „Moment“, schaltete er sich ein, „sie haben die Computer manipuliert?“ „Was denken sie wie dieser arme Tropf einen Befehl lesen konnte, der nie gegeben wurde oder sie nicht erkennen konnte? Wir haben falsche Angaben und Fahndungsfotos hochgeladen.“ „Aber... Nein, das Netz ist sicher, es sei denn man hat eure Militärrechner.“ „Tja, hab ich auch gedacht.“ Er zog ein außergewöhnlich kompaktes Funkgerät hervor und gab durch: „Miss Fabiola, wir sind durch die Kontrollen. Wir melden uns, sollte es Probleme geben. Ansonsten sehen wir uns in Cyrene.“ „Sehr gut, Colonel. Ich wusste, dass ich auf sie zählen kann“, erklang die Stimme einer Frau. „Wir sehen uns in Cyrene.“ „Cyrene?“, fragte Altay verwundert. „Bis zur Grenze ist es aber ein gutes Stück.“ „Jep“, antwortete Kieran. „Es sind fünftausend Meilen bis zur Grenze, der Tank ist voll, es ist dunkel, irgendwo im Wagen sollten noch zwei Schachteln Zigaretten herumfliegen und wir haben noch mehrere Stunden, bis Quinns Leuten klar werden dürfte, dass sie nicht mehr in Cuvesh sind.“ „Tritt drauf.“

    In Cuvesh saß die Frau mit der Zeitung noch mit als letzte in der Bar an der Bergstraße. Der Wirt hatte sie schon längst vor die Tür setzen wollen, sich jedoch anders entschieden als sie ihm ein Bündel Geldscheine unter die Nase gehalten hatte. Seit draußen die Schießerei losgegangen war, hatte sie immer wieder mit jemandem gesprochen. „...wusste, dass ich auf sie zählen kann.“ Sie faltete ihre Zeitung zweimal sorgsam, griff dann noch einmal zu ihrem Funkgerät und sagte: „Alle Achtung, Philipe, sie sind gut. Die Kelownaner haben nichts gemerkt.“ „C'est rien. Die Verschlüsselungen sind einfach nur primitiv. So etwas könnte ich mit einem Taschenrechner knacken.“ Sie schmunzelte. „Na dann, passen sie bis zur Grenze gut auf unsere Jungs auf. Ich mache mich auch auf den Weg.“ „Bién sure. Bis dahin.“ Sie schaltete das Funkgerät ab und stand auf. Dabei sah sie in Richtung des Wirts, der sich geweigert hatte den Raum zu verlassen solange sie noch hier war. „Ich habe ihnen mehr geboten, als diese Bar wert ist. Verdammt, für dieses Geld hätten sie den ganzen Häuserblock kaufen können. Aber sie wollten ja nicht gehen. So leid es mir tut, sie haben zuviel gehört.“ Mit diesen Worten zog sie eine versteckte Waffe und erschoss ihn. Sie ging zu ihm, schloss ihm die Augen und sagte: „Es tut mir Leid. Ruhen sie in Frieden.“ Dann ging sie zur Tür. Als sie über die Schwelle trat, flimmerte die Luft um sie herum kurz, dann war sie verschwunden.
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

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  5. #43
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    Malwieder ein echt super Teil (bis auf den einen oder anderen kleinen Rechtschreib- oder Satzbaufehler, aber die kommen nur sehr selten vor)! Bin mal echt gespannt wie du diese Geschichte in die bereits bestehenden Handlungsstränge einbaust. Wann kommt eigendlich Jula malwieder vor?
    Besten Dank
    MfG Heiko

  6. #44
    Gehasst, Verdammt, Vergöttert Avatar von Colonel Maybourne
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    Diese letzte Szene, hat sich nun rausgebeamt oder war sie nur ein Hologramm, ist ein wenig schwer zu durchschauen gewesen.
    Mann merkt aber schön, wie die Widerstandskämpfer aus dem Hintergrund gelenkt werden, es aber selbst nicht merken.
    Stalin hätte dazu nur gesagt: Nützliche Idioten...

    Allerdings frage ich mich noch, wie man über 100.000 Kriegsgefangene unbemerkt von der Bevölkerung unterbringt und versorgt.
    5.000 würde man schaffen, sicher auch 10.000, aber 100.000?
    Stell ich mir sehr kompliziert vor.
    Bis dann.
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  7. #45
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    Dann will ich mal das Feedback beantworten. Teilweise habe ich ja schon in privaten Nachrichten reagiert, aber etwaige andere Leser interessieren sich vielleicht auch für die Antworten.

    @Heiko_M: Danke für das positive Feedback. Die Einbindung dieser Geschichte in die Haupthandlung wird durchaus Sinn machen. Schließlich betrifft der Konflikt zwischen den Kelownanern und ihren Nachbarn indirekt auch andere Welten. Was die Frage nach Jules angeht habe ich ja schon angedeutet, dass es bis dahin noch eine Weile dauern wird - kein Auftritt vor Episode 12 und auch dort nur in der Nebenhandlung, für alle die es interessiert. Dazu möchte ich aber auch in aller Offenheit zugeben, dass ihre Figur für mich eine Menge Reiz verloren hatte und ich heilfroh war den Sklavenmond-Kyoto-Handlungsstrang endlich fertig zu haben. Bei den letzten Kapiteln dazu habe ich mich regelrecht durch die Zeilen quälen müssen, um etwas zu Papier zu bringen. Ich war einfach fertig mit dem Thema und den Charateren. Schließlich kann ich nichts auf Co-Autoren abschieben, wenn mir eine Figur einmal lästig wird. Ich brauche einfach eine Pause was sie angeht. Außerdem halte ich meine selbstkreierten Figuren für mindestens genauso gut.




    @Colonel Maybourne: Etwaige Unklarheiten bzgl. der letzten Szene kann ich vielleicht mit zwei kleinen Hinweisen ausräumen: Ein Hologramm bei Stargate wäre nicht stofflich und hätte damit keine Projektilwaffe halten oder abfeuern können und rausbeamen würde ein Raumschiff oder eine Operationsbasis in der Nähe erfordern, mit denen immer ein gewisses Verlustrisiko einherginge. Immerhin sind die Kelownaner nicht blöd und sollten sie eine solche Basis ausheben, wäre es Essig mit der Operation. Bleibt also die goldene dritte Möglichkeit

    Was die Widerstandskämpfer angeht: Jep, nützliche Idioten. Sie sind hier Spielball von Menschen mit anderen Interessen, die ihren eigenen aber nicht zwangsläufig zuwiderlaufen müssen. Das nächste Kapitel wird hier Auflösung bringen. Und zu guter letzt sei in Sachen der Frage der Zahl der Kriegsgefangenen gesagt, dass Langara ein Planet mit sehr großen Landmassen ist, die zu großen Teilen von den drei großen Nationen Kelowna, Andaria und Tirania beansprucht werden. Jede dieser drei Nationen ist ähnlich groß wie Kanada oder Russland und haben weite nur sehr dünn besiedelte Landstriche. Außerdem hat Kelowna eine Überproduktion in der Landwirtschaft und freie Marktwirtschaft. Da die Gefangenen nun auf mehr als ein Dutzend Lager, bzw. Kolonnen aufgeteilt sind, ist es zwar nicht leicht, aber durchaus möglich und immer noch lohnend ihre Existenz unter den Teppich zu kehren.



    @Dante & Azrael: Danke für die Danksagung.

    Das nächste Kapitel ist für den kommenden Montag angepeilt.
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  8. Danke sagten:


  9. #46
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    Schön zu hören das es bald weiter geht. Freu mich schon auf dein neues Kapitel auch wen ich es dan noch nicht gleich lesen kann da ich dan im Urlaub sein werde.
    Vielen Dank schon mal im vorraus.
    MfG Heiko

  10. #47
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    Will mal ganz vorsichtig anfragen wan es weiter geht?

  11. #48
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
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    Mann, das war eines dieser Kapitel, bei denen ich den Eindruck habe sie seien nie zu Ende. Ich hatte über mehrere Woche eine regelrechte Schreibblockade, habe Absätze wieder und wieder umgeschrieben und mir vor drei Wochen, als ich im Prinzip fertig war, 20 Seiten Text unwiederbringlich zerschossen, die ich noch mal komplett neu zu Papier bringen durfte.

    Aber ich bin stolz auf das Ergebnis. 36 Seiten Text füllen diese Welt Langara, die bei SG1 nur als Kulisse dienen durfte, um Daniels moralische Überlegenheit zu beweisen, in vielen Details mit Leben zu füllen und ihr eine Geschichte zu geben. Damit ist dieses Kapitel, das ich mittlerweile mehr als einen Aufzug im ersten Akt dieser Staffel betrachte, zum Abschluss gebracht. Ich hoffe das Ergebnis gefällt der geschätzten Leserschaft. An dieser Stelle noch einmal die Bitte um Entschuldigung dafür, dass es so lange gedauert hat. Manchmal kommt eben einfach alles zusammen


    Episode 9: Kämpfer für die Vergessenen (Teil2)

    Die Wellen des Mittelmeers brandeten in sonorem Rauschen immer wieder gegen die Felsen, auf denen der Hafenkai ruhte. Der Abend kündigte sich durch eine tief im Westen der Küste entgegensinkenden Sonne an, deren Licht die Stadt golden durchflutete, und ein sanfter Wind trug warme, salzige Luft vom Meer her heran. Philipe Abrams erlaubte sich einen Moment lang in diesem Anblick zu versinken, alle anderen Gedanken auszublenden und nur die Schönheit der tiefblauen See und des ausgehenden Tages zu genießen. Er stand an den Rahmen eines offenen Fensters seiner Wohnung gelehnt und lauschte dem Rauschen der Wellen und dem Summen, den Stimmen der Stadt. Es war Jahre her, dass er seine Heimatstadt zuletzt gesehen hatte. Sein Leben hatte ihn auf Wege geführt, die er sich in jüngeren Jahren nie hätte erträumen lassen. Er hatte Wunder gesehen, die die meisten Menschen sich nicht einmal zu erträumen vermochten und die meiste Zeit der letzten Jahre in Anatolien, der Bretagne und am kaspischen Meer zugebracht. Doch trotz aller Faszination, die fremde Welten auszuüben vermochten und aller Schönheit, die man selbst an jenen Orten entdecken konnte, an denen er seinen Dienst versehen hatte und immer noch versah – die Bretagne ausgenommen, die ihn immer nur gelangweilt hatte – war es Balsam für seine Seele einmal wieder hier zu sein.

    General Maybourne hatte wenig erfreut reagiert, als er kurzfristig und für alle Beteiligten, ihn selbst eingeschlossen, recht überraschend um Urlaub gebeten hatte. Zwar standen ihm noch einige Urlaubstage zu, doch er warf mit seinem schnellen Entschluss die Dienstpläne für das ganze Team über den Haufen. Nicole, Fatih, Corinna und Guv mussten nun ohne ihn auskommen, was ihnen in Anbetracht ihrer derzeitigen Mission, verdeckte Aufklärung auf einer Agrarwelt der Aschen-Hegemonie, nicht allzu schwer fallen sollte. Doch er hatte weit bessere Gründe diese Leute, die er ohne zu zögern als Kameraden oder sogar Freunde bezeichnete, dieses Mal hängen zu lassen, als Sehnsucht nach der Heimat. Ein Piepen aus dem Nachbarraum riss ihn nach kaum fünf Minuten der Entspannung in die Wirklichkeit zurück. Mit einem seufzen trank er den mittlerweile nur noch lauwarmen Kaffee aus, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte und wandte sich vom Fenster ab. Mit gemächlichen Schritten, welche die sachte Müdigkeit verrieten, die ihn nach fast zwanzig Stunden auf den Beinen befallen hatte, ging er in den Nebenraum, wo auf seinem ausladenden Schreibtisch und diversen Kommoden, teilweise unter Papieren, Datenträgern und leeren Kaffeetassen begraben, fünf verschiedene Rechner standen. Dieser Raum war der Hügel, von dem aus er eine Schlacht dirigierte, die ihn in sein wahres Element abtauchen ließ.

    Einer der Laptops, über den er sich in die Rechner eines Satellitenkontrollzentrums der kelownaner Streitkräfte gehackt hatte. Er hatte einen Sniffer auf das System gepackt, der ihn warnte, sollte einer der vier Satelliten angesteuert werden, die das nördliche Andaria überwachen konnten. Er rieb sich noch einmal die Augen. Die mühsame Kleinarbeit, in der er in den letzten Tagen mehr als ein Dutzend Programme neu hatte schreiben müssen, um sie in die Programmiersprache jener abstrusen 6er-Stellenwertsysteme übersetzen zu können, die auf Langara in Gebrauch waren, damit sie auf den Zielrechnern funktionieren konnten, war auf Dauer sehr anstrengend für die Augen gewesen. Dann beugte er sich vor und warf einen Blick auf die Meldung. „Satellit Vigus 3, ausgerichtet auf 1,18 rad nördliche Breite, 2,2 rad östliche Länge, Beobachtung in Echtzeit.“ Er schmunzelte humorlos und aktivierte ein anderes Programm, das er schon vor zwei Tagen auf den kelownanischen Rechnern versteckt hatte. Es bestand im Prinzip nur aus wenigen Befehlszeilen, die einen Fehler von 12° in der Ausrichtung der Satellitenkameras in der Länge verursachten und die Überwachung damit um knapp 1300 Kilometer nach Osten auf eine auf Satellitenfotos kaum zu unterscheidende andere Straße verschob. In den weiten Landschaften Andarias, in denen viele hundert Kilometer zwischen Landmarken liegen konnten, die einen solchen Fehler zu verraten vermochten, konnte es einige Zeit dauern, bis eines solche Manipulation auffiel und den Flüchtigen so genug Zeit verschaffen in die Taiga zu entkommen, wo die Satelliten sie nicht ohne weiteres Aufzuspüren vermochten und wo sie die Fahrzeuge wechseln konnten.

    Der Rechner meldete ihm die rechtzeitige Ausführung des Programms. Er fuhr sich durch die krausen Haare und atmete erleichtert aus. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, griff nach einer Thermoskanne mit Kaffee und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Paradoxerweise schien die Zeit beim Militär seinen Körper, der mittlerweile nach Schlaf schrie, weich gemacht zu haben. Wahrscheinlich hatte er aber einfach gelernt auf sich selbst zu hören, seit er den erschreckend dünnen, leichenblassen Halbstarken hinter sich gelassen hatte, der Tage ohne Unterbrechung darauf verwendet hatte ein gut gesichertes System zu knacken oder das Internet nach neuen Open-Source- Elementen zu durchforsten, die er für seine Hackingprogramme kannibalisieren konnte. Damals hatte ihm jedes Gefühl gefehlt. Er hatte weder Schmerzen, noch Taubheit gespürt, wenn er stundenlang mit den Knien unters Kinn gezogen dagesessen hatte, hatte die sommerliche Hitze in seiner Dachkammer höchstens aus Sorge um die Geräte zur Kenntnis genommen und sich bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen er etwas zu sich genommen hatte, vor allem von Instantnudeln ernährt. Und trotzdem fühlte er sich wieder wie früher, als er sich mit ein paar Freunden in einem Abbruchhaus am Stadtrand eingenistet hatte, wo sie aus Teilen vom Schrott komplett neue Rechner zusammengesetzt und durch Angriffe auf Netzwerke von Europol und dem FBI gegen das für ein paar Monate im Sommer 2019 gültige internationale Kryptographieverbot im Internet hatten kämpfen wollen. Die Realität hatte die Möchtegern-Cyberterroristen von damals schnell eingeholt, doch für ihn waren es die besten Wochen seiner Jugend gewesen.

    Nun saß er wieder zwischen Rechnern und was er tat war wahrscheinlich nicht weniger illegal als vor 17 Jahren. Mit jedem Anschlag auf der Tastatur machte er sich eines Angriffs auf einen militärischen und politischen Verbündeten Europas schuldig und beschützte Staatsfeinde. Nahm man das Gesetzbuch beim Wort würde er wohl nicht unter einer unehrenhaften Entlassung und zehn Jahren Gefängnis davonkommen, sollten er oder jemand, der seinen Namen nennen konnte, gefasst werden. Trotzdem war er mit Feuer bei der Sache. Nicht nur weil er überzeugt war das Richtige zu tun, sondern auch wegen der einmaligen Erfahrung, die sich ihm bot. Die Technologie seiner Mitverschwörer war umwerfend – abgesehen von den Antikern, den Asgard, den Tollanern und den Goa'uld kannte er niemanden, der Daten ohne Sternentor binnen weniger als einer Sekunde zwischen der Erde und Langara übertragen konnten – der Umgang mit den kelownaner Systemen hatte einen besonderen Reiz. Als er die Zahlen über Datenübertragungsraten und Rechenleistung das erste Mal gesehen hatte, hatte er belustigt geschmunzelt. Nach dem ersten Blick auf die Sicherheitsprotokolle und Verschlüsselungen hatte die Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen und gelacht bis ihm die Luft weg geblieben war. Das alles war eine Erfahrung, die er nicht missen wollte.

    Andernorts:

    Die Nacht durch und der aufgehenden Sonne entgegen gen Süden waren sie über schlechte und staubige Straßen durch die ausgedehnten Ebenen im Herzen Andarias gefahren. Zerschossene und verlassene Dörfer und Kleinstädte säumten die Straße in den zentralen Steppen, wo sich vor dem Krieg noch Felder bis zum Horizont erstreckt hatten und sich nun wieder lichte Nadel- und Hartlaubwälder langsam ausbreiteten. Schlachten, Hungersnöte und Epidemien hatten während des Krieges auf ganz Langara fast zwei Milliarden Opfer gefordert und Landstriche von der Größe kleinerer Nationalstaaten völlig entvölkert. Dinier Altay war fast die gesamte Nacht hindurch wach geblieben, hatte aus dem Fenster gesehen und Colonel Kieran immer wieder kurze Blicke zugeworfen, ohne auch nur eine Sekunde lang die Hand von seiner Pistole zu nehmen. Gegen Morgen, als sie schon fast tausend Meilen hinter sich gebracht hatten, war er schließlich eingeschlafen. Leise schnarchend saß er nun mit vor der Brust verschränkten Armen zusammengesunken im Beifahrersitz, als jemand ihn wachrüttelte. Langsam öffnete er ein Auge und sah mit mürrisch zusammengepressten Lippen in Vins Gesicht. „Was ist, du späte Rache des Adels? Wir sind unmöglich schon an der Grenze.“ Der Andarier grinste. „Nicht ganz. Obwohl ich schon befürchtet hatte du würdest bis dahin durchschlafen.“ Er deutete über seine Schulter. „Fahrzeugwechsel.“

    Erst jetzt fiel Dinier auf, dass der Motor verstummt war. Er richtete sich wieder auf, stieg aus und sah sich um. Die Kolonne hatte in einer Nothaltebucht am Rand einer von Schlaglöchern übersäten Fernstraße angehalten. Einige von Kierans Leuten waren dabei den zweiten Geländewagen in den Straßengraben zu schieben, während der Lastwagen entladen und alle Ausrüstung auf mehrere kleinere Zivilfahrzeuge verteilt wurde. Er stieg aus und streckte sich. Im Augenwinkel bemerkte er, wie einer jener Männer in kelownaner Uniformen etwas von Größe und Form einer Granate hinter dem Wagen her warf. Plötzlich war ein lautes Zischen zu hören und eine plötzliche Hitzewelle wallte ihm entgegen. Verwundert trat er an den Straßenrand und blickte auf einen dampfenden Schlackehaufen, der dort wo sich gerade noch das Fahrzeug befunden haben musste in einer Kuhle aus verbrannter Erde lag. „Ewige Nacht, das...“ Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken. Vin trat neben ihn und meinte: „Unheimlich, was?“ Einige Meter weiter ereilte den Lastwagen gerade das selbe Schicksal. „Wer sind diese Kerle?“ „Keine Ahnung. Von denen, die bei uns auf dem Laster waren, hat seit Cuvesh nur ein einziger etwas gesagt. Ich glaube die anderen sprechen nicht ein Wort Kelownan oder Anda.“ Dinier zog fragend eine Augenbraue hoch. „Ich hab ein paar scharfe Bemerkungen fallen lassen. Keine Reaktion“, erklärte Vin. Er deutete auf das Wrack, dann auf die Männer. „Sie können das Netzwerk manipulieren, haben solche Technik... Ich mag es nicht nicht zu wissen auf wessen Hilfe ich mich verlassen soll. Hast du eine Ahnung?“ Der Colonel sah einen Moment nachdenklich in den Straßengraben. „Bestenfalls eine Idee. Aber ich kann mir nicht vorstellen, welches Interesse sie an uns haben könnten.“

    Gut tausend Meilen nordöstlich:

    Colonel Quinn beobachtete mit versteinerten Zügen die Schiffe, die zu seinen Füßen im Hafen von Cuvesh lagen und immer wieder mit scharrenden Lauten gegen die Fender stießen, während ein Sanitäter eine Schusswunde in seiner Schulter behandelte. Die Kämpfe hatten bis zum frühen Vormittag gedauert und fast zweihundert Tote gefordert. Ein Dutzend Männer seiner eigenen Einheit an einen Haufen Fischer, Viehtreiber und Pelzzüchter verloren zu haben, ließ ihn innerlich kochen. Mehr noch störte ihn aber, dass ihre Ziele ihnen irgendwie entschlüpft sein mussten. Auch wenn seine Leute noch zwei Schiffe durchsuchen mussten, machte er sich doch keine Illusionen mehr: Irgendwie hatte Deros Kota sich ihnen ein weiteres Mal entzogen. Wahrscheinlich hatten er sich mit seinen Männern, so vermutete Quinn, aus der Stadt gestohlen, als einige Specials im Eifer des Gefechts eine von Scharfschützen besetzte Fischmehlfabrik angezündet hatten. Die unmittelbar folgende Staubexplosion hatte mehrere angrenzende Häuser in Brand gesetzt und ein heilloses Chaos verursacht, wie eine Gruppe flüchtiger Terroristen es sich besser nicht hätte wünschen können.

    Er biss sich auf die Lippe und versuchte die Stiche der Nadel zu ignorieren, mit der der Sani seine Schulter wieder zusammenflickte. Eine angefeilte Kugel aus einem Sturmgewehr hatte seine Schutzweste durchschlagen und hätte sein Schulterblatt völlig zertrümmert und wahrscheinlich auch die Schlüsselbeinarterie gestreift, hätte die Weste sie nicht soweit abgebremst, dass sie im Fleisch stecken geblieben wäre. Er hatte die Morphiumspritze abgelehnt. Der Schmerz ließ ihn seine Lektion verinnerlichen. Er hatte den möglichen Widerstand sträflich unterschätzt, hatte nicht in Betracht gezogen, dass selbst in einem Land, dem es seit zehn Jahren verboten war automatische Waffen herzustellen, noch eine unübersehbare Zahl alter Sturmgewehre, die mit der entsprechenden Munition ohne weiteres eine Schutzweste zu durchschlagen vermochten, in den Händen von Veteranen waren, deren Einheiten sich in den letzten Kriegswochen zerstreut und so der Gefangenschaft entzogen hatten.

    Als der Sani den letzten Stich setzte, näherte sich sein Stellvertreter. „Sir“, begann er, „ich glaube unsere Männer verschwenden dort unten ihre Zeit.“ „Sagen sie mir etwas Neues.“ Der andere straffte sich. „Ich habe mir die Berichte der Kontrollposten angesehen. 46 Minuten nach Beginn des Kampfes hat eine Einheit die Stadt verlassen. Angeblich um Gefangene zur Raffinerie zu bringen. Sie sind nie dort angekommen.“ Diese Meldung ließ Quinn aufhorchen. Ruckartig richtete er seinen Blick auf seinen Lieutenant und fragte: „Was?“ „Ein Konvoi aus zwei Geländewagen und einem Laster. Zwei Schwadronen Specials mit sechzehn Gefangenen. Nach Angabe des Wachpostens behauptete der Computer sie hätten einen entsprechenden Befehl gegeben.“ „Das habe ich nicht.“ Der Lieutenant nickte. „Ich weiß, Sir. Aber das Netzwerk behauptet etwas gegenteiliges.“

    Quinn rieb sich mit der Hand über das Gesicht und murmelte leise einige Flüche. Dann begann er seine Taschen abzuklopfen und fragte: „Haben sie Kleingeld dabei?“ Die beiden anderen Soldaten sahen ihn verwundert. Als er seine Frage mit mehr Nachdruck wiederholte, fingerte der Lieutenant einen zwanziger aus einer Tasche seiner Weste und reichte ihn ihm. Er nahm das Geld und ging mit schnellen Schritten die Straße hinunter zu einem Kiosk, dessen Besitzer gerade dabei war die Scherben seines zerschossenen Schaufensters aufzukehren. Quinn packte den Mann, schob ihn gegen den Tresen und hielt ihm den Schein unter die Nase. „Eine Telefonkarte“, verlangte er lakonisch. Der Mann, ein ergrauter Qazan mit zerfurchtem, wettergegerbtem Gesicht, sah zuerst ihn, dann den Schein an und meinte: „Ich nehme kein fremdes Geld.“ Mit sehr finsterem Lächeln schob er dem alten Mann den Schein zwischen die Finger und drängelte ihn ohne ein weiteres Wort beiseite, um selbst über den Tresen nach den Karten zu langen, die in einem Ständer direkt dahinter hingen. Er verließ den Laden und suchte nach einem öffentlichen Fernsprecher. Er nahm den Hörer und wählte.

    Einige tausend Meilen entfernt:

    In der Hauptstadt Kelownas war es noch finsterste Nacht, als General der Abwehr Donar Velis vom Läuten seines Telefons aus dem Schlaf gerissen wurde. Er ließ ein mürrisches Brummen vernehmen und tastete nach dem Telefon auf seinem Nachttisch. „Velis.“ „Verzeihen sie bitte die Störung, General“, meinte ein junger Mann am anderen Ende der Leitung, den er als einen seiner Adjutanten erkannte, „aber ein gewisser Colonel Quinn möchte wissen, ob sie ein R-Gespräch nach Cuvesh annehmen.“ Ungläubig blinzelte er. „Bitte was?“ „Colonel Q...“ „Ich habe sie verstanden. Warum übers Telefon? Ist sein Sattelitenuplink kaputt?“ „Er hat nichts dergleichen gesagt, Sir. Aber er meinte er habe nicht viel Geld dabei und müsse noch weitere Telefonate führen.“ „Was will er?“ „Er hat eine Überprüfung der Netzwerksicherheit für die Einheiten in Nordandaria und die Satellitenaufklärung angefordert. Seine Einheit hatte offenbar eine Rechnerfehlfunktion und bei einer Satellitensuche ist ein Fehler in der Software aufgetreten.“ „Und wegen solcher Lapalien lässt er mich wecken?“ „Er befürchtet einen Bruch der Sicherheit, Sir.“ Mit einem Stöhnen ließ der General seinen Kopf wieder in die Kissen sinken. Nach gut einer halben Minuten hob er den Hörer wieder ans Ohr und fragte: „Hat die Überprüfung etwas ergeben?“ „Ein Fehler in der Datenübertragung und ein Softwarebug. Ein bei einer Einheit an der Grenze zu Hazaran erteilter Befehl wurde fälschlicherweise zu ihm umgeleitet.“ „Dann sagen sie ihm das.“ „Das habe ich bereits, Sir. Er will sich nicht abwimmeln lassen.“ „Na herrlich. Machen sie diesem Idioten zwei Dinge klar: Erstens hat er einen Sat-Uplink, wenn er dem HQ sprechen will und zweitens gibt es einen Grund, warum noch nie jemand das Netzwerk geknackt hat: Es ist nicht möglich.“ Energisch knallte er den Höher wieder auf die Gabel und ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken. Fast sofort fielen ihm die Augen wieder zu und ein wohliges Gefühl der Müdigkeit umfing ihn. Die Worte 'Wie blöd kann jemand sein, der es bis zum Colonel bringt' gingen ihm noch durch den Kopf, bevor er in einen sanften Schlaf versank.

    Zwei Tage später unweit der Grenze zwischen Kelowna und Andaria:

    Zwei weitere Tage waren sie auf Achse gewesen. Die Steppe war einem dicht bewaldeten Gebirge gewichen, das sich seinerseits weiter gen Westen in üppig grünen Flachland verlor. Es war ein grüner, vor Leben überbordender Landstrich, der deutlich dichter besiedelt war, als die wieder erwachte Wildnis jenseits der Berge. Durch Baumwoll- und Getreidefelder, vorbei an alten Dörfern, Kleinstädten und den Ruinen früherer Festungen, die auf Inseln in den breiten Flüssen erbaut worden waren, die ihre Fluten der nahen Küste entgegen lenkten. Je näher sie der Küste kamen, desto mehr Straßen führten zusammen und desto dichter wurde der Verkehr. Denn alle Wege, so sagte der Volksmund, führten nach Cyrene.

    Cyrene begrüßte seine Gäste heute fröhlich und ausgelassen. Die ganze Stadt war festlich geschmückt und zelebrierte ebenso sich selbst, die sie zu einem Symbol für Millionen geworden war, wie ihre Helden, die die Geschichte zu Helden der Föderation gemacht hatte. Seit Anbeginn der Geschichtsschreibung hatten die Bürger Cyrenes nie vor einem anderen Herrn die Knie gebeugt, als sich selbst. Für Jahrhunderte waren sie ein unbeugsamer und freier Menschenschlag gewesen, der unter den Potentaten Langaras als unausstehlich und schwer regierbar galt und hatten sich in dieser Rolle gefallen. Und sie hatten es immer verstanden ihre Freiheit und die strategisch günstige Lage ihrer Stadt in klingende Münze zu verwandeln, was das eine ums andere Mal die Blicke ihrer Nachbarn – ob nun in Gestalt von ambitionierten andarianischen Fürsten, Bauernaufständen, Piraten oder fremden Mächten – auf die Kaufhandelsstadt gelenkt hatte.

    Der letzte solche Konflikt war nun hundertfünfzig Jahre her und hatte Ereignisse nach sich gezogen, die niemand für möglich gehalten hätte, als der kelownanische General Eremal, nach mehreren Feldzügen gegen die Tiranier in seiner Heimat ein umjubelter Kriegsheld, mit 60000 Soldaten den Eridan überquert hatte. Seine Truppe war gefürchtet gewesen. In den letzten Wochen seiner Kämpfe gegen Tirania hatten sie ihre Gegner nur so vor sich her getrieben, so dass Eremal sich schon in Cyrene zur Parade gewähnt hatte. Doch die Verteidiger der Stadt sollten ihm in den Sümpfen der Halbinsel, an deren Spitze Cyrene lag, eine böse Überraschung bereiten. In der ersten Schlacht des Halbinselkrieges wurde der große Stratege von einer Armee überrascht, die Männer und Geschütze in Booten oder auch zu Fuß in einem mehrtägigen Gewaltmarsch durch die Marschwiesen geschafft hatte, auf denen das Wasser oft Hüfthoch stand, räubersiche Amphibien eine ständige Gefahr darstellten und Insekten zur Plage wurden. Was ein schneller Sieg hatte werden sollen, wurde zu einem langen und grausamen Krieg. Nicht von ungefähr nannten viele Karten aus jener Zeit die Marschen der Halbinsel 'Blutsümpfe'. Der Krieg forderte einen hohen Blutzoll von den Kelownanern und brachte auch die Verteidiger mehr als einmal an den Rand einer Niederlage, so dass selbst ihre Frauen zur Waffe greifen mussten. Wahrscheinlich hätte der Krieg sie über kurz oder lang ausgeblutet. Doch es hatte anders kommen sollen.

    Der Halbinselkrieg war der erste in der Geschichte Langaras gewesen, in dem Photographien und Erzählungen von Berichterstattern es der ganzen Welt ermöglichten Anteil zu nehmen. Telegraphen ermöglichten es Berichte schnell in aller Herren Länder zu übertragen, so dass Millionen sensationslüstern mitfieberten und Sympathien für ihre jeweils favorisierte Seite entwickelten. Zyniker behaupteten es sei das erste große Medienspektakel der Geschichte gewesen. Eines Tages nahm schließlich ein Berichterstatter aus den damals von Tirania besetzten Kernlanden Andarias am südlichen Meer eine Ansprache eines Generals der Verteidiger an seine Truppen auf, in der dieser unter dem Jubel seiner Männer und Frauen davon sprach sie würden nicht als Cyrener, sondern Andarier kämpfen. Ihr Kampf, so seine Worte, entscheide nicht nur über die Freiheit ihrer Stadt von Fremdherrschaft und Tyrannei, sondern über die aller Menschen vom westlichen Marschland bis zu den Inseln Kèjiāréns im fernen Osten. Die Aufnahme fand ihren Weg in die besetzten Landstriche, wo sie in die Hände von Studenten, Rädelsführern der jungen sozialistischen Bewegung und armer Schlucker geriet, von denen viele damals die Legende von Kaiser Andarian für sich entdeckt hatten. Andarian, ein Fürst vom südlichen Meer, hatte als einziger Potentat jemals jenen Vielvölkerstaat unter einer Krone vereint, der Jahrhunderte später zur Föderation werden sollte. Man wusste nur wenig über ihn, was ihn dafür prädestinierte für untereinander lange Zeit heillos zerstrittene Gruppen zur gemeinsamen Symbolfigur zu werden. So fanden sich unter seinen Bewunderern paradoxerweise ebenso erzkonservative Bauern, die sowohl in den Tiraniern, als auch den Kelownanern ketzerische Heiden und in Andarian einen starken Herrscher und heiligen Mann sahen, wie Sozialisten, die ihn zu einem progressiven Herrscher und erstem Führer der armen Klassen erklärten. Sie alle ließen dabei außer Acht, dass seriöse Historiker Andarian als skrupellosen Machtmenschen charakterisierten, der sein Reich im Krieg gegen seinen eigenen Vater erworben und seine Brüder ermordet hatte, um seinen eigenen Thronanspruch zu schützen und seinem Volk auf zuweilen brutale Weise die Mittel für seine Kriegszüge abgepresst hatte. Doch nur die wenigsten Menschen ließen sich ein einmal gefundenes Symbol der Hoffnung von der Realität kaputt machen.

    In dieser Stimmung fielen die Worte des Generals auf fruchtbaren Boden. Von fast allen Völkern aus Andarians altem Reich machten sich freiwillige auf, um für Cyrene zu den Waffen zu greifen. Je härter die Schlachten geführt wurden, desto mehr schienen zu kommen. Als die Kelownaner sich nach fünf Jahren wieder zurückzogen, hatte der Krieg fast 300000 Opfer gefordert und 480000 Freiwillige standen in Cyrene. Aber die Armee zerstreute sich nicht einfach wieder. Ermutigt von ihrem Sieg über Kelowna wandten sie sich nun gegen die Tiranier und jagten sie zurück auf eigenen Boden. In Andarians Geburtsstadt trat schließlich ein Parlament zusammen, das die Föderation ausrief und alle adeligen Landesherren, die damals noch weite Teile des Landes beherrschten, aufforderte ihre Provinzen dem Volk zu übergeben. Was folgte war ein weiterer Waffengang, der weitere drei Jahre dauerte und an dessen Ende die Föderation vereint war, sehr zum Leidwesen von Diniers Volk übrigens, das bis zum bitteren Ende zu einem mächtigen Fürstenhaus gehalten hatte, um die Schwüre zu ehren, die seine Ahnen einst gegenüber jenen Männern geleistet hatten, die ihre Nachfahren knechten und zu Kanonenfutter machen sollten, und nun deutlich zu spüren bekam auf der falschen Seite gestanden zu haben. Wenn Cyrene an diesem Tag also das Ende des Halbinselkriegs feierte, war dies eine Feier ganz Andarias.

    Kurz vor der Stadt dirigierte Dinier die Kolonne von der Fernstraße auf eine Nebenstrecke und in eines der Industriegebiete in den Außenbereichen. Während der Feiertage ruhte fast überall die Arbeit, so dass die Straßen zwischen den Manufakturen praktisch ausgestorben waren. Bei einem offenbar leer stehenden Lagerhaus klopfte er dem Fahrer auf die Lehne und signalisierte ihm anzuhalten. Er stieg aus, sah sich noch einmal um und ging auf das Haus zu. An der Tür gesellte sich Mallic zu ihm. Er ging vor der Tür in die Knie, betrachtete das Schloss und zückte zwei feine Werkzeuge und machte sich daran zu schaffen. Keine drei Sekunden später war ein hörbares metallisches Klicken zu vernehmen und er öffnete die Tür einen Spalt weit. Dinier blickte hindurch, eine Hand unter der Jacke auf dem Griff seiner 10mm. Das Innere war unordentlich und staubig. Er ging langsam, vorsichtig in das Lager hinein. Die Fenster der angrenzenden Büros waren verklebt und der Staub auf einigen Kisten dick genug, um letzte Zweifel zu zerstreuen. Er nickte Mallic zu, der das große Rolltor öffnete, um die anderen einzulassen. Kaum dass alle Fahrzeuge durch das Tor waren, ging er an einen der Kofferräume und nahm sein Gewehr heraus, das er mit geschickten, routinierten Bewegungen zerlegte und mit einigen Magazinen in Einzelteilen in den Innentaschen seiner Kleidung verstaute. Dabei sah er zu Kieran. „Ich trete niemandem unbewaffnet gegenüber, der mir von ihnen vorgestellt wird. Aber das hier ist keine Kriegszone. Also keine Waffen für ihre schweigsamen Freunde hier.“

    Der andere Offizier verschränkte mit trotzigem Blick die Arme vor der Brust. „So haben wir nicht gewettet. Außerdem betrachte ich es als eines meiner Grundrechte Waffen zu tragen. Ich bin Kelownaner, schon vergessen?“ Ein Ausdruck, der irgendwo zwischen einem spöttischen Grinsen und Unverständnis angesiedelt war, huschte über Diniers Gesicht. Dann winkte er ab. „Also gut. Aber sie werden es mir sicher nachsehen, dass ich ihnen nie den Rücken zukehren werde.“ Kieran lachte trocken. „Ich gebe mir alle Mühe diese bittere Enttäuschung zu verschmerzen.“ „Gut. Und verstecken sie ihre Schießeisen. Für offen getragene Knarren sind wir hier auf der falschen Seite der Grenze.“ Er sah in die Runde. „Die Straßen werden völlig dicht sein. Alles fertig machen. Ab hier geht’s zu Fuß weiter.“

    Wenig später gingen sie über die von dichter Aktivität erfüllten Seitenstraßen der Altstadt. Buchstäblich jeder der zwei Millionen Bewohner schien auf den Beinen zu sein oder das Geschehen vom Fenster und den Dächern aus zu verfolgen, während aus den Kehlen hunderttausender Besucher ein geradezu babylonisches Sprachgewirr aller Dialekte der Föderation und noch weit darüber hinaus zu hören war. Alles war in ein Meer von Fahnen und Transparenten gehüllt, der Duft der zahllosen Festtagsspezialitäten, die von Straßenverkäufern und in Lokalen feilgeboten wurden, überflutete die Sinne und die Melodien der Musiker, die durch die Straßen zogen und sich von den Fenstern und Dächern der Häuser Münzen zuwerfen ließen, übertönten noch die fröhlichen Stimmen der Passanten. Dinier hatte die meisten seiner Leute weggeschickt, während er selbst mit Vin und Noor bei Kieran und seinen wortkargen Begleitern geblieben war. Er fühlte sich schlicht besser, solange er seine Leute sicher wusste. An einem Tag wie diesem konnten mit der Stadt und dem Strom der Menschen verschmelzen, der sich durch die Straßen wälzte. Kein Verfolger würde sich ihnen an die Fersen heften können.

    Gut eine Stunde nachdem sie sich getrennt hatten, hatten sie sich eine kleinere Parade von Schaustellern angesehen, die unter dem Jubel ihres Publikums in historischen Uniformen durch die Stadt gezogen waren, sich bei einem Straßenhändler mit in honigmarinade gegrilltem Fleisch und Getränken eingedeckt und saßen nun in einer Gruppe von gut hundert Schaulustigen in einem Park und lauschten der Darbietung einer Band, die ihr Repertoire alter Lieder aus allen Teilen der Föderation zum besten gab. Eine zierliche Kèjiārén – eine Angehörige einer weit im Osten lebenden Volksgruppe – stimmte gerade die letzten Töne einer Ballade über den langen Marsch der Freiwilligen gen Osten an, als Kieran Dinier mürrisch zumuffelte: „Wenn ich mir diesen unerträglichen Nationalpathos noch eine Sekunde länger anhören muss, drehe ich durch. Wir sind hier um jemanden zu treffen.“ Mit einem breiten Grinsen sah Dinier ihn an und meinte: „Wir haben Zeit. Genießen sie die Musik. Oder bewundern sie diese schöne Frau. Immerhin ist nicht jeden Tag cyrener Siegesfest.“ Er lehnte sich wortlos zurück. Sein Gesicht verriet seinen Unmut überdeutlich. Er schien in diesem Moment bemüht alle Klischees über kelownaner Pflichtversessenheit und Humorlosigkeit zu erfüllen. Wie sagte der Volksmund? Die meisten Menschen arbeiteten um zu Leben, Kelownaner lebten um zu arbeiten.

    Auf der Bühne beendete die Kèjiārén ihr Lied und verbeugte sich. Während sie sich bejubeln ließ, trat ein Mann in der Kluft eines Einheimischen neben sie und gab der Band den Takt eines neuen Liedes vor. Die Menge jubelte Begeistert, als sie merkte, dass es eines der bekanntesten Kampflieder des Halbinselkriegs war. Die Musiker spielten einige Auftakte und als der Trommelschlag einsetzte sang er:

    Ja, ich bin Soldat, den schwarzen Mantel ich nahm
    Mit den aufrechten Männer zu kämpfen ich kam
    Trag Bajonett und Gewehr, wohin immer ich geh
    Für das alte Cyrene, bis des Südens Himmel ich wieder seh

    Beim Refrain fielen alle aus voller Kehle in den Gesang mit ein. Elektrisch verstärkte Instrumente, die ihren Ursprung in einer der Jugendkulturen Kelownas hatten, hatten sich als Instrumente alter Feinde nie in Andaria durchgesetzt, so dass altes Liedgut gepflegt wurde und $viele Leute noch die alten Texte kannten.

    Heute noch streit ich, schon morgen das Ende mir lacht
    Folge dem Falkenbanner mit Jubel in die Schlacht
    Geboren in Knechtschaft werd einst in Freiheit ich gehn
    Denn auch über meiner Heimat wird Andarians Banner wehn

    Während die Leute um sie herum in den Gesang des Refrains ausbrachen, beugte Kieran sich ein zweites Mal zu Dinier hinüber und fragte: „Und wann können wir endlich zum Treffen gehen?“ Der Qazan zuckte mit den Schultern. „In zwei, vielleicht drei Stunden. Ich sag ihnen eine halbe Stunde vorher Bescheid wann und wo.“ „Eine halbe Stunde?“ Seine Stimme war deutlich schärfer geworden. „Finden sie sich damit ab. Die Nacht soll mich holen, wenn ich ihnen Zeit gebe irgendwo einen Hinterhalt vorzubereiten.“ Dinier wandte seinen Blick wieder der Bühne zu und begann lauthals zu singen.

    Als die Sonne im Südwesten den Horizont zu berühren und den Himmel in Brand zu setzen schien, nannte er Kieran schließlich ein altes Denkmal als Treffpunkt, das in einer Parkanlage am seeseitigen Hang der Kalksteinfelsen, auf denen die Altstadt trohnte, gelegen war. Als sie selbst dort eintrafen, lehnte er sich gegen den Sockel des Monuments, steckte sich eine Zigarette an und sah zu Kieran. „Ich denke es wird Zeit mir zu verraten wer mich so dringend treffen will und was ihre Rolle in der ganzen Sache ist.“ Der Colonel sah in Richtung seiner Begleiter und nickte. „Man könnte sagen, dass mir jemand ein besseres Angebot gemacht hat. Ich bin schon seit einiger Zeit mit der Entwicklung in meiner Heimat unzufrieden und hab meine Meinung laut genug gesagt, um mir einen Ruf als Querulant aufzuladen. Man hat mich von den Specials zu einer Versorgungseinheit am Arsch der Welt abkommandiert, wo ich die heroische Aufgabe hatte die Versorgung eines Stützpunkts in Atienam mit Klopapier sicherzustellen. Und dann spricht mich auf einmal jemand an, der mir bei besserer Bezahlung die Chance bietet etwas sinnvolles zu tun. Ich bin beileibe niemand, der seine Loyalität wechselt wie die Socken, aber hier konnte ich schlecht ablehnen. Den Rest erklärt ihnen am besten Agentin Lions.“ Fragend zog Dinier eine Augenbraue hoch, doch Kieran verzichtete auf weitere Erklärungen, so dass er wartete.

    Zwei Zigaretten später tauchte im Schein der mittlerweile erleuchteten Straßenlaternen eine weibliche Gestalt auf. Dinier richtete sich auf und musterte sie. Sie war nicht besonders groß, was für sich genommen keine Aussagekraft hatte. Gleichzeitig wirkte sie aber sehr jung, so jung dass er sie zuerst für eine einfache Passantin gehalten hätte, wäre sie nicht direkt auf Kieran und sein Team zugegangen, die vor ihr salutierten. Kierans schweigsame Begleiter führten dabei lediglich zwei Finger der linken Hand zur Stirn. Sie erwiderte den Gruß, dann wandte sie sich den drei Andarianern zu und deutete eine Verbeugung an. „Colonel Deros Kota. Es ist mir eine Ehre ihnen endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen.“ „Danke. Gehe ich Recht, dass sie Agentin Lions sind?“ „Fabia Lions, Agentin im Dienst des Senats. Fabiola für meine Freunde.“ „Sie klingen, als sollte mir das etwas sagen.“ Sie schmunzelte. „Ganz im Gegenteil. Ich wäre besorgt hätten sie schon einmal von uns gehört.“ Ihre gute Laune wich schlagartig und sie wurde ernst, auch wenn sich ein Hauch von Sorge in ihre Züge einschlich. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen, während sie fortfuhr: „Ich vertrete eine Organisation, die buchstäblich nicht von dieser Welt ist. Wir bekämpfen die Goa'uld, die alten Sklavenmeister dieser Galaxie, seit mehr als tausend Jahren. Aber um zu überleben, um den Kampf fortführen zu können mussten wir zu Mitteln greifen, die manche als amoralisch bezeichnen würden. So kamen wir nach Langara.“

    „Klartext, Lady.“ Sie zögerte kurz, schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Unsere Führer haben die Erklärung von Langara unterzeichnet, den Bündnisvertrag, der endgültig ein Ende im Kampf gegen die letzten Goa'uld bringen soll. Genau wie Kelowna. Und dadurch holen uns Sünden unserer Vergangenheit wieder ein. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, trat der damalige erste Minister Kelownas an uns heran... Colonel, haben sie sich je gefragt, wie die ihren Weltkrieg gewinnen konnten? Wie ihre militärische Technologie so plötzlich einen Entwicklungssprung von fast fünfzehn Jahren machen konnte und ihre Industrie nicht nur mit der vereinten Produktion Tiranias und ihrer Föderation mithalten, sondern sie sogar übertreffen konnte?“ Dinier stutzte, als ihm klar wurde, was dieses Mädchen andeutete. Unwillkürlich wanderte seine Hand zu seinem Schulterhalfter. Erst im letzten Moment konnte er sich beherrschen nicht zu ziehen. „Um seinen eigenen Krieg gegen die Systemlords führen zu können, hat der Senat Waffen an jeden geliefert, der zahlen konnte. Nur hatten wir im Fall von Langara nicht damit gerechnet, dass es eines Tages auf uns zurückfallen würde.“ „Sie... Ich stehe ihnen bewaffnet gegenüber und sie erzählen mir, dass ihre Leute die Schuld am Tod von zwei Milliarden Menschen auf meiner Welt tragen?“ „Machen sie sich nichts vor. Dieser Krieg hätte so oder so stattgefunden.“ „Nicht auf diese Weise. Die Kelos hätten allein keine drei Monate durchgehalten.“

    Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Hätten wir nicht geliefert, hätten andere es getan. Luzianer, Salvari, wahrscheinlich sogar die Tau'ri. Und zumindest die ersten Beiden hätten keine Skrupel gehabt Massenvernichtungswaffen zu liefern. Wie sähe dieser Planet ihrer Meinung nach aus, wäre der Krieg mit Naquadriabomben geführt worden? Ich habe postnukleare Einöden gesehen. Das wollen sie nicht erleben.“ Ruckartig hob er die Hände und bedeutete ihr still zu sein. Fiebrig und wütend begann er auf und ab zu gehen und kämpfte darum die Selbstbeherrschung zu wahren. „Das ist mir scheißegal. Ich habe Massaker gesehen, die sie sich nicht mal vorstellen können. Jede Nacht höre ich im Traum die Schreie der Sterbenden und sehe ihre Gesichter vor mir. Und jetzt stehen sie vor mir und erklären diese Seelen zu Kollateralschäden in einem Waffengeschäft.“ Er sah sie an. „Ein Kind wie sie kann die Geschäfte damals unmöglich eingefädelt haben. Ich will sie nicht erschießen. Also geben sie mir verdammt noch Mal einen Grund dafür.“ „Der Grund ist, dass wir einander helfen können. Bei der Unterzeichnung der Erklärung waren zwei Planeten nur durch einzelne Nationalstaaten vertreten. Die Erde... und Langara. Beides ist nicht akzeptabel, aber beide Welten sind gleichzeitig unverzichtbar. Die Situation auf der Erde ist stabil genug, dass wir das Feld den Diplomaten überlassen können. Aber Langara gleicht immer noch einem Pulverfass.“

    Sie machte einen Schritt auf ihn zu und sah ihn eindringlich an. „Solange zwischen ihren drei Großmächten noch ein Gleichgewicht der Kräfte existierte, war die Situation zu beherrschen, aber nun nutzt eine einzelne Macht ihre Hegemonie mit brutaler Rücksichtslosigkeit aus. Der Senat hat intime Einblicke in die inneren Zirkel der Macht der kelownaner Politik. Als einer ihrer Wissenschaftler wenige Monate vor dem Krieg ihr Naquadria-Bombenprojekt kurz vor dem entscheidenden Durchbruch sabotiert hat, haben die Hardliner den ersten Minister zum Rücktritt gezwungen und eine eigene Kandidatin in das Amt gesetzt.“ „Dreylock“, merkte Vin an. Die Agentin nickte. „Dreylock war wie jeder erste Minister nach ihr nichts weiter als eine Galionsfigur. Sie waren jederzeit austauschbar und hatten keine wirkliche Macht. Die liegt bei den Staatssekretären, Leitern der Geheimdienste und Generälen, die seit Kriegsbeginn im Amt sind. Es hat sich eine Kamarilla von Nationalisten, Konservativen und Wirtschaftsführern gebildet, die von der Rechtmäßigkeit aller ihrer Taten und der Berufung ihrer Nation zu einem höheren Ziel überzeugt ist. Sie haben ihr Land in den Krieg geführt und seitdem seine Geschickte bestimmt. Sie sehen überall Gefahren für ihr Land und kennen keinen anderen Weg der Reaktion mehr, als Gewalt. Es sind paranoide Bastarde, die unsere Allianz angreifbar machen, bevor sie überhaupt eine Chance hat sich zu konstituieren. Wir müssen schnell handeln, sonst nutzen unsere Gegner diese Schwäche aus ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Und sie werden unser Mittelsmann sein.“

    „Bitte was?“ „Wenn wir ein anderes Kelowna und letztlich ein anderes Langara wollen, müssen wir die Leute hier wachrütteln. Wir können uns nicht offen gegen unsere Verbündeten stellen, aber sie können es. Sie sind ein hoch dekorierter Kriegsveteran und haben nie aufgegeben. Ihren Kreisen sind sie ein gottverdammter Held. Wir werden ihnen unwiderlegbare Beweise für die Verbrechen verschaffen, gegen sie die letzten zehn Jahre gekämpft haben. Durch sie können wir alle erreichen, die diesen ständigen Konflikte müde sind und niemand wird wissen, wer ihnen geholfen hat.“ Dinier dachte kurz nach. Letztlich ergaben ihre Worte Sinn und nachdem er gesehen hatte, wozu diese Leute fähig waren, konnte das Schicksal ihm endlich die Chance eröffnet haben, auf die er so lange gewartet hatte. „Sie sind also im Auftrag ihres Bündnisses hier?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir sind Agenten des Senats. Und es gibt einen einzelnen Tau'ri, der uns hilft. Alle anderen wissen nicht einmal, wie die Lage auf Langara überhaupt ist.“ Er nickte schließlich. „Ich nehme an sie haben einen Plan...“

    Tags darauf:

    Vier mit der breiten Sohle eines Kampfstiefels ausgetretene Zigarettenstummel lagen unweit des marmornen Sockels der Steele im Staub des Gehwegs. Quinns Gesicht schwebte nur eine Hand breit über ihnen, während er die Tabakreste mit misstrauischem Blick musterte, als sei sein Blick auf den Auslöser einer Landmine gerichtet und nicht auf die Spuren eines nächtlichen Treffens. Mit spitzen Fingern sammelte er einen der Stummel auf, roch daran und konstatierte: „Barez, Tabak aus dem sonnigen Süden. Für meinen Geschmack viel zu stark.“ „Damit dürfte alles klar sein“, murmelte der Offizier neben ihm. Quinn nickte. Er hätte nicht erwartet, dass sich unter allen trivial erscheinenden Informationen, die Psychologen des Geheimdienstes in Profilen über Kota und seine Bande zusammengetragen hatten, gerade seine Rauchgewohnheiten – Barez, immer bis an den Filter geraucht und unter dem Stiefel ausgetreten – als nützlich erweisen würden seinen Weg zu rekonstruieren, doch es sollte ihm recht sein. Auf der Jagd nach Kota war einige Jahre zuvor unter der Anklage des Waffenschmuggels ein Haftbefehl nebst einem hohen Kopfgeld auf ihn ausgesetzt worden, um auch Polizisten anderer Länder in die Suche mit einbinden zu können. Ironie der Geschichte, dass nicht die hochgerüsteten Geheimdienste von Langaras Supermacht oder Polizisten irgendeiner Staatsmacht ihn aufspürten, sondern ein dahergelaufener Privatdetektiv, der normalerweise Kautionsprellern nachstellte und ihn am letzten Abend zufällig auf der Straße gesehen hatte. Quinn warf einen flüchtigen Blick in die Richtung des Mannes, der gerade von einem seiner Leute befragt wurde. Er entsprach in keiner Weise dem cyrener Gentlemen, sondern legte ein übertrieben martialisches Auftreten an den Tag, das vielleicht flüchtige Taschendiebe oder jugendliche Randalierer ins Bockshorn jagte, einem Mann wie Kota aber bestenfalls ein müdes Lächeln entlockt hätte. Glücklicherweise war er klug genug gewesen sich nicht selbst an einer Festnahme zu versuchen, sondern in Kelowna anzurufen.

    Was ihn betraf, waren sie verdeckte Ermittler der kelownaner Bundespolizei. Sie hatten ihre Uniformen gegen Zivilkleidung eingetauscht, so dass sie sich in der Stadt relativ frei bewegen konnten. Unter den zahlreichen Besuchern, die sich während der Feiertage hier drängten, fielen sie nicht weiter auf. „Er meinte Kota habe sich hier mit jemandem getroffen...“ Er wurde von einem sich nähernden Soldaten unterbrochen, der neben ihm zu stehen kam und ihm ein Telegramm hinhielt. „Sir, Sergeant Cyr hat seine Untersuchung abgeschlossen.“ Er nickte und nahm den Zettel entgegen. Dort stand in schmuckloser Maschinenschrift und möglichst knappen Worten, dass sie am Übertragungswagen, über den sie bei Cuvesh ihre Satellitenverbindung hergestellt hatten, ein Gerät unbekannter Herkunft gefunden hatten, dass sich bei einem Versuch die Verschalung zu öffnen und seinen Zweck zu bestimmen selbst zerstört hatte. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Er zerknüllte das Papier in Händen, richtete sich auf und ging schnurstracks zum nächsten Telefon. So beunruhigend dieser Fund auch war, empfand er doch eine gewisse Befriedigung, denn in diesem Gerät hatten sie einen Beweis, den er den arroganten Bastarden von der elektronischen Kriegsführung zu gerne unter die Nase gehalten hätte.

    Nach seinen Erfahrungen in Cuvesh hatte er sich dieses Mal ausreichend mit Karten und Münzen eingedeckt. Um sich trotz allem Rückendeckung zu verschaffen rief er zunächst Hale an. „Valis Hale?“ „Colonel Quinn, Sir. Wir haben den Beweis, dass auf unsere Computer zugriff genommen wurde. Ich habe keine Ahnung, woher Kota die nötigen technischen Mittel genommen hat, aber ich vermute, dass die gleichen Leute, die ihm zur Flucht verholfen haben, darin verwickelt sind.“ „Haben sie irgendwelche Hinweise auf deren Identität?“ „Bis jetzt nicht, Sir. Unser einziges Beweisstück hat sich bei der Untersuchung selbst vernichtet. Aber ich glaube zu wissen wohin sie unterwegs sind. Kota ist seiner Sache voll und ganz ergeben. Ich bezweifle, dass er sich davon wird abbringen lassen. Und mit den Mitteln, die seinen Helfern offenbar zur Verfügung stehen, wird er versuchen sich was er braucht direkt an der Quelle zu beschaffen.“ „Sie meinen...“ „Ja. Die Rechenzentren des Geheimdienstes oder der Streitkräfte. Er hat gelernt, dass wir praktisch jeden Beweis, den er vorbringen könnte, herunterspielen können. Aber wenn er Datensätze veröffentlicht, auf denen die elektronische Signatur der Streitkräfte liegt, die unsere Führung dutzende Male öffentlich als absolut fälschungssicher bezeichnet hat, wird das... Erklärungsnot nach sich ziehen.“ Hale schwieg für einen Moment, in dem Quinn das Geräusch eines energisch auf einem Tisch abgesetzten Glases zu hören glaubte. Schließlich sprach er weiter: „Wie gefährlich sind diese Unbekannten?“ „Sie haben unsere Computer manipuliert, ohne dass es jemandem rechtzeitig aufgefallen wäre.“ „Was brauchen sie?“ „Sie könnten mir Zugang zur Infrastruktur der Rechenzentren in der Hauptstadt verschaffen und die Verantwortlichen ermuntern mich zu unterstützen.“ „Gut. Machen sie sich auf den Weg. Sie bekommen ihre Unterstützung sobald sie da sind.“

    Einen Tag später in der Hauptstadt Kelownas:

    Mit zackigem Salut suchte Colonel Quinn sich seinen Weg an der Postenkette vor dem Sitz des Verteidigungsministeriums vorbei. Trotz der zahlreichen Soldaten, die auf dem Vorplatz Wache standen, musste er beim Pförtner noch einmal seinen Ausweis und Daumenabdruck einlesen lassen, bevor das elektronische Sicherheitssystem die Tür für ihn öffnete. Mit schnellen Schritten durchquerte er die Eingangshalle hin zum Empfangstresen. Er wandte sich an den dort sitzenden Unteroffizier und meinte: „Colonel Quinn, 72th Specials. Hier sollte eine Nachricht für mich hinterlegt sein.“ Der andere nickte und warf einen Blick auf seine Ablage. Er zog einen Zettel hervor, griff dann aber anstatt ihn an Quinn weiter zu geben zum Telefon. Einige Minuten später erschien ein Mann im Nadelstreifenanzug, dem 'Geheimdienst-Schreibtischtäter' genauso gut auf die Stirn tätowiert hätte stehen können. Hochgewachsen, mit makellosem auftreten und zarten Händen, die keine schmutzige Feldarbeit gewohnt waren, schien er der krasse Gegenentwurf eines Soldaten zu sein. „Colonel Quinn“, begann er, „ich bin Special Agent Lysader. Ich übernehme von hier an ihre Ermittlungen im Bezug auf die Sicherheitsverletzung im Computernetzwerk.“ Für einen Sekundenbruchteil blieb Quinn wie erstarrt stehen. Dann erwiderte er: „Verzeihung, aber ich habe in keiner Weise einen Befehl meiner Vorgesetzten erhalten meine Mission abzubrechen.“ „Möglich. Wenn sie wollen beschaffe ich ihnen ihren Ablassbrief.“ „Sie missverstehen mich. Ich habe nicht vor diesen...“

    „Colonel“, unterbrach der Agent ihn, „lassen sich mich ihnen die Lage verdeutlichen: Das hier ist nicht mehr nur eine einfache Jagd nach einem der nicht gehört zu haben scheint, dass der Krieg vorbei ist. Es ist eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit und Terrorismusabwehr. Und auch wenn es noch kein Wort für Terrorismus auf elektronischem Wege gibt, wurde von ganz oben beschlossen, dass die Geheimdienste der Situation eher gewachsen wären. Wir sind ab hier zuständig. Nehmen sie sich ihre Männer nehmen sich ein paar freie Tage. Wir sagen ihnen Bescheid, sobald wir ihren Terroristen haben.“ „Sir, sie machen einen Fehler. Die Specials sind seit zehn Jahren hinter diesem Mann her.“ „Was doch nur beweist wie lausig sie ihre Arbeit machen, oder?“ Quinn wusste, dass er im nächsten Moment wahrscheinlich gewalttätig geworden wäre. Also salutierte er nur, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte wieder hinaus. Draußen wartete seine Einheit am Straßenrand. Er ging zum Führungsfahrzeug und winkte seinen Lieutenant zu sich. „Wir sind aus der Sache raus“, brachte er es gleich auf den Punkt. „Was meinen sie, Sir?“ „Raus. Schluss. Ende. Die haben uns einfach ausgebootet. Die Geheimdienste reißen alles an sich. Die versuchen die Sache mit ihren Agenten und Technikern zu lösen. Das ist wie ein Messer zu einer Schießerei mitzubringen. Es wird hässlich.“ Der Lieutenant dachte kurz nach. Dann streichelte er die an einem Riemen um die Schulter hängende Waffe und meinte: „Sind wir offiziell abgezogen?“ „Noch nicht.“ „Dann sollten wir auch an der Sache dran bleiben. Ich rede mal mit den Jungs. Wenn wir was an den Funkgeräten drehen, können wir mithören was der Dienst so treibt. Im Zweifel können wir uns dann einschalten und alles doch noch zu einem guten Ende bringen.“

    Einige Kilometer außerhalb der Stadt brachte Colonel Kieran sein Fahrzeug auf einem von Schotter bedeckten Feldweg vor einem halb verfallenen Bootsschuppen zum stehen. Dinier stieg aus und sah sich suchend um. Vor ihm lag ein von Schilf und Bäumen umsäumter See unter einem grauen Himmel. Es war kalt, wenn auch nicht so kalt wie in seiner Heimat, dann doch deutlich kälter als in Cyrene, und schwacher Nebel hing über dem Wasser. Mit einem Wort: Kelowna. Auch wenn viele Geschichten über das hiesige Wetter und die hiesige Küche übertrieben waren, schien das Wesen der Kelownaner vor diesem Hintergrund irgendwie verständlich. Ein Land wie dieses hatte mit der gleichen Sicherheit mit der auf die Nacht der nächste Morgen folgte einen engstirnigen und puritanischen Menschenschlag mit sehr seltsamem, zuweilen morbidem Humor hervorbringen müssen. Nur jemand, der durch den Anblick der feuchten Schlieren von Nieselregen auf seinen Fenstern an fast hundertfünfzig Tage im Jahr, viel zu oft wolkenverhangenem Himmel und einem Land ohne Horizont depressiv geworden war und über Moder und Verwesung lachen konnte, konnte ein mit faden Soßen zwischen zwei Stücken Weißbrot mit Geschmack und Konsistenz von Pappe eingeklemmtes, kaum gewürztes Hacksteak für essbar halten. Als er beim besten Willen nicht erkennen konnte, was sie hier suchten, wandte er sich zu Agentin Lions um und fragte danach. Sie grinste breit und erwiderte: „Sehen und staunen sie.“

    Sie zog eine Art Fernbedienung aus der Tasche und gab eine Kommandosequenz ein. Plötzlich erschien im Schuppen buchstäblich aus dem Nichts ein vielleicht 15 Meter langes und 7 Meter hohes... Was auch immer es war. Diniers vermutete, dass es ein Raumschiff sein musste, auch wenn es weit entfernt von den Bildern entfernt war, die Zukunftsromane und Comics ihm in seiner Jugend in den Kopf gepflanzt hatten. Beim ersten Schrecken zuckte seine Hand zu seiner Pistole und auch mehrere andere seiner Leute blieben wie angewurzelt stehen. Eine Idee von Spott schlich sich in Fabiolas Grinsen ein, dann machte sie eine einladende Handbewegung auf das Schiff zu und meinte: „Wenn ich bitten dürfte. Wir sprechen an Bord weiter.“ Das Innere war anders als die primitiven Raumkapseln, die langarische Nationen vor dem Krieg in einem Weltraumrennen in den Orbit und auf den Mond geschossen hatten weder beengt, noch rundum mit Instrumenten und Maschinen vollgestopft. Vielmehr schien das Schiff künstliche Schwerkraft zu besitzen und für einen gewissen Komfort gebaut zu sein. Die Wände schimmerten golden und waren mit Piktogrammen bedeckt, wie man sie auf ganz Langara in alten Ruinen finden konnte. In einem größeren Raum im Heck waren zahlreiche Kisten gestapelt und Feldbetten aufgestellt. Fabiola ging direkt dort hin und begann einige der Kisten zu öffnen.

    Vorsichtig und auch ein bisschen ehrfurchtsvoll folgten die Andarier ihr. Sie hatte unterdessen aus einer Kiste ein ungefähr handtellergroßes Objekt herausgeholt und ein Gerät in der Mitte des Raumes angeschaltet. Mit einer Geste forderte sie alle auf auf den Liegen platz zu nehmen. Als sie saßen, betätigte sie erneut ihre Fernbedienung und über dem Gerät in der Mitte leutete mitten in der Luft eine dreidimensionale Landkarte auf, auf der ein Gebäude einige Kilometer von der Hauptstadt entfernt rot markiert war. „Ladies und Gentlemen“, erklärte sie, „das ist unser Ziel. Fast das gesamte kelownaner Computernetzwerk wurde während des Krieges von unseren Technikern aufgebaut. Wir kennen also die Grundstruktur und konnten dieses Gebäude als Standort von Backup-Servern identifizieren. Für alle wichtigen Informationen, alle schmutzigen Geheimnisse, wurde dort eine Sicherheitskopie angelegt. Das Gebäude wird nur leicht bewacht. Offenbar vertraut man auf Geheimhaltung und die Verschlüsselung der Daten. Aber für uns wird das ganze zum Honigtopf. Unser Hacker sitzt auf Tau'ri. Sobald wir ihm Zugriff auf die Rechner verschaffen, wird er alle Daten kopieren und entschlüsseln.“ Sie hielt das Gerät hoch. „Unsere Aufgabe besteht im Grunde darin einzudringen, das hier an die Rechner anzuschließen und ihn seine Arbeit machen zu lassen.“ Vin runzelte die Stirn. „Warum müssen wir rein? Bis jetzt haben sie auch überall so Zugriff gehabt.“ Die Agentin nickte. „Im Prinzip ja. Wir haben an einige der militärischen Kommunikationssatelliten Splicingtools angebracht, die uns Zugriff auf das Netzwerk geben. Aber die Transfergeschwindigkeit liegt bei gerade mal bei 10kb/sek. Damit dauert die Datenübertragung mehrere Stunden, Wochen wenn wir versuchen die kompletten Datenbanken zu kopieren. Und solange wir nicht genau wissen was wir brauchen wird kein Weg darum herum führen. Dieses nette Spielzeug hier baut eine direkte quantenverschränkte Verbindung zur Erde auf, über die wir die Daten mit 1 Terabit pro Sekunde kopieren können.“

    „Quantenverschränkt?“, fragte Dinier, dem das technische Gelaber sichtlich zuwider war. „Eine direkte Verbindung auf Quantenebene zwischen diesem Gerät und einem Gegenstück auf Tau'ri. Unmöglich aufzuspüren oder zurückzuverfolgen, geschweige denn abzuhören. Die Technologie kommt ursprünglich von einem Volk, dass sich Asgard nennt. Der Senat konnte eines der Geräte auf einem von den Asgard protegierten Planeten an sich bringen und die Technologie nachbauen. Darum haben uns sogar die Systemlords beneidet.“ „Hm. Ich verstehe kein Wort. Ist aber sicher ein ganz tolles Gerät.“ Wieder grinste Fabiola. „Quantenphysik ist nicht ihre Welt, was?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich hab Instrumentenbauer gelernt, nicht Superhirn am technischen Institut.“ Sie schmunzelte und murmelte einen Kommentar in ihrer eigenen Sprache, der einigen ihrer Leute ein Lachen entlockte, während sie einen Ausschnitt des Hologramms vergrößerte, der die direkte Umgebung des Gebäudes zeigte. „Das Gebäude liegt nicht in einer Sperrzone. Wir können also ohne weiteres bis auf ungefähr 200 Meter ranfahren. Wir verschaffen uns Zugang und bringen das Gerät an und holen uns die Daten. Soweit ganz einfach. Wieder zu entkommen wird schwerer. Der Datentransfer wird mit ziemlicher Sicherheit Alarm auslösen. Ergo brauchen wir eine Fluchtstrategie. Drei Kilometer entfernt gibt es einen Tunnel, der...“

    Immer versuchte Dinier mehr unbewusst seine linke Schulter zu massieren und so den dumpfen Schmerz zu vertreiben, der ihn plagte, seit sie sich zum Rechenzentrum aufgemacht hatten. Es wollte aber nicht recht gelingen. Sie saßen in einem fensterlosen Kleinlaster. Leise Gespräche zwischen einigen seiner Leute und zwei Agenten ließen ein leichtes Hintergrundgemurmel vernehmen, doch insgesamt war die Fahrt bisher schweigsam verlaufen. Die Agenten hatten ihn und jeden seiner Leute mit Rüstungen bedacht, die kaum dicker als ein Neoprenanzug waren und sich so gut unter ihrer normalen Kleidung verbergen ließen, ihm trotz aller Beteuerungen betreffend ihre Schutzwirkung aber suspekt waren. Sie bestanden aus dunklen Kunststofffasern, die dicht ineinander verwoben Stränge bildeten, die in ihrer Anordnung und Form entfernt die großen Muskelgruppen des menschlichen Körpers nachahmten und waren durchaus etwas flexibler als die dicken, recht unförmigen Schutzwesten, die vor einigen Jahren ihren Weg in die Arsenale der kelownaner Streitkräfte gefunden hatten, behinderten seine Bewegungen aber immer noch. Zu allem Überfluss saß seine Rüstung schlecht. Der Kragen drückte auf sein linkes Schlüsselbein und schnürte einen Nerv ab, so dass sich langsam Taubheit in seiner Schulter ausbreitete. Außerdem wurde er den Eindruck nicht los, dass das Material sich bewegte.

    Nur ein zuckender Mundwinkel verriet sein Unbehagen, als er wieder versuchte die Finger unter den Kragen zu schieben und den Panzer zurechtzurücken. Er zog etwas energischer daran, worauf das Gewebe sofort zu reagierte, indem es sich zusammenzog. „Lassen sie das“, unterbrach schließlich eine raue Stimme sein stummes Ringen mit dem Panzer. Er sah auf und sein Blick fiel auf einen der Agenten – oder Kommandosoldaten, ein Begriff der bei diesem Mann deutlich angebrachter erschien. Genau wie sein ihm gegenüber sitzender Kamerad trug er eine schwerere Version der Rüstung, die an einigen Stellen mit Panzerplatten des selben Materials verstärkt war und die er nicht wie alle anderen und eine Art Brille, wahrscheinlich ein Nachtsichtgerät, auf der Stirn. Sein Haar war kurz geschnitten, sein Gesicht von einer großen Narbe verunstaltet, die nur knapp an seinem rechten Auge vorbeilief. Anders als seine Kameraden sprach er zumindest gebrochen Kelownanisch, was vermuten ließ, dass dies nicht seine erste Mission auf dieser Welt war. Er hatte ein schweres Gewehr zwischen die Knie geklemmt, trug drei Pistolen und mindestens vier Messer. Doch es war mehr als martialisches Auftreten. Ein einziger Blick in seine stahlgrauen Augen hatte Dinier gereicht, um in ihm einen Soldaten des Typus zu erkennen, der Schmerzmittel ablehnte und sich eher die eigene Zunge abbiss, wenn die Erfüllung seines Auftrages es erforderte, einen kaltblütigen Schlächter, für den der Zweck alle Mittel heiligte, die ihn seinem Ziel näher brachten. „Die Rüstung ist nicht an ihre Bewegungen gewöhnt. Je mehr sie strampeln, desto schlimmer wird es.“

    Er kniff die Augen ein wenig zusammen. „Nicht an mich gewöhnt?“ Es war Fabiola, die antwortete: „Die Nanofasern der Rüstung können sich zusammenziehen, und das Gewebe versteifen. Auf diese Weise können sie mehr als 17000 Joule kinetischer Energie abfangen oder die Bewegungen des Trägers stützen. Das Material ist nicht direkt lernfähig, aber man kann es auf typische Haltungen und Bewegungen des Trägers gewöhnen. Eine gut eingetragene Rüstung spürt man kaum noch und man hat volle Bewegungsfreiheit. Dafür muss man normalerweise mehrere Wochen intensiv darin trainieren, aber dafür bleibt uns nicht die Zeit. Und ich werde sie nicht ohne Schutz dort hinein laufen lassen. Sie sind zu wichtig. Wir brauchen den Helden der Vergessenen.“ „Es ist doch immer wieder schön derart geschätzt zu werden, was Colonel?“, warf Vin ein, der die Unterhaltung unfreiwillig mitgehört hatte. Dinier schmunzelte und erwiderte: „Ich weiß nicht, gebraucht zu werden erscheint mir doch die besten Lebensversicherung zu sein.“ „Gebraucht von Leuten, die unsere Heimat den Kelos ans Messer geliefert haben. Wirklich großartig.“ Er sah bei diesen Worten zu Lions und ihren Leuten, die aber nur genervt wirkend abwinkte und den Kommentar keiner Antwort würdigte.

    Man spürte, wie der Wagen verlangsamte und von der Straße ab auf ein holperiges Feld fuhr, kurz bevor er anhielt. Fabiola richtete sich an ihrem Platz auf und sagte den Männern an der Tür: „Ahriman, Sarosh devinir.“ Beide setzten ihre Nachtsichtgeräte auf und luden ihre Waffen durch. Dann tippten sie etwas in Geräte ein, die sie an ihren Handgelenken trugen, und verschwanden in einem nur wenige Sekundenbruchteile dauernden Flimmern vor aller Augen. Die Türen des Wagens wurden von unsichtbarer Hand aufgestoßen und ein leichtes federn verriet, dass sie abgesprungen waren. Sichtlich überrascht sahen einige der Andarier den beiden noch hinterher, dann erhob auch Dinier sich und befahl: „Alle Mann bereit machen!“ Das Klicken eines Dutzends Gewehre, die durchgeladen wurden, erfüllte den Raum, während er fort fuhr: „Wir geben den beiden 2 Minuten Vorsprung, um sich im Wachen im Außenbereich zu kümmern, dann gehen wir rein. Ihr kennt das Prozedere.“ Er sah auf seine Uhr und ließ noch einen Moment verstreichen, dann rief er: „Abmarsch!“

    Tiefste Nacht war hereingebrochen. Nur das spärliche Licht der Straßenlaternen und der Außenbeleuchtung des Rechenzentrums durchbrachen die Dunkelheit und ein Halo aus Licht ließ hinter einigen Hügeln größte Stadt Langaras erahnen. Auf den ersten Blick war das Ziel nicht mehr als eine Pumpstation der örtlichen Wasserversorgung, von denen es bei einer Stadt dieser Größe mehr als ein Dutzend geben musste, umgeben von penibel geschnittenen Rasenflächen. Dinier warf Fabiola einen fragenden Blick zu während sie die Straße überquerten und durch ein Loch im Zaun, das Ahriman und Sarosh geschnitten hatten, auf das Gelände kletterten, den diese aber nicht zu bemerken schien. Geduckt und mit raschen Schritten überwanden sie die Distanz zum Gebäude und arbeiteten sich an den Wänden entlang zum Eingang. Der Schuss einer Schrotflinte machte kurzen Prozess mit dem Türschloss. In der Sekunde in der sie den Eingangsflur stürmten, wurde Dinier klar, dass dieser Ort tatsächlich mehr war, als seine Fassade den Betrachter glauben machen wollte. Es war völlig ruhig. Nur das Geräusch ihrer Stiefel auf dem Linoleum und ihr Atem war zu hören. Keine Pumpen, keine Turbinen, kein Rauschen schier endloser Wasserströme in den Rohren. Kein weiteres Wort und keine weitere Geste war nötig. Seine Leute schwärmten sofort in Trupps, um nach Wachleuten zu suchen, Überwachungssysteme lahmzulegen, kurz das Gebäude zu sichern. Dinier machte sich unterdessen mit Fabiola und zwei anderen Agenten auf in den Keller.

    Am Fuß der Kellertreppe fanden sie sich vor einer massiven Stahltür wieder, wie man sie für Gewöhnlich in Luftschutzbunkern oder den Tresorräumen von Banken fand. Die Agenten trugen eine ovale Linie einer rostroten Paste darauf auf und steckten zwei kleine Nadeln hinein. Einer sagte etwas in einer Sprache, die Dinier nicht verstand und alle wandten ihre Augen ab. In letzter Sekunde tat er das selbe und der Agent betätigte einen kleinen Auslöser. Ein grelles Licht blitzte von der Tür her auf und ein lautes Zischen war zu hören, als würde das Metall förmlich zum Kochen gebracht. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hörte Dinier ein lautes Scheppern. Er drehte sich wieder um und sah, dass ein Oval, groß genug damit ein Mann hindurch klettern konnte aus der fast vier Zentimeter dicke Panzertür herausgebrannt worden war. Die Ränder glühten noch rot und flüssiges Eisen lief in dünnen Fäden die Tür hinunter, um kurz vor dem Boden wieder auszukühlen. Er nahm sein Gewehr wieder an die Schulter und näherte sich der Öffnung. Kühle Luft strömte ihm entgegen und das leise Surren einer Klimaanlage war zu hören. Vorsicht darauf bedacht das heiße Metall nicht zu berühren kletterte er hindurch. Vor ihm standen in sechs langen Reihen dutzende, vielleicht sogar über hundert Serverschränke. Zahllose Lichter, die überall blinkten und von Aktivität kündeten verrieten den ständigen Datenaustausch mit Operatoren überall um den Globus verteilt. Der Schlüssel zu allem wonach sie gestrebt hatten lag vor ihm. Zum Greifen nahe.

    Einer der Agenten ging sofort zu einem Terminal, über das die Daten der Server abgerufen werden konnten, und schloss das Gerät an, das ihrem Helfer von Tau'ri Zugriff verschaffen sollte. Er verkabelte es direkt mit den Schnittstellen der Festplatten, die er dazu kurzerhand vom Terminal trennte. Einige Augenblicke lang schien nichts zu geschehen, während er Einstellungen am Gerät vornahm. Dann richtete er einige Worte an Fabiola, die diese Dinier übersetzte: „Der Datentransfer läuft. Wir brauchen vier Minuten, dann...“ Sie stockte im Satz, als es plötzlich stockfinster wurde. Alle Lichter erloschen und die Dioden an den Rechnern verglommen langsam. In einem Nachbarraum sprang ein Notstromaggregat, offenbar ein Gasgenerator – es gab nichts effizienteres Kraftstoff in Lärm zu verwandeln – unter lautem Heulen an. Die Lampen flackerten wieder auf und die Computer erwachten erneut zu Aktivität. Fabiola jedoch sah sich erschrocken im Raum um, sah dabei immer wieder zur Tür. Dann, nach einigen Sekunden, sagte sie sowohl in Anda, als auch jener an einen endlosen Singsang erinnernden Sprache in der sie sich mit ihren Leuten unterhielt: „Wir müssen hier weg.“ Die beiden Agenten entfernten sofort das Gerät und schickten sich an zu gehen. Dinier fragte aber nur mit scharfer Stimme: „Was? Warum?“ „Wir sind aufgeflogen. Solche primitiven Computer brauchen mehrere Minuten um hochzufahren. Und bis dahin könnten wir von mehreren Kompanien eingekreist sein.“

    Wenige Augenblicke zuvor vor dem Gebäude:

    Ein Mann saß in einem Strauch auf einer kleinen Anhöhe unweit der Pumpstation 14. Der starke Wind peitschte ihm den beständigen Nieselregen in langen grauen Schlieren fast waagerecht ins Gesicht und die Kälte der Nacht hatte sich mit eisigen Klauen in seine Glieder verbissen und riss ihm jeden Funken Wärme aus dem Leib, während er seinen Blick immer wieder über das Gebäude und die Zufahrtsstraße wandern ließ. Er zog sich seine nach mehreren Stunden mittlerweile völlig durchnässte Jacke enger um den Leib und musste ein leichtes Zittern unterdrücken. Auch wenn ein Nachtsichtgerät seine Augen verdeckte, verriet sein Mund doch mit welch stoischer Ruhe er die Witterung ertrug. Ab und zu nahm er immer wieder einen Schluck aus dem Flachmann, den er in seinem rechten Strumpf versteckt hatte, um sich aufzuwärmen und verdrängte jeden Gedanken, der nicht mit seinem Auftrag zusammenhing. Colonel Quinn hatte elf seiner Leute losgeschickt, um die Rechenzentren im Umland der Hauptstadt zu bewachen, von denen sie wussten. Sie handelten aus eigener Initiative heraus, statt auf Anweisung ihrer Vorgesetzten, eine Eigenschaft die Spötter den kelownaner Streitkräften eigentlich absprachen. Aber es war nötig und richtig.

    Er schüttelte sich. Nach Monaten des Einsatzes im Süden kamen ihm die nächtlichen Temperaturen nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt wie eine Eishölle vor. Nur hatte man ihm beigebracht dass über solche Kleinigkeiten zu nörgeln die Offiziere wütend machte. Als er seinen Blick ein weiteres Mal auf die Straße richtete, bemerkte er auf einmal ein Fahrzeug, dass von der Landstraße her kam. Es war ein Kleinlaster ohne Markierungen oder Besonderheiten, die ihm sofort ins Auge gestochen wären. Der Wagen fuhr auf einen Acker neben der Straße und hielt hinter einigen Bäumen an. Eine Zeit lang tat sich nichts, dann erhaschte eine Bewegung am Zaun seine Aufmerksamkeit. Die Maschen des Drahtgeflechts wurden durchtrennt, ohne dass er erkennen konnte von wem. Oder von was. Er sah wieder zur Baumreihe, die den Wagen verbarg in der Erwartung zum Beispiel einen Schützen zu sehen, der den Zaun mit einem exotischen Gewehr beschoss. Statt dessen sah er nach einigen Augenblicken mehrere Personen, ungefähr in Truppstärke, die über die Straße und auf das Gelände des Pumpwerks liefen.

    Sofort griff er zu seinem Funkgerät. “Sentinel 9 für Basis: Ziele an der Pumpstation, Planquadrat 493, gesichtet. 15 Personen, soweit erkennbar alle bewaffnet. Sind auf dem Gelände eingedrungen und brechen gerade die Vordertüren auf.“ „Sentinel 9, hier Colonel Quinn. Halten sie ihre Position und beobachten sie weiter. Ich informiere die Staatssicherheit.“ Eine, zwei quälend lange Minuten verstrichen, dann meldete sich ein Mann über Funk. „Sergeant, hier spricht Special Agent Lysander, Spionageabwehr. Wir haben den Kontakt zu unseren Leuten bei ihrer Position verloren. Unterbrechen sie die Stromversorgung. Das wird die Rechner abschalten und den Einsatzkräften Zeit verschaffen.“ Er verkniff sich ein Murren oder eine spöttische Antwort, erwiderte „Sir, ja Sir.“, griff sich sein Gewehr und rannte los. Bei jedem Schritt überlegte er, wie er den Strom von draußen unterbrechen konnte – sich zu einem Kontrollraum durchzukämpfen blieb keine Zeit, zumal es ihm allein auch nicht gelungen wäre – und sah sich um. Sein Blick fiel auf Hochspannungskabel, die von einer nahen Hochspannungsleitung zu einem Trafohäuschen führten.

    Er zog im Lauf eine 36mm-Granate und lud sie in den Unterlaufgranatenwerfer seines Gewehrs. Auf hundert Meter Entfernung legte er an und zielte. Er verlangsamte seine Schritte, atmete tief durch und drückte ab. Das Geschoss durchschlug die Wände des kleinen Häuschens und setzte etwas darin in Brand. Die Lichter der Pumpstation flackerten und fielen wenige Augenblicke später aus. Nur um sicher zu gehen lud er nach und jagte eine zweite Granate hinterher. Er wollte sich gerade wieder zurückziehen, um nicht ins Visier der nun zweifelsohne alarmierten Gegner zu geraten, als er plötzlich einen rasenden Schmerz im Hals spürte. Er wirbelte herum und spürte, wie ein Messer wieder aus seinem Fleisch gezogen wurde. Seine eigene Bewegung riss die Wunde dabei noch weiter auf. Blut lief ihm heiß über das Schulterbein und sickerte in seine Kleidung. Mit ruckartigen, hastigen Bewegungen sah er sich um und suchte nach einem Gegner. Er glaubte eine Bewegung vor sich zu erkennen, riss sein Gewehr hoch und leerte das gesamte Magazin in einem heftigen Feuerstoß. Dann versagte sein Körper ihm ob des Blutverlustes den Dienst. Ihm wurde schwarz vor Augen und er brach zusammen.

    Mehrere Transporthubschrauber jagten in einer über fast einen Kilometer gefächerten Formation über das lichtdurchflutete Häusermeer der Hauptstadt hinweg. Auf jedem der vier Helikopter prangte das Emblem der Specials, sie trugen Raketenwerfer, Maschinengewehre und Miniguns. Sie waren die fliegende Kavallerie moderner Schlachtfelder. Das Dröhnen ihrer Rotoren erfüllte Luft, wie in vergangenen Jahrhunderten die Hufe tausender Pferde die Erde erschüttert hatten und jeder trug ein Dutzend nicht minder schwer bewaffneter Soldaten in die Schlacht. Sie waren eine Macht, die einer Armee die Stirn hätte bieten können. Und es war gerade dieser Umstand, der dem ergrauten Veteranen, der die Führungsmaschine steuerte, solches Kopfzerbrechen bereitete. Diese Einheit war geschaffen um Krieg zu führen. Das man sie Stunden über der Hauptstadt hatte kreisen lassen, um sie dann zu einem Ort nur wenige Kilometer außerhalb zu befehligen, ließ nur den Schluss zu, dass eine Situation eingetreten war, mit die die zivilen Behörden entweder überfordert hätte, oder die vor ihnen verheimlicht werden sollte. Was immer auch es war, es gefiel ihm nicht. Er liebte diese Stadt mit einer Innigkeit wie er nie eine Menschen hatte lieben können. Er war hier geboren, in dieser Wüste aus Stein und Beton, die nur so selten echte Schönheit kannte und hart zu den Menschen sein konnte. Es spielte keine Rolle wie andere lamentierten, er war hier aufgewachsen, zur Schule gegangen, hatte hier seine Frau kennen gelernt. Er empfand ein Gefühl von Pflicht gegenüber ihr und ihren Menschen, das sein Wesen in allen Fasern durchdrungen hatte. Stumm betete er, dass nur jemand im Verteidigungsministerium überreagiert hatte, als man sie losgeschickt hatte.

    Er zog seine Maschine etwas höher, um über die Hügel am Südrand der Stadt hinweg sehen zu können. Regen und Wind verlangten den Piloten ihr ganzes Können ab und schränkten die Sichtweite stark ein, doch das Zielgebäude stach noch deutlich illuminiert aus der Nacht hervor. Doch nur wenige Augenblicke später verloschen die Lichter und ein kleines Feuer flammte kaum hundert Meter entfernt davon auf. Er sah sich noch einmal nach anderen Tieffliegern um, die ihnen ins Gehege hätten geraten können, dann gab er seinen Leuten durch: „Chevaliers, hier Gruppenführer. Geschwindigkeit erhöhen. Holt alles aus den Kisten raus.“ Alle Piloten bestätigten und legten die Regler ihrer Turbinen bis zum Anschlag vor. Heftige Vibrationen durchzuckten seinen Hubschrauber, als die kräftigen Triebwerke ihre ganze gewaltige Kraft entfesselten. Als sie näher kamen und die Suchscheinwerfer des Geschwaders aufflammten, konnte er mehrere Männer sehen, die in verschiedene Richtungen flohen. Bevor er aber seine Maschine zum schweben bringen und den Soldaten eine Chance zum Aussteigen geben konnte, wurde die Maschine unruhig. Der Hubschrauber reagierte nicht mehr auf sein Gegensteuern gegen die Winddrift und begann zu schlingern. Er zog mehrmals am Steuerhebel, um die Maschine in den Wind auszurichten, so dass die Turbinen gegen die Windboen anarbeiten konnten. Nichts funktionierte.

    Er sah zu seinem Copiloten, der verstand und versuchte die Kontrolle zu übernehmen. Doch auch sein Steuer war tot. Der panisch klingende Hilferuf eines anderen Piloten verriet endgültig, dass es etwas anderes sein musste als ein kleiner Wackelkontakt in der Signalübertragung des Fly-by-Wire-Systems: „Hier Chevalier 3, ich hab die Kontrolle über den Vogel verloren. Drifte ab. Der Steuercomputer ist ausgefallen.“ Jeder andere der Hubschrauber hatte Probleme. Jener, der an zweiter Stelle der Formation gewesen war und noch nicht ganz abgebremst hatte, zog an ihnen vorbei über die Felder hinweg, vom Wind immer wieder hin und her geworfen. Die Anzeigen des Steuercomputers, die sonst konstant leuchteten, blinkten unregelmäßig. Er murmelte einen Fluch auf High-Tech-Schrott, langte nach einem Schalter, dem er seit Jahren keine Beachtung mehr geschenkt hatte und gab per Funk durch: „Gruppe Chevalier, auf hydraulisches Reservesystem umschalten.“ Den meisten jüngeren Piloten rang die Erwähnung hydraulischer Steuersysteme heutzutage bestenfalls noch ein spöttisches Lächeln ab. In ihren Augen war es nicht mehr als ein Anarchonismus, der in Hubschraubern der jüngsten Generation nicht einmal mehr Verwendung fand. Der Gruppenführer selbst hatte noch damit fliegen gelernt und selbst nach der Einführung der neuen Systeme Jahre gebraucht sich an die ganze Elektronik in der Maschine zu gewöhnen. Er grinste, als die Hydraulik griff und er den erhöhten Widerstand am Steuerhebel spürte, während der Computer angestiftet von einem entfernten Beschützer ihrer Antagonisten in den verkabelten Eingeweiden des Hubschraubers in einem fort Pi berechnete. Es kostete ihn nur ein paar Sekunden die Kontrolle wieder zu erlanten und auch Chevalier 2 fing sich über dem Feld wieder und kam sofort zurück. Vier hatte aber deutlich mehr Probleme. Der Wind trieb ihn auf seinen Vordermann zu, der mit der Hydraulik kämpfte – junger Bursche der er war hatte er wahrscheinlich nach seiner Ausbildung nie wieder damit fliegen müssen – und es nicht schaffte auszuweichen. Die Hubschrauber kollidierten und stürzten ab. Der Aufschlag ließ auf einem die Munition explodieren und beide wurden zerrissen. Der Gruppenführer starrte einen Moment lang fassungslos auf die Wracks. Er hatte in gottverdammten Friedenszeiten noch nie jemanden verloren. Er schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Dann sagte er: „Gruppenführer für Chevalier 2: Einheit absetzen und Suchmuster beginnen. Diese Bastarde entkommen uns nicht.“

    Einige Stunden später:

    Als Dinier wieder am Bootsschuppen ankam, kündigte ein roter Streifen am Himmel bereits den nächsten Tag an. Er hatte auf allen Vieren im Schütze der Uferböschung durch einen schnell fließenden Bach kriechen müssen, um den Hubschraubern zu entgehen, die mehr als einmal direkt über ihn hinweg geflogen waren. Als er schließlich den rettenden Zugang zu einem jener Versorgungstunnel erreicht hatte, die sich wie ein gewaltiges Labyrinth unter der Stadt erstreckten, war er völlig durchnässt und ausgekühlt gewesen – welchen Schutz die Rüstung auch bieten mochte, ohne Helm und Handschuhe war sie an Kragen und Handgelenken definitiv nicht wasserfest. Während des gesamten Rückwegs hatte er über ihr Scheitern und Wege die Situation doch noch zu ihrem Vorteil zu wenden nachgedacht. Vor dem Schuppen entdeckte er Ahriman. Der Soldat saß auf einer niedrigen Kiste und bearbeitete ein Stück Holz mit einem Messer. Als er Dinier erblickte, tippte er sich mit der Klinge an die Stirn und meinte: „Sie sind der letzte. Aber Achtung, die Stimmung ist gerade ziemlich mies.“

    Als seien Ahrimans Worte prophetisch gewesen, bekam er beim Betreten des Schiffes beinahe ein Funkgerät an den Kopf, das aus Richtung des Frachtraumes angeflogen kam, seine Stirn nur um Haaresbreite verfehlte und scheppernd gegen die Wand krachte. Als er sich sich umsah wer ihm dergestalt nach dem Kopf trachtete, dass er ihn mit Funkgeräten bewarf, bemerkte er, dass beide Gruppen sich im Frachtraum gegenüberstanden. Vin hatte sich mit Noor an seiner Seite in voller Größe vor Fabiola aufgebaut und schrie die zwei Köpfe kleinere Agentin an, an der die Flut wenig diplomatisch formulierter Anschuldigungen aber abtropfte ohne dass sie auch nur mit der Wimper zuckte. Die Andarier wie die Männer des Senats hatten sich hinter ihre Anführer geschart und Kieran hatte sich schützend halb vor Fabiola gestellt. Er fixierte Vin, als müsse er um Beherrschung ringen, um ihn nicht zu schlagen. Er trat in den Durchgang zum Frachtraum und fragte mit lauter Stimme: „Was ist hier los?“ „Ah, gut das du da bist“, meinte Vin. Bevor er aber weiter reden konnte, fuhr Dinier ihm ins Wort: „Ich habe gefragt was hier los ist, Lieutenant.“ Vin sog scharf die Luft ein und straffte sich. Dann antwortete er: „Wir hätten es drauf ankommen lassen sollen, Colonel. Wir hätten kämpfen sollen. Noch nie waren wir so verdammt nah dran. Aber sie“, er deutete mit einer abschätzigen Geste auf Fabiola, „wolle ja lieber weg rennen.“ „Von einem wie ihnen lasse ich mir keine Feigheit vorwerfen“, erwiderte Fabiola. „Einem wie m...“ „Halt die Klappe“, sagte Dinier tonlos. Vin sah ihn wütend an, nickte dann aber und machte einen Schritt zurück. Auch Kieran hatte sich der jungen Agentin zugewandt und riet ihr: „Seien sie vorsichtig was sie sagen, Agentin Lions. Egal wie viele Jahre man sie auf ihre Rolle vorbereitet hat, in Puncto Führungskompetenz müssen sie noch viel lernen.“
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

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  13. #49
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
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    Für einen Sekundenbruchteil glaubte Dinier in ihren Augen ein beleidigtes Aufblitzen zu sehen und musste schmunzeln. Er nickte Kieran zu, machte einen Schritt weiter in den Raum hinein und pfefferte seine nasse Jacke auf einen Kistenstapel. Dann sagte er: „Der Plan ist nicht aufgegangen, aber das ist bestenfalls ein kurzzeitiger Rückschlag. Aber ab jetzt gebe ich die Marschroute vor.“ Fabiola schien protestieren zu wollen, doch Kieran brachte sie mit einem Blick zum schweigen. „Das hier ist unser Heimspiel“, erklärte er seiner de jure Vorgesetzten. „Erfahrung kann uns hier weiter bringen, als Operationsprotokolle des Senats für Kommandoeinheiten.“ „Trefflich gesagt“, stimmte Dinier ihm zu. „Um zuerst etwas grundlegendes zu klären: Ich nehme an, dass ihre Chefs nicht gerade am Hungertuch nagen.“ Nun grinste die junge Frau. „Der Senat? Wenn sie mir irgendwo in dieser Galaxie eine reichere Organisation zeigen können, laufe ich einmal in Unterwäsche quer durch diese Stadt.“ „Haben sie auf Langara Mittel verfügbar?“ Sie nickte und verschwand kurz in Richtung des Cockpits. Einige Augenblicke später kam sie mit einer Art PDA zurück. „Wir sind schließlich schon seit einiger Zeit hier“, murmelte sie, während sie die Zahlen abrief. „Im Moment können wir über 600 Millionen Talente auf Nummernkonten auf den Isles of Fog verfügen. Ich sehe aber nicht wie uns das weiterbringt. Wären die Daten die wir brauchen für Geld zu bekommen, wir hätten sie schon längst gekauft.“ Er schüttelte den Kopf und ließ sich Zettel und Stift reichen. „Ich habe nicht vor jemanden zu bestechen. Zumindest nicht im technischen Sinne.“ Er notierte einen Namen und eine Kontonummer und reichte ihr den Zettel. „Überweisen sie eine großzügige Summe auf dieses Konto. 3 bis 4 Millionen Talente dürften ausreichen. In fünf Tagen jährt sich der Beginn des Nordlandfeldzuges. Das kann man gut als Grund vorschieben. Dazu ein paar salbungsvolle Worte von verlorenen Söhnen und so weiter, ich bin sicher ihnen fällt was ein. Damit fressen die Jungs uns aus der Hand.“ Sie warf einen Blick auf die Notiz. „Das kann nicht ihr Ernst sein.“ „Jedes einzelne Wort.“ „Und was käme danach?“ „Sie wollten doch ein anderes Kelowna sehen. Ich zeige es ihnen.“


    Tags darauf:

    „Ich glaube du willst mich verarschen, Myron“, sagte Dinier und warf einen finsteren Blick in Richtung seines Gegenüber, erntete aber nur ein breites Grinsen, das das Gesicht des Angesprochenen zu einer abstoßenden Fratze verzerrte. Er befand sich in einer jener wohlhabenden, gesitteten Vorstädte der Hauptstadt, in denen angesehene, hart arbeitende Kelownaner ihr Zuhause hatten. Soweit zumindest die Theorie. Nach seinem Dafürhalten beherbergten diese Siedlungen, an deren wie mit dem Lineal gezogenen Straßen sich ewig gleich aussehende Einfamilienhäuser mit penibel gepflegten Gärten und geweiselten Zäunen aneinanderreihten, ungleich tiefere Abgründe menschlichen Denkens, als jede Großstadt. Hinter diesem Zäunen und dem zu Fratzen verkommenen Lächeln der Bewohner verbarg sich eine jeden Freigeist und zuweilen auch jede Menschlichkeit verachtende Kultur der Strenge und Konformität hergeleitet aus überkommener Moral und religiösem Ernst.

    Er saß in einem schäbigen, stinkenden Kleinwagen, dessen schlichtes Auftauchen in der Gegend gereicht hatte, um Mütter ihre früh morgens schon auf der Straße spielenden Kinder schnell ins Haus schicken und einen Mann einige Straßen seinen Mesonychia von der Kette nehmen zu lassen. Die Polster waren abgewetzt, es stank nach Alkohol, in Fußmatten und Sitze eingeriebenen Essensresten, nur ungenügend entfernten Überresten von Erbrochenem und er war sich nicht sicher, ob der schwache Uringeruch tatsächlich daher rührte, dass ein Tier an einem der Reifen sein Revier hatte markieren wollen. Fabiola, die zusammen mit Kieran, der sich um gut einen Kopf hatte zusammenkrümmen müssen, um nicht ständig gegen die Decke zu stoßen, auf der Rückbank saß, hatte sich zuerst geweigert einzusteigen und sich schließlich die gesamte Fahrt über ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase gehalten. Ebenso wie der Wagen trug allerdings auch jener illustere Mann am Steuer zu einem Gesamteindruck bei, der unbescholtene Bürger ihr Heil im Rückzug in ihr Haus oder die nächste Menschenmenge suchen ließ. Myron war ein unbeschreiblich hässlicher Bastard. Schulterlanges, schmutziges und teilweise verfilztes Haar und eingefallene Wangen rahmten sein schmales, knochiges Gesicht ein. Seine wohl nie besonders hübsche Nase war mehrfach gebrochen und schief wieder verheilt und jedes Grinsen, offenbarte dem Betrachter eine unvollständige Reihe schiefer Zähne. Auch sein Auftreten war ungewöhnlich. Er legte bei seiner Kleidung keinerlei Anspruchsdenken an den Tag, sondern kleidete sich unauffällig und zweckmäßig. Dazu im Kontrast standen aber die schweren Goldringe an seinen tätowierten Fingern, die jedem, der es wagte ihn für einen dahergelaufenen Proleten zu halten, eines besseren belehrten.

    Er zählte zu jenen Menschen in Kelowna, die in den letzten Jahrzehnten alles verloren hatten. Sein Schicksal las sich wie das von zehntausenden anderen. Als er nach acht Jahren in der Armee, gezeichnet von den Erfahrungen einiger der härtesten Schlachten des Krieges, in sein Heimatland zurückgekehrt war, hatte er anstelle der Kleinstadt, in der er das Licht der Welt erblickt hatte, lediglich Ruinen und einige anonyme Gräber gefunden. Wer nicht geflohen war, wessen Spur sich nicht irgendwo im Ungewissen verlor, war tot. Er hatte nicht bleiben können. Selbst wenn es außer ein paar Bauern in der Umgebung noch jemanden gegeben hätte, der ihm geholfen hätte das Gewerbe seiner Familie wieder aufzubauen, konnte und wollte er den Schmerz nicht ertragen, den jener Ort in ihm wach hielt. In der Hoffnung auf einen Neuanfang hatte er alledem den Rücken gekehrt und war in die Hauptstadt gekommen. Doch hier hatte niemand Interesse daran gezeigt Seinesgleichen wirklich Fuß fassen zu lassen. Die anfängliche Hilfsbereitschaft und Sympathie der Alteingesessenen versiegte schnell, als sich abzeichnete, dass viele der Flüchtlinge vorhatten zu bleiben. Danach dauerte es nicht lang, bis findige Geschäftsleute, die sich mit ihren Kriegsprofiten – zu Kriegsende hatte das Land 100 Milliardäre mehr als zu Kriegsbeginn – nicht zufrieden geben wollten entdeckten in den elenden Existenzen billige und angesichts ihres geringen gesellschaftlichen Ansehens de Facto rechtlose Arbeitskräfte entdeckten. Also schuf man in einigen Städten, in denen sie versucht hatten in Trümmern liegende Häuser wieder aufzubauen, so genannte Schutzzonen, von Posten und Sperrgürteln der Polizei abgeschirmte Viertel, in denen sich anzusiedeln das Gros der Flüchtlinge gezwungen wurde.

    Da die kelownaner Gesellschaft, die Wohlstand als Zeichen jener sah, die in der Gunst der Götter standen und Armut als Zeichen mangelnder Frömmigkeit verstand, schien keinen Platz mehr für sie zu haben. Doch viele wollten sich mit diesem Schicksal nicht abfinden und suchten sich neue Wege der Existenz, auch wenn diese oft genug im Konflikt mit dem Gesetz standen. Myron, der kurz davor gestanden hatte sich zu Tode zu saufen, hatte sein Leben wieder in die Hand genommen, als er eines Nachts miterlebt hatte, wie ein dahergelaufener Kleinkrimineller zwei Prostituierte verprügelte und Schutzgeld von ihnen erpresste. Er ging dazwischen, prügelte den Kerl besinnungslos und ließ ihn liegen. Die leichten Mädchen erzählten ihnen von ihrem 'Boss', der sie anschaffen schickte, einem Drecksack, der kaum etwas unternahm sie zu schützen und die meisten mit Drogen gefügig hielt, und schlossen einen Pakt mit ihm. Er erfüllte seinen Teil noch am folgenden Tag, indem er den Zuhälter und jeden seiner Schläger umlegte. Seitdem hatte er diesen Platz eingenommen und obwohl er weit davon entfernt war ein Engel zu sein, sah er die Mädchen als Partner an und hatte die Geschäfte gut ausbauen können. Deshalb war Dinier zu ihm gekommen. Sie hatten schon einige Male zusammen gearbeitet. Die Mädchen schnappten auf der Straße oder wenn ein Kunde ihnen im Bettgeflüster Dinge anvertraute, die er bei ihnen sicher wähnte, viel auf und Myron selbst hatte mit der Zeit hervorragende Kontakte geknüpft und genug Zorn auf die Führung seines Landes im Leib, um sich nicht daran zu stören mit alten Feinden zusammenzuarbeiten.

    Jedes Mal hatte er sich als zuverlässiger Partner erwiesen. Heute jedoch hatte Dinier das Gefühl er wolle ihn veralbern. Mit einer harschen Geste aus dem Frontfenster herrschte er ihn an: „Ich brauche jemanden an den wir unauffällig rankommen, keinen frommen Tempelgänger.“ Myron nickte und streckte zwei Finger in Richtung des Mannes aus, den sie beobachteten. „Eben. Und deshalb wollt ihr ihn.“ Dinier wandte seinen Blick noch einmal in die angezeigte Richtung und seine Stirn legte sich nachdenklich in Falten. Der wagen stand in einer schmalen Gasse, die zwischen alten Gemäuern hindurch auf den Vorplatz eines Tempels führte, um den der gesamte Ort entstanden war. Unter den Menschen, die nach der allmorgendlichen Andacht die mamornen Stufen des Tempels hinab und sich in alle Richtungen zerstreuten, waren auch einige Männer in Uniform, von denen einer stehen geblieben war und sich in sanftem Plauderton mit einem Ehepaar unterhielt. Ihm hatte Myrons Fingerzeig gegolten. „Ich kenne den Kerl“, beteuerte der Gesetzlose. „Er ist Major und sitzt im Planungsstab der Specials. Höhere Geheimhaltungsstufen haben höchstens ein paar Obristen oder Generäle. Er gibt sich überall als Musterbürger und macht einen auf frommen Gläubigen, treusorgenden Ehemann und strengen Vater. Aber diese Welt des Regeln, Gesetze, der Frömmelei und Ordnung wird ihm immer wieder zu eng. Er kommt seit vier Jahren fast jeden zweiten Tag und manchmal auch öfter in die Zone. Dann lässt er sich hemmungslos volllaufen, knallt 'ne Nutte, fängt Streit an oder nimmt was härteres.“

    Man hörte ein verächtliches Schnauben von Kieran, der murmelte: „Abschaum.“ Myron grinste breit und nickte. „Eben. Abschaum. Ich sage euch, er ist perfekt, was immer auch ihr vorhabt. Verdorben bis auf die Seele und würde diese Lüge, die er Leben nennt, niemals platzen lassen, selbst wenn das Bedeutet darüber zu schweigen Informationen weitergegeben zu haben oder überfallen worden zu sein.“ Dinier dachte noch eine Sekunde lang nach, dann begann er auf der Tür die Melodie der Musik mitzutrommeln, die aus dem Radio drang, und meinte: „Ich sehe den Punkt. Deine Denkweise gefällt mir, Mann.“ „Heh, dafür bin ich da. Wenn du willst setze ich eines meiner Mädchen auf ihn an.“ Doch Dinier schüttelte den Kopf. „Nein, das erledigen wir selbst.“

    Am späten Nachmittag des selben Tages:

    Die Schienen der seit Jahren stillgelegten Hochtrasse einer Schnellbahnstrecke warfen ihren Schatten auf die Straße unter sich. Straßenhändler hatten ihre Waren in ihrem Schutz ausgebreitet. Einer, der kistenweise Tonträger auf provisorisch zusammengezimmerten Tischen aufgebaut hatte, hatte sich gegen einen der Stützpfeiler gelehnt und behielt die Kunden, die darin wühlten, aufmerksam im Auge, während nur wenige Meter weiter Kleidung, abgegriffene antiquarische Bücher oder Elektrogeräte aus zweiter Hand oder zumindest zweifelhafter Herkunft feil geboten wurden. Die Straße war gesäumt von Schnellimbissen, zu dieser Tageszeit noch geschlossenen Clubs und Läden mit oft vergitterten Fenstern. Einzelne Bands spielten auf dem Gehsteig, so manche Fassade eines besonders gut gesicherten Hauses trug Einschusslöcher, an einigen Straßenecken standen die ausgeschlachteten Überreste aufgegebener Fahrzeuge und Dinier konnte sich keinen anderen Ort der Stadt vorstellen, an dem sich ein Laden dessen Aushang dem Kunden versprach er würde hier nur auf faire Art betrogen hätte halten können. Es war die Schutzzone, ein altes Arbeiterviertel neben einem Industriedistrikt, dessen Bewohner sich oft bewusst allen Konventionen jener Gesellschaft widersetzten, die sie fallen gelassen hatte.

    Er betrachtete das bunte Treiben, das, übersah man, dass es sich nicht aus Traditionen heraus entwickelt hatte, sondern aus der Not geboren war und vieles was sich dort unten abspielte sich rechtlich in einer Grauzone bewegte, mehr mit dem sonnigen Cyrene gemein hatte, als mit der Hauptstadt, von einem Fenster eines der heruntergekommenen Wohnblöcke, in dem sie eine leer stehende Wohnung, die Myron ihnen empfohlen hatte, für ihre Zwecke okkupiert hatten. Es gab weder einen Vermieter, noch einen Hausmeister, so dass sie einfach einer alten Dame, die mit ihrem distinguierten und weltgewandten Auftreten an einem Ort wie diesem völlig deplatziert wirkte und für die Hausgemeinschaft einfache Reparaturen organisierte, ein paar Scheine in die Hand gedrückt und die Wohnungstür aufgebrochen hatten. „Allein beim Gedanken wird mir schlecht...“, hörte er auf einmal Noor hinter sich sagen. Er drehte sich um und sah zu seiner Soldatin, die vor einem Spiegel saß, während Fabiola sie schminkte. Anstatt ihrer Uniform trug sie eng sitzende Kleidung, die reichlich Haut zeigte und ihre Kurven zur Geltung brachte. Ihre Hände nestelten die ganze Zeit an ihrer Pistole, einer alten 8mm, während des Krieges die bevorzugte Ordonanzwaffe der Kelos, die sie auf einem Schlachtfeld aufgelesen hatte, nahm sie auseinander und setzte sie wieder zusammen, was ihr einige übellaunige Blicke von Fabiola einbrachte, die sie Aufforderte still zu halten. Es kam ihm vor als klammere sie sich an der Waffe fest.

    Er trat neben sie und sah zu ihr herab. Sie wirkte aufgewühlt. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ Sie sah zu ihm auf. Noch nie hatte ihren Blicken eine solche Unsicherheit inne gewohnt. „Du weist, ich bin gerne in der Zone“, antwortete sie. „Es gefällt mir hier. Aber ich hasse einfach die Vorstellung mich an diesen Sack ranschmeißen zu sollen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich zwinge dich nicht.“ Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. „Es sei denn du willst, dass ich Galene frage?“ Galene, die einzige andere Frau ihrer Einheit, war beinahe zwanzig Jahre älter als Noor. Obwohl Mallic, der schon vor dem Krieg mit ihr gedient hatte, schwor, dass sie damals nie über den Hof der Garnison hatte gehen können, ohne dass alle Männer sich nach ihr umdrehten, war sie dem fünfzigsten Lebensjahr mittlerweile sehr viel näher als dem vierzigsten und der feurige Blick eines jungen Mädchens, das sich verpflichtet hatte ohne die Realität des Krieges zu kennen, war dem einer gebrochenen Kriegerin gewichen. Inmitten eines Klubs, umgeben von sich im Rhythmus der Musik bewegenden Leibern und blutjungen Mädchen, die mit viel freier Haut nach Aufmerksamkeit heischten, hätte sie die Blicke des Offiziers, hinter dem sie her waren, nie auf sich ziehen können. Nun lachte auch Noor und schüttelte dabei den Kopf. „Nein. Aber ich möchte, dass du mir eins Versprichst: Frag mich nie wieder irgendwelche Klischees zu bedienen. Das ist erniedrigend.

    Er nickte. „Kein Problem.“ Sie legte die Hände auf den Kopf, warf sich in eine verführerische Pose und erwiderte: „Gut. Nicht das einer der Jungs sich noch Hoffnungen macht irgendwelche abartigen Träume von südländischen Schönheiten könnten sich erfüllen. Die Blume von Barez, wunderschön, dem Mann gegenüber ehrerbietig und billig zu haben. Es gibt kein dümmeres Klischee. Kelos, Andas, ihr Männer habt doch alle nur den Niedergang des Patriarchats nicht verkraftet und euch in eure Fantasien geflüchtet.“ Er schnaubte amüsiert, während Fabiola, die ihre Worte unweigerlich hatte hören müssen, Noor nun mit neu entfachtem Interesse musterte. „Sie kommen aus Barez?“, fragte sie nach einigen Augenblicken. Noor grinste ihr zu. Für einen Einheimischen dieser Welt wäre es wohl offensichtlich gewesen. Obwohl sie die letzten zehn Jahre vor allem im kalten Kelowna verbracht hatte, war ihr Teint dunkler, als der der meisten anderen, ihr Gesicht mit seinen hohen Wangenknochen schmal und ihr dunkles Haar von einer Färbung, die man hier nur selten auf natürliche Weise vorfand. „In Fleisch und Blut ein Kind des Reiches der Padeshah“, antwortete sie, mit einem melodischen Akzent, der ihrer Stimme sonst komplett fehlte, in Kelowna und Andaria aber unweigerlich mit jenem alten Land im Süden der Föderation in Verbindung gebracht wurde.

    Barez, trotz aller wirren Vorstellungen Fremder keinesfalls eine Wüste, sondern ein tiefgrünes Land und Heimat einer der ältesten Zivilisationen des Planeten, war eine stolze Nation. Auch wenn die Bezeichnung 'Brennpunkt' nicht weniger passend gewesen wäre. Nach Jahrhunderten ständiger Grenzkonflikte mit beiden nördlichen Nachbarn, dem Königreich von Tirania und den andarianischen Fürstentümern, durch die sich wechselseitig erklärte heilige Kriege und Besetzungen zogen wie ein roter Faden, hatte das dort lebende Volk sich im Befreiungskrieg auf die Seite von Andarias Freiheitskämpfern geschlagen, seinen Monarchen, den Padeschah von Barez, damals eine Marionette Tiranias, ins Exil gejagt und sich der Föderation angeschlossen. Nur war das Land reich an vielen wertvollen Ressourcen, vor allem Öl und Naquadria, die Kelowna der Föderation nach dem Krieg nicht hatte lassen wollen. Folgerichtig hatte der Friedensvertrag Barez die erneute Unabhängigkeit diktiert und die Kelos hatten die Nachfahren des letzten Padeshahs wieder auf den Thron ihrer Ahnen gesetzt, um ihn Verträge unterzeichnen zu lassen, die kelownanischen Firmen beinahe exklusive Zugriffs- und Schürfrechte für 90% aller Ressourcenlagerstätten gaben und ihn danach aufgerüstet, bis er die drittgrößte Armee seiner Zeit besessen hatte, um die Interessen seiner Gönner verteidigen zu können. Nur hatten sie nicht bedacht, dass er für den Unterhalt dieser Armee sein Volk gnadenlos hatte auspressen müssen.

    Und vor fünf Jahren hatten sich die Menschen schließlich in ihrer Verzweiflung hinter einen religiösen Führer geschart, um den Diktator loszuwerden. Die drittgrößte Armee der Welt hatte mit Gewehr im Anschlag und doch machtlos vor zahllosen Demonstranten gestanden und schließlich das Feld geräumt, als Soldaten sich weigerten ein Massaker anzurichten. Erneut musste ein Padeshah fliehen und das Land geriet unter die Führung der Priester des Feuertempels, den einzigen Menschen dieser Welt, die ihre Religion genauso ernst nahmen, wie die Kelos. Und mit dem Land jedes einzelne Gewehr, jeder Panzer, jede Rakete, die sie ihrem vormaligen Verbündeten geliefert hatten. Nach einer mehrjährigen Durststrecke, in denen einzig zwei militärisch völlig geschlagene alte Konkurrenten als Feindbilder hatten herhalten können, war plötzlich endlich ein neues Reich des Bösen auf der Karte erschienen und hatte das Weltbild eines jeden aufrechten Kelownaners wieder aufgerichtet. Trotzdem ließen die Bilder exotischer Romantik, dem prachtvollen Treiben an den Höfen der Padeshah und wagemutigen Helden alter Legenden, mit denen man dem Volk die Angst vor einem Bündnis mit der Marionette auf dem Thron hatte nehmen wollen, nicht einfach aus dem kollektiven Gedächtnis streichen.

    Gerade diese Stereotype, so wenig sie auch mit der Realität zu tun haben mochten, arbeiteten für sie. Noor war weder eine Laufstegschönheit, noch eine jener wandelnden Plastikpuppen, die ihre üppigen Rundungen Chirurgen verdankten, die in frankensteinscher Schöpfungskraft aus einem Klumpen Silikon schufen, was die Natur ihnen verweigert hatte, und von manchen Männern aus unerfindlichen Gründen immer wieder mit Frauen verwechselt wurden war, musste es aber auch nicht sein. Sie hatte ein ansehnliches Gesicht, war athletisch und besaß in jeder Bewegung eine Eleganz, die einer professionellen Tänzerin zur Ehre gereicht hätte. Was ihr fehlte, schufen Fantasien über die Frauen ihrer Heimat in den Köpfen der Betrachter. Fabiola nickte. Dann begutachtete sie noch einmal das Make-up und zauberte eine kleine Dose aus einer Tasche hervor. Sie nahm ein durchsichtiges kleines Objekt heraus, das wie jene neuartigen Sehhilfen, Haftgläser, anmutete, von denen Dinier gehört hatte und dachte zunächst die Agentin halte so etwas in der Hand. Während sie Noors Augenlider auseinander schob, um die Linse auf die Iris zu setzen, klärte sie beide über ihren Irrtum auf: „Das ist ein richtig nettes Stück Spionagetechnologie. Ein bilderzeugendes Gerät, das im Auge getragen wird. Passt sich ihrer Augenfarbe an und nimmt alles auf, was sie sehen. Ein tiefer Blick in die Augen des Ziels genügt um seine Iris zu scannen.“ Noor blinzelte, kniff die Augen zusammen und schüttelte sich. „Die Teile jucken.“ „Geben sie sich selbst ein paar Minuten sich daran zu gewöhnen. Ich bin gleich zurück.“ Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Noor ließ sich gegen die Lehne des Stuhls sinken und betrachtete sich im Spiegel. Eine Träne lief ihr aus dem linken Auge. Dinier senkte eine Hand auf ihre Schulter, drückte sie ein wenig und ermahnte sie: „Denk daran: Wenn das klappt ist es endlich vorbei.“ Sie sah flüchtig in Richtung seiner Hand, wischte sich über die Wange und antwortete: „Ich hab was im Auge. Mach kein Drama draus.“ Er lächelte und ließ sie wieder los, wobei er ihr leicht gegen die Schulter knuffte. Mit gemächlichen Schritten schlenderte er wieder zum Fenster. Dabei hörte er sie auf einmal sagen: „Colonel?“ „Ja, Specialist?“ „Ich glaube ich will nicht, dass wir es schaffen.“ Er verharrte reglos, schwieg. Nach einigen Augenblicken fragte sie: „Was käme danach? Was würde aus uns?“ „Ich weiß es nicht.“

    Die Zone schlief nie. Zu keinem Zeitpunkt des Tages würde man ihre Straßen leer oder ihre Häuser dunkel vorfinden. Doch weckte die heraufziehende Nacht jeden Abend eine andere Seite. Wenn die Fabrikhörner der nahen Industriegebiete den Wechsel zwischen Spät- und Nachtschicht ankündigten, packten viele Händler, ob sie nun Lebensmittel, Kleidung, Kurzwaren oder Elektronik anboten, eilig ihre Waren zusammen und verschwanden von der Straße. Die Nacht gehörte jenen, deren Angebot anderer Art war. Während der Besitzer der nur ehrlich betrügenden Pfandleihe sein Geschäft mit massiven Gittern verrammelte, öffneten entlang der Hauptstraße Tanzklubs, Bars und Striplokale ihre Pforten. Das Licht der Abendsonne wich dem vielfarbigen Flimmern von Neonröhren und Leuchtreklamen. Ungezählte Massen werktätiger Bevölkerung schlurften nach Hause. Ihnen folgten andere. An allen wichtigen Zufahrtsstraßen der Zone führte die Polizei Ausweiskontrollen durch. Wurde jemand von den Posten aufgegriffen, musste er unweigerlich mit einem Eintrag in seinem Führungszeugnis rechnen. Die Kontrollen störten die Geschäfte einiger Gruppen, die Wert darauf legten sich ungesehen und ungehindert bewegen zu können. Also hatten sie sich eigene Wege geschaffen, die sie jeden Abend Besuchern öffneten, die der biederen Spießigkeit ihres Lebens für ein paar Stunden entkommen wollten.

    Dinier folgte einer jungen Frau durch eine nur spärlich in flackerndem Licht ausgeleuchtete Seitengasse. Stapel vor sich hin rostenden Schrotts und Müllcontainer reihten sich entlang der Wände aneinander, leises Rascheln aus einem der Container verriet, dass ein Tier sich an den Abfällen darin gütlich tat, und er erhaschte im Augenwinkel einen Blick auf einen Obdachlosen, der für die Nacht unter einem kleinen Regendach Schutz gesucht hatte. Es war einer jener Orte, die in vielen Menschen das Bedürfnis weckten zu rennen, ihre Schritte zu beschleunigen, während sie sich ständig umsahen und in jedem Schatten einen Halsabschneider fürchteten. Dennoch riss der Strom ihnen entgegen kommender Menschen nicht ab. Einige waren entspannt, als machten sie einen Sonntagsspaziergang, andere schienen sich in einem schlechten Gangstermovie zu wähnen – beobachteten ihre Umgebung misstrauisch über den Rand ihres hochgeschlagen Kragens hinweg und wichen jedem Blick aus, als sei ihre Identität für irgendjemanden in der Zone tatsächlich von Belang.

    Diniers Führerin – Aglaia, wie Myron sie vorgestellt hatte – allerdings machte sich einen Spaß daraus alle Blicke auf sich zu ziehen. Bei jedem Schritt setzte sie mit einem verführerisch subtilen Hüftschwung einen Fuß vor den anderen und schenkte jedem ein Lächeln, in dem ein verheißungsvolles Versprechen lag, ließ ihre Reize spielen, machte aber jedes Mal wenn jemand einen Blick auf sie geworfen hatte, eine Bewegung in Richtung ihres Begleiters. Dinier erntete viele ängstliche oder wütende Blicke, aber auch solche in denen purer Neid zu erkennen war und sie grinste jedes Mal verschmitzt, wenn sie es schaffte jemand anderen zu verschrecken. Ihm spukte ein Vergleich seiner Lage mit einem Tanzbär durch den Kopf, vor dem alle Reißaus nahmen, der ihm ein leichtes Zucken im Mundwinkel abrang.

    An einer Kreuzung wandte sie sich schließlich nach links und führte ihn ein kurzes Stück weiter. Dann blieb sie stehen und deutete in Richtung eines offen stehenden Tors, aus dem helles Licht drang. „Hier kommt er normalerweise lang“, meinte sie. „Sicher?“ „Ich kenne ihn und das wahrscheinlich besser als seine Frau. Er war eine Zeit lang einer meiner Stammkunden. Irgendwann hat er mich dann verprügelt. Nasria ist dazwischen gegangen und hat ihm eine Knarre unter die Nase gehalten. Seitdem hat er sich nicht mehr bei mir blicken lassen.“ Dinier nickte und schlenderte auf das Tor zu, um einen Blick hindurch zu erhaschen. Er sah eine Garage, deren Rückwand aufgestemmt worden war und so durch eine andere Garage einen Durchgang auf den Hinterhof eines schon nicht mehr zur Zone gehörenden Block freigab. Ein Mann in einem Nadelstreifenanzug saß dort an einem Tisch und strich von jedem, der die Zone betreten wollte, einen Obolus ein. Ein anderer, dessen einzige Aufgabe darin zu bestehen schien jeden, der vorbei kam, finster anzustarren, stand mit einer Maschinenpistole in der Faust neben ihm. Als der Kassierer seine Hand ausstreckte, um nach dem Wegzoll zu verlangen, konnte Dinier an einem seiner Finger einen Ring erkennen, der das Markenzeichen einiger Alkoholschieber war, die die Stadt mit billigem Schnaps überfluteten.

    Er wandte sich wieder ab und ging zurück zu dem Mädchen, das sich einige Meter an eine Wand gelehnt hatte und gerade versuchte im Nieselregen ein von ihrer linken nur schlecht abgeschirmtes Feuerzeug zu entzünden. Er stellte sich mit dem Kreuz gegen den Regen neben sie und hielt ihr sein Feuerzeug hin. Sie lächelte und steckte sich ihre Zigarette an. Nach einigen Zügen sagte sie: „Myron hat nie erzählt, wie er an euch geraten ist. Ihr seid Andarianer, nicht wahr?“ Er zog selbst einen Glimmstängel aus der Tasche und nickte stumm. „Erzählst du es mir?“ „Da gibt es nicht viel zu erzählen“, antwortete er mit der Zigarette im Mundwinkel. „Er wurde im Krieg angeschossen und ist in der Feuerzone liegen geblieben. Nachts hat einer meiner Leute ihn in der Dunkelheit für einen von uns gehalten und in unsere Stellung gezerrt. Wir waren auf dem Rückzug und konnten uns nicht mit Gefangenen belasten. Also habe ich den Sanis befohlen ihn zu versorgen und ihn zurückgelassen.“ „Hm... Er spricht selten von früher. War es übel?“ Er sah ihr in die Augen. „Sei froh, dass du keine Ahnung hast.“ Sie standen noch eine Weile beeinander und rauchten. Dann bemerkte er den Mann, auf den sie gewartet hatten.

    Er hatte seine Uniform gegen einen knielangen Ledermantel eingetauscht und schlenderte, schlenderte lässig durch das Tor und warf Blicke in beide Richtungen der Gasse, bevor er sich in Richtung der Hauptstraße wandte. Als er die Frau bemerkte, sah er sie für einen Moment an, als überlege er sie doch noch einmal anzusprechen. Sie hingegen sah ihn mit einem Blick an, in dem die Worte 'in deinen Träumen' mitschwangen. Dann legte sie Dinier auf einmal eine Hand in den Nacken, zog ihn ein Stück weit zu sich herunter und küsste ihn ohne Vorwarnung. Er musste in der ersten Überraschung den Reflex unterdrücken sie wegzustoßen. Dann schnippte er seine Zigarette weg, zog sie an sich und hob sie eine Hand breit hoch, so dass sie einander in die Augen sehen konnten, was sie sofort als Einladung nahm ihm ein Bein um die Hüfte zu schlingen. Der Kelownaner beobachtete die Szene für einen Moment mit schiefem Blick, dann winkte er ab und zog von dannen. Sie wartete noch einen Augenblick, dann unterbrach sie den Kuss lehnte ihre Stirn gegen seine und meinte: „Sorry, aber das hatte er verdient.“ Mit einem Schmunzeln antwortete er: „Gibt es hier noch jemanden auf den du sauer bist?“ Sie gluckste, küsste ihn noch einmal und fragte: „Hast du später schon was vor?“ „Bis jetzt noch nicht.“ „Dann denk an mich.“ Er setzte sie ab, fasste sich an die Krempe seines nicht vorhandenen Hutes und versprach: „Das werde ich.“ Dann wandte er sich um und folgte dem Offizier.

    Der Mann folgte dem kürzesten Weg zur Hauptstraße. Dinier musste sich beeilen dicht genug aufzuschließen, um ihn im Gedränge dort nicht aus den Augen zu verlieren. Er wanderte zunächst eher ziellos die Straße entlang und ließ die wilde, chaotische Atmosphäre auf sich wirken. Dann fällte er die Entscheidung in einen der größeren Klubs zu gehen. Dinier folgte ihm und blieb am Eingang kurz stehen, um sich umzusehen. Eine große Tanzfläche, von zahllosen farbigen Lampen in stroboskopisch flackerndes Licht gehüllt, beherrschte die Mitte des Raumes. Eine zweitklassige Band spielte eine Musik, die beinahe frei von Thema oder Text vor allem aus mit elektronischen Instrumenten erzeugten simplen Tanzrythmen bestand, und steigerte den Takt des Beats bis zur Schmerzgrenze, bemüht fehlendes Talent durch Lautstärke und Tempo zu verschleiern. Es war voll, viel zu laut und ein Blick auf das Tablett einer Kellnerin ließ Dinier vermuten, dass die Drinks lieblos gepanscht wurden, doch der Laden bot eine gewisse Anonymität und viele der Frauen, die zwischen den schwitzenden Leibern dutzender anderer Gäste auf der Tanzfläche bewegten, zeigten eine Menge haut. Er suchte sich einen Platz an einem der Tische, die in Gruppen am Rand der Halle zusammengeschoben worden waren, von dem aus er den Ausgang im Blick behalten konnte, und funkte seine Leute an.

    Als Noor und Fabiola eintrafen, hatte der Kelo an der Theke platz genommen, sich schon sein zweites Bier bestellt und den Blick auf die Tanzfläche gerichtet. Dinier gab den beiden einen Wink und sie verschwanden in der Menge. Als ihre Füße das Tanzparkett berührten, begann Noor sich elegant, regelrecht katzenhaft zum Klang der Musik zu bewegen, wie im Moment versunken, als tanze sie nur für sich, bewegte sich dabei aber mit jedem Schritt näher auf die Theke zu. Es dauerte nicht lange, dann zog sie dutzende Blicke auf sich. Auch die Zielperson hatte sie bemerkt. Sie tanzte einige Minuten lang, dann trat sie wenige Meter von ihm entfernt an die Theke und winkte den Barmann zu sich. Er stürzte sein Getränk herunter und näherte sich ihr. Sie flirtete mit ihm, ließ sich ein Getränk ausgeben und entführte ihn dann auf die Tanzfläche.

    Sie tanzte eng an ihm, strich ihm dabei immer wieder scheinbar beiläufig über den Körper und warf ihm tiefe Blicke zu. Er legte ihr schließlich die Hände auf die Hüften und zog sie noch etwas enger an sich. Sie ergriff die Gelegenheit ihre Hände wandern zu lassen. Was er für stürmisches Verlangen halten musste, gab ihr die Chance ihn abzutasten. Nach wenigen Sekunden hatte sie seine Brieftasche gefunden und ihm abgenommen. Durch eine kleine Geste winkte sie Fabiola heran, die mit Vin tanzte. Sie bewegten sich dicht aneinander vorbei und reichten die Tasche weiter. Fabiola durchsuchte sie rasch, fand den Dienstausweis des Mannes und kopierte ihn mit einem kaum handtellergroßen Lesegerät. Sobald sie Noor die Tasche wieder zugesteckt hatte, verließ sie die Tanzfläche und kam zu Dinier. „Wir haben was wir brauchen“, erklärte sie. „Ich hoffe nur, dass ihr Fälscher so gut ist, wie sie sagen.“

    Am folgenden Morgen:

    Die ersten Strahlen der Morgensonne, die durch die Fenster des Besprechungsraumes fielen, weckten Colonel Quinn aus unstetem Schlaf. Er blinzelte sich die Müdigkeit aus den Augen und warf einen Blick auf seine Uhr. Es war fünf Uhr früh. Er amtete tief durch, rieb sich das Gesicht und erhob sich aus dem Ledersessel, in dem er geschlafen hatte. Er schnappte sich seinen Becher vom letzten Abend, stellte ihn in den Kaffeeautomaten neben der Tür und trat ans Fenster. Die Sonne hatte den Horizont tief im Westen in Brand gesetzt und erhob sich an einem klaren Himmel über die in Teilen noch unter Frühnebel liegende Stadt. Nachdem allein er und seine Männer verhindert hatten, dass Kotas Terroristen die kompletten Datenbanken der Staatssicherheit stehlen konnten, hatte man ihn wieder in die Operation einbezogen, was er mittlerweile aber innig bereute. Obwohl sogar General Velis wenn auch zähneknirschend zugegeben hatte einen Fehler gemacht zu haben, als er Quinns Warnungen ignoriert hatte, fühlte der Colonel sich nun an einen Verein aus alten Herren und Anzugträgern gefesselt, der sich mit dem Gedanken an eine Niederlage abgefunden hatte, bevor der Kampf überhaupt entschieden war. Während der Konferenzen, in denen sie bis spät in die Nacht hinein beisammen gesessen hatten, hatten die meisten Gedanken möglicher Schadensbegrenzung gegolten, hatten die Terroristen doch schon eine noch unbekannte Datenmenge erbeutet, und wenn immer er die Diskussion darauf hatte lenken wollen wie man ihrer habhaft werden konnte, war ihm gesagt worden, dass man ihren nächsten Schritt abwarten wollte.

    Er schüttelte den Kopf und hieb einmal so kräftig gegen den Fensterrahmen, dass sein Knöchel schmerzte. Dabei murmelte er: „Diese Idioten.“ Das Zischen und Brummen des Automaten verstummte. Er nahm einen tiefen Schluck und hätte das Gebräu beinahe wieder ausgespuckt. In seiner Frustration musste ihm letzte Nacht entgangen sein wie scheußlich es geschmeckt hatte. Er richtete seinen Blick wieder über die Stadt. Auf Kotas nächsten Zug zu warten war Wahnwitz. Wie jeder seiner Männer gehörte der Renegat einer kriegerischen Rasse an. Von Kindesbeinen an hatte man ihnen Kampfgeist, Aggression und Siegeswillen eingeimpft. Ihre archaischen Kulturen waren davon durchtränkt. Sie hatten es mit der Muttermilch aufgesogen. Ihnen gegenüber zu zögern wäre ein Kardinalsfehler, den er nicht begehen würde.

    Sein Gesicht verzog sich in einer Andeutung der seelischen Pein, die ihn in diesem Moment umtrieb. Ein Scheitern würde die kelownanische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern und den Zorn ihrer alten Feinde erneut schüren. Daraus konnte nur Chaos erwachsen, wie sie es im Krieg bekämpft hatten. Er glaubte, dass sein Land eine Bestimmung zu erfüllen hatte. Andaria war stets ein zerrissenes Land gewesen, das in seinem radikalen Verständnis von Volksherrschaft immer von völliger Anarchie bedroht gewesen war. Und hinter der schillernden Fassade tiranischer Aristokratie herrschte seit Jahrhunderten Verfall. Doch Kelowna war Ordnung. Kelowna hatte die Jahrhunderte überdauert, das Tor zu den Sternen aufgestoßen und würde dieser Welt den Weg in die Zukunft weisen.

    Er stellte den Becker mit einem Krachen zurück auf den Tisch, das einen der Agenten aus dem Schlaf riss. Er sah den Mann an und meinte: „Guten Morgen, der Herr. Ich schlage vor sie wecken ihre Kollegen. Und nehmen sie ruhig meinen Kaffee. Er schmeckt scheußlich.“ Bevor der Agent etwas antworten konnte hatte er den Raum schon verlassen. Einige Räume weiter hatte Valis Hale, der auf sein Drängen hin eilig aus Cuvesh angereist war, eine Stelle zur Koordination sämtlicher Aktivitäten aufgebaut. Drei rangniedere Offiziere sortierten die zahlreichen Meldungen und Berichte von Fahndern, die die ganze Stadt durchkämmten, organisierten die Suchaktionen und bewachten die Telefone, die man provisorisch an das zivile Leitungsnetz angeschlossen hatte, um die ebenfalls mit Computern arbeitende hausinterne Kommunikationszentrale zu umgehen. Auf einem großen Tisch war eine Karte der Stadt ausgebreitet, auf der Patrouillen, Straßenkontrollen und Orte von Hausdurchsuchungen eingezeichnet waren. Als er sie betrachtete, fiel ihm ins Auge, dass ein Teil der Stadt fast gänzlich ausgespart worden war: Die Schutzzone, wo jeder Uniform mit Misstrauen begegnet wurde und staatlichen Autoritäten nur Respekt entgegen gebracht wurde, der über den Lauf einer Schrotflinte hinweg eingefordert wurde. Er konnte sich trotz aller Straßensperren und Ausweiskontrollen in den angrenzenden Straßen kein besseres Versteck vorstellen. Nach kurzem Nachdenken griff er zum Telefon und rief im Polizeipräsidium an.

    Einige Stunden später:

    Quinn stand vor einer halb verfallenen Fabrikruine am Fluss. Die Fenster waren zerschlagen, die Fassade bröckelte und das Gebäude trug noch Spuren von Bombentreffern und Splittern. Ein Ort voll von Verstecken und Fluchtwegen. Er sah noch einmal zu seinem Lieutenant, der darauf bestanden hatte ihn zu begleiten. Der rückte seine Sonnenbrille zurecht und hob eine Hand zu einem legeren Salut an die Stirn. Quinn nickte ihm noch einmal zu, dann betrat er das Gebäude. Es war kalt und zugig. Die Luft war feucht, es roch nach rostendem Metall und verrottendem Mauerwerk. In der großen Halle standen immer noch einige Maschinen, durchgerostete Maschinen, deren einstiger Zweck sich sich nicht mehr erschloss. Die Decke war teilweise eingestürzt und große Pfützen breiteten sich auf dem Boden aus. Er ging einige Meter in die Halle und blieb stehen. Niemand zu sehen. Lautstark rief er: „Hallo?!“ Nichts. Er ging weiter. Dann bemerkte er auf einmal bei einem Blick nach unten, dass etwas mit dem Wellenmuster in der Pfütze zu seinen Füßen nicht stimmte. Der Angreifer hatte sich wirklich Mühe gegeben leise zu sein, doch einmal auf ihn aufmerksam geworden hörte Quinn seine Schritte als würde er mit aller Kraft aufstampfen. Das leise Klicken eines Abzugshahns, der gespannt wurde. Er reagierte blitzschnell. Mit einem Ausfallschritt nach hinten drehte er sich herum, packte den Waffenarm des Mannes am Handgelenk und verpasste ihm mit der freien Hand drei schnelle Schläge gegen Rumpf und Hals. Dann packte er ihn am Kragen und drückte ihn mit dem Gesicht voran in die Pfütze.

    Er war drauf und dran den Kerl zu erschlagen, als vier weitere Männer aus einem angrenzenden Büro auftauchten. Zwei trugen Maschinenpistolen, einer eine einfache Eisenstange. Der vierte war etwas älter und kräftiger als die anderen und hatte einen leicht traurig wirkenden Gesichtsausdruck, der jedem Mann sofort Angst einflößte er könne einen Fehler gemacht haben. „Das reicht“, sagte er Quinn mit einer Geste. „Lassen sie ihn leben.“ Er ließ von ihm ab. „Was soll das Theater? Ein Hinterhalt an der Tür?“ Der Gangster lächelte. „Eine Vorsichtsmaßnahme. Normalerweise bezahle ich die Polizei, nicht umgekehrt. Dass jemand Informationen von mir kaufen will erschien mir reichlich ungewöhnlich.“ „Dann freuen sie sich über eine Premiere.“ Er zog ein Bündel Geldscheine hervor, drückte es dem wimmernd am Boden liegenden Schläger in die Hand und flüsterte ihm zu: „Los, lauf zu deinem Herrchen und bring ihm das Geld.“ Sobald er die Scheine in Händen hielt und sich von der Vollständigkeit der Summe überzeugt hatte fragte der Gangster: „Wie kann ich zu Diensten sein?“ „Ich suche mehrere Leute“, erklärte Quinn. Er hielt ihm Fotos von Kotas Gruppe hin. „Er hier ist der wichtigste. Aber jeder der anderen bringt mich genauso weiter. Ich vermute, dass sie im Moment in der Zone sind.“ Der Gangster nickte mit schwermütigem Blick. „Ich verstehe? Irgendetwas, dass meine Leute bedenken sollten?“ „Die Gesuchten sind gefährlich und wahrscheinlich nicht allein. Sollten sie einen finden, alarmieren sie mich und halten sie sich zurück...“

    Drei Tage später:

    Die letzten Tage waren für Dinier mit der Aufregung verbunden gewesen, die ein Jäger verspürt, der sich an den Küsten der Tundra langsam an einen Bären anpirscht, wissend, dass der kleinste Fehler seinen Tod bedeuten kann. Den meisten im Team ging es ähnlich und jeder hatte seine eigene Art damit umzugehen. Abends betranken sie sich bis zur Besinnungslosigkeit, feierten die Nächte durch oder reagierten mit Gewalt. Zwei seiner Männer waren mit drei Senatsagenten aneinander geraten und nur seinem und Vins raschem Eingreifen war es zu verdanken gewesen, dass ein gebrochenes Nasenbein und eine geprellte Rippe die schwersten zu beklagenden Verletzungen waren. Dinier selbst hatte die letzten Nächte mit Aglaia zugebracht, solange seine Brieftasche es noch zugelassen hatte. Sie hatte ihm nur wenig Schlaf gelassen und ihn auch diesen Morgen etwas übernächtigt zurückgelassen. Er musste wohl drauf und dran gewesen sein einzunicken, als ein kurzer, kräftiger Stich in den rechten Arm ihn in die Wirklichkeit zurückholte.

    Er stieß einen Schmerzenslaut aus, rieb sich den Oberarm und sah vorwurfsvoll den Schneider an, der lächelnd noch die Nadel hielt. „Ich muss hier arbeiten, also halten sie still und die Augen offen. Pennen können sie später.“ „Musste das sein“, beklagte er sich. Der Schneider maß ihm einen strengen Blick, legte dann die Stecknadel beiseite und zog eine ungleich größere Stopfnadel aus dem Nadelkissen an seinem Gürtel. Dinier sah ihn für eine Sekunde missmutig an, dann murmelte er: „Gut, sie haben gewonnen.“ Er richtete sich im Oberkörper wieder steif auf und gab dem Mann Gelegenheit den Stoff einer Jacke festzustecken, die binnen der nächsten 48 Stunden fertig werden musste. Er saß gemeinsam mit Kieran und Ahriman in einer winzigen Wohnung eines der zahllosen Hinterhäuser der Zone, die zwei Schneidern und ihren Lehrlingen als Unterkunft und Werkstatt diente. Der greise ältere der beiden saß im Schneidersitz, zusammengesunken und mit krummem Rücken auf einem kleinen Tisch und vernähte im spärlichen Licht, das durch das viel zu kleine Fenster in der Dachschräge fiel, mit unglaublich flinken Fingern den inneren Saum eines beinahe identischen Kleidungsstücks, das er für Ahriman angepasst hatte. Sein Kollege, ein Mann mittleren Alters, schwammig um die Hüften, der seinen spärlichen Haarwuchs mit einem miserabel angepassten Haarteil zu verstecken versuchte, steckte gerade eine letzte Naht ab und zog den Stoff glatt, um den Sitz zu beurteilen, während drei Lehrlinge Knöpfe an dazugehörige Hemden und Hosen annähten und diese bügelten. Der keine zwanzig Quadratmeter große Raum roch dabei nach Mottenpulver und wurde durch die Hitze des Kohleofens, auf dem das Bügeleisen erhitzt wurde, trotz des draußen herrschenden frischen Frühlingswetters brütend heiß. Kieran hatte das Fenster öffnen wollen, doch der zwar alte aber nichtsdestotrotz resolute Schneidermeister hatte es mit Hinweis auf sein Rheuma und seine alten Knochen untersagt.

    Es gab nicht viele Schneider, die nicht nur bereit, sondern auch fähig genug waren Uniformen zu fälschen. Diese beiden aber waren begierig gewesen den Auftrag anzunehmen, nachdem Fabiola ihnen eine Hundert-Talent-Note auf den Tisch geknallt hatte. Diniers Plan baute darauf auf, dass Kieran, Vin, Ahriman und er in einer Kontrolle als kelownanische Offiziere durchgehen und Kieran das Reden überlassen konnten. Normalerweise hätten sie sich Uniformen einige Wochen oder Monate zuvor direkt an der Quelle – für gewöhnlich irgendeine unglückliche Streife oder die Wohnung eines Offiziers – beschafft. Dieses Mal galt es aber Aufmerksamkeit so lange wie möglich zu vermeiden, so dass sie sich drei Uniformen – Kieran brauchte keine – direkt auf den Leib schneidern lassen mussten. Kieran beobachtete die Arbeit der beiden Männer mit Argusaugen und mahnte jeden noch so kleinen Fehler an, der sie hätte verraten können. Auch um Dinier ging er einmal herum, zupfte am Stoff, begutachtete die Nähte und den Schnitt. Dann nickte er zufrieden und sagte: „Man könnte meinen sie wären bereit für dieses Land ihr Leben zu geben.“ Sein Blick wanderte kurz zwischen Dinier und Ahriman hin und her und er fuhr fort: „Die Uniformen sind perfekt. Bleibt nur zu Hoffen, dass ihr anderer Mann genauso zuverlässig ist.“ „Keine Sorge“, beschwichtigte Dinier, „der ist in Ordnung. Solange man ihn gut bezahlt und Vin ihm über die Schulter schaut ist er mit Feuer auf unserer Seite.“ Ein leichtes Zucken im Gesicht des Kelownaners verriet seinen Unmut. „Erwarten sie Probleme mit ihm?“ Dinier zuckte mit den Schultern. „Wir haben erst einmal etwas bei ihm machen lassen und da war das Kopfgeld auf uns nicht einmal annähernd so hoch. Er ist brillant, aber auch gierig.“ „Dann werde ich ihn noch mal persönlich ins Gebet nehmen.“ „Tun sie was sie nicht lassen können. Aber schonen sie seine Hände solange er noch bei der Arbeit ist.“ Kieran nickte und ging.

    Einige Kilometer entfernt am anderen Ende der Zone saß Vin Thartus in einem kleinen Laden in einer Arkade entlang einer der größeren Straßen. Auf der anderen Seite der milchigen Fenster herrschte das übliche Chaos, doch kaum ein Laut drang an die Ohren des Mannes, der mit einer Lupenbrille vor den Augen konzentriert über seine Arbeit gelehnt an einem der Tische neben dem Tresen saß und einen Computerchip in einen Ausweis einfügte. Es war kühl und regelrecht steril. Nur der scharfe Geruch der Klebstoffe und verflüssigten Kunststoffe, mit denen der Fälscher arbeitete, übertünchten den Geruch der Desinfektionsmittel, der allem hier drin anhaftete. Der Besitzer des Ladens – dem äußeren Anschein nach ein Juwelierladen, tatsächlich die erste Adresse unter den Fälscherwerkstätten vor Ort – ein bieder wirkender Mann in den vierzigern, dessen Kleidung Assoziationen mit Finanzbeamten weckte, war in geradezu pathologischer Weise auf Sauberkeit bedacht, verabscheute laute Geräusche und schüttelte nie jemandem die Hand. Vin hockte auf einem für seine seltenen Kunden reservierten Stühle und las eine sorgfältig gebügelte und in gegen Desinfektionsmittel unanfälliges Plastik eingeschweißtes Magazin und warf immer wieder kurze Blicke auf seine Uhr. Eine halbe Stunde noch, dann sollten die Dokumente fertig sein.

    In diesem Moment öffnete die Tür sich und Kieran trat ein. In gewohnt lauter Stimme sagte er: „Guten Tag, die Herrschaften.“ Der Fälscher fuhr auf seinem Stuhl herum, hielt sich eine Hand ans Ohr, vollführte mit der anderen eine harsche Geste in Richtung des Colonels und meinte in leiser, gepresst klingender Stimme: „Schließen sie BITTE die Tür und senken sie ihre Stimme.“ Kieran tat wie ihm geheißen und setzte sich neben Vin. „Wie kommt er voran“, fragte er offenbar immer noch zu laut, denn der Fälscher erwiderte sofort: „Ich werde auch nicht schneller fertig, wenn sie mich mit Fragen löchern. Ruhe bitte.“ Die beiden Soldaten sahen einander viel sagend an. Vin schmunzelte und bedeutete Kieran zu warten. Einige Minuten vergingen noch, dann drehte der Mann sich zu ihnen um und hielt vier Ausweise hoch, in Kunststoff eingeschweißte Dokumente, die am Revers getragen wurden und zugleich Magnetstreifen und Computerchip für Sicherheitskontrollen enthielten. „Major, First Lieutenant und zwei Mal Second Lieutenant“, erklärte er leise, beinahe flüsternd. „Ich gebe zu, dass es eine Herausforderung war. Ich habe noch nie Dokumente der Armee gefertigt.“ Vin nahm die Dokumente entgegen, wobei er sorgfältig darauf achtete die Finger seines Gegenüber nicht zu berühren, und zeigte sie Kieran. „Großartige Arbeit.“ „Sie sagen es.“

    Er zog einen Umschlag mit Geldscheinen hervor und legte ihn auf den Tresen. Der Fälscher zählte eifrig nach und meinte: „Es ist mir eine Ehre mit ihnen Geschäfte machen zu dürfen. Wenn sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe noch zu tun.“ Er wies beiden die Tür und zog gleichzeitig ein desinfizierendes Einmalputztuch hervor, um die Stühle und das Magazin abzuwischen. Beide Männer wollten gehen, als sich die Tür ein weiteres Mal öffnete und Quinn darin stand, die Waffe auf Vin gerichtet. „Thartus“, stellte er einsilbig fest und drückte ab. „Man hatte mir gesagt, dass ich sie hier finden würde.“ Die Kugel traf den Andarianer, der noch versuchte sich zur Seite zu werfen, in die rechte Seite. Er spürte den Schmerz nicht. Statt dessen, schneller als der Angreifer reagieren konnte, tat er einen Schritt vor, packte ihn an der Schulter und rammte ihm den rechten Unterarm am Ellenbogen mit voller Wucht gegen den Kehlkopf. Quinn taumelte zurück und röchelte. Im nächsten Augenblick hatte Kieran seine Waffe gezogen und ihm eine Kugel direkt zwischen die Augen gejagt. Nur Sekundenbruchteile später tauchte am Eingang ein anderer Soldat auf, der Quinn Deckung hatte geben wollen, aber nicht schnell genug reagiert hatte und feuerte.

    Kieran und Vin warfen sich in verschiedene Richtungen auseinander. Im gleichen Moment brach über ihnen die Hölle los, als mehrere Männer aus einem auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkten Wagen ausstiegen und einer von ihnen mit einem Maschinengewehr den Laden zerlegte. Das Schaufensterglas zersprang, die Inneneinrichtung wurde in einem Hagel aus Splittern zerlegt und der überrascht aufschreiende Besitzer des Ladens von einer Geschossgarbe förmlich in zwei Hälften gerissen. Vin fluchte lautstark und robbte hastig hinter den Tresen, der dem Beschuss mit am besten standgehalten hatte. Als Kieran ihm folgte, bemerkte er die Blutspur, die der Andarier hinter sich herzog. „Lieutenant!“ Es bedurfte keiner weiteren Worte. Vin sah sich zu ihm um, erblickte die Blutspur und wusste was los war. Er wurde sich des warmen Gefühls an seiner Seite bewusst, tastete vorsichtig danach und verspürte einen heftigen Schmerz, als seine Finger die Wunde berührten. Er fluchte ein weiteres Mal, deutete in den einzigen Ausgang aus dem Laden und rief: „Laufen sie!“

    Das MG verstummte hinter ihnen und laute Schritte waren zu hören. Sie machten am Ende eines kurzen Flures halt und gingen rechts und links von einer Tür in Position. Kieran feuerte sein Magazin in den Durchgang hinein leer. Dann packte Vin ihm, drückte ihm die Ausweise in die Hand und sagte: „Sehen sie zu, dass sie hier wegkommen. Ich halte sie auf.“ Beide waren professionell genug sich nicht mit emotionalem Lamenti aufzuhalten. Kieran nickte und verschwand ins Treppenhaus. Vin griff unter seinen grauen Mantel und holte die Einzelteile seines Gewehrs hervor. Mit schnellen Handgriffen setzte er es zusammen, legte ein Magazin ein und lud durch. Leise Schritte verrieten ihm, dass mindestens zwei Gegner den Flur entlang kamen. Er atmete noch einmal tief durch und murmelte „Dann los, ihr Bastarde“. Das letzte, was Kieran noch von ihm hörte, waren Schreie, gefolgt von einem heftigen Schusswechsel und einer Explosion.

    Er rannte die Treppen hinauf bis aufs Dach. Die Häuser der alten Arbeitersiedlungen in dieser Gegend ließen oft nur genug Platz in den Gassen, um ein Fahrzeug hindurch zu lassen und die Höfe waren mit Hinterhäusern zugebaut. Auf dem Dach nahm er kräftig Anlauf und sprang auf das nächste Haus hinüber. Aus der Gasse unter ihm jagten ihm Schüsse mehrerer Soldaten entgegen, die die Hintertür des Gebäudes bewacht hatten. Einer streifte ihn und riss ihm eine tiefe Wunde in den Unterleib, die schmerzte und ihn bei der Landung taumeln ließ, so dass er fiel. Er schüttelte sich, gab sein bestes den Schmerz auszublenden, rappelte sich wieder auf und rannte um sein Leben. Die Hinterhäuser bildeten nicht nur Fluchtwege und Verstecke, sondern ein wahres Labyrinth. Wenn er seine Verfolger irgendwo abhängen konnte, dann hier. Er stürmte über Korridore, durch Wohnungen und über Dächer, überbrückte Abgründe mit gewaltigen Sprüngen, seine Verfolger immer knapp hinter sich. Dann tat sich plötzlich der Abgrund einer dicht befahrenen Hauptstraße vor ihm auf. Er hörte die Schritte der Soldaten hinter sich, die ihm über eine Feuerleiter nach oben folgten. Also schloss er die Augen und sprang ins Ungewisse. Er landete hart auf dem Blechdach eines alten Kleinbusses, das vom Aufprall eingedrückt wurde und von dem er beim Versuch sich abzurollen beinahe abrutschte. Es gelang ihm aber irgendwie sich festzuhalten, so dass der Wagen ihn noch einige hundert Meter in schlingernder Fahrt mitnahm, bevor sein Fahrer ihn zum stehen brachte und wütend gestikulierend ausstieg. Anstatt irgendwelche Diskussionen zu führen, schlug er den Mann kurzentschlossen k.o., stahl den Wagen und floh.

    Er erinnerte sich nicht mehr an alle Einzelheiten seiner Flucht, doch als er gut eine Stunde später die Augen wieder öffnete, lag er in einem weichen, mit roter Seite bezogenen Bett. Seine Wunden waren verbunden und er nahm ein süßliches Aroma in der Luft wahr. Er sah sich um und sein Blick fiel auf Fabiola. „Sie haben verdammtes Glück, Colonel“, meinte die Agentin. „Eines von Myrons Mädchen hat sie gefunden, wie sie durch Blutverlust halb bewusstlos einen Wagen in einen Laternenpfahl gelenkt haben. Sie hat sie hier her gebracht und uns alarmiert. Zehn Minuten später und auch Mithra (Anm. d. Autors: Der Arzt des Agententeams) hätte nichts mehr für sie tun können. Was ist passiert?“ „Überfall.“ Mehr als ein leises Flüstern brachte er nicht zu Stande. „Quinn.“ „Und was ist mit Thartus?“ Er schüttelte den Kopf und murmelte: „Hat mir den Rücken... Ausweise. Meine Tasche.“ Sie sah sich um und entdeckte seine Blutdurchtränkte Kleidung auf einem Haufen am Fuße des Bettes liegen. Man hatte sie später wegwerfen wollen. Sie durchsuchte die Taschen und fand die unversehrten Dokumente in einer Innentasche des Pullovers. Sie drückte noch einmal seine Hand und meinte: „Ruhen sie sich aus. Ich spreche mit den anderen.“

    Zwei Tage später war es soweit. Sie hatten Vin betrauert, ihre Vorbereitungen abgeschlossen und sich im Schutze der Nacht wieder aus der Zone herausgestohlen. Am frühen Vormittag beobachteten Kieran, Ahriman und Dinier nun von einem Straßencafé aus den Platz des Verteidigungsministeriums. Der monumentale Backsteinbau lag von Grünstreifen gesäumt inmitten der Stadt nahe des Flusses. Noch lag der Platz völlig ruhig dar. Nur einige Passanten querten ihn und Schwärme kleiner Vögel machten sich über alles her, was ihnen auch nur ansatzweise essbar erschien. Die Postenkette um das Ministerium herum stand mit stoischer Mine, doch gelangweilt im Schatten einiger Bäume, den Blick ständig geradeaus gerichtet. Ein Tag wie jeder andere. „Ihr Plan geht nach hinten los“, murrte Ahriman. Dinier schüttelte den Kopf. „Geduld. Ich hab die Flugblätter gesehen. Die Zeit war knapp, ja, aber die Sache ist schon ins Rollen gekommen. Und nach Quinns Tod und den ganzen Problemen, die ihr Freund ihnen in den letzten Tagen bereitet hat werden sie so etwas keine Beachtung geschenkt haben.“

    Gut eine Stunde verstrich noch, bis aus einer auf den Platz einmündenden Straße Gesänge, Musik und die Stimmen tausender Menschen zu hören waren. Dinier schmunzelte und trank seinen Kaffee aus. „Na, was habe ich ihnen gesagt. Die Spende an die Friedensbewegung hat sich gelohnt.“ Als wäre das ihr Stichwort gewesen, tauchte eine große Menschenmenge mit Plaketen auf. Sie sangen ihre Lieder, skandierten Parolen wie „Nie wieder“, „Frieden für die Welt“, oder „Krieg ist Mord“ und hielten ein gewaltiges Plakat, auf dem Stand: In Erinnerung an die 9 Millionen Toten des Nordlandfeldzuges, Opfer des größten Verbrechens der Geschichte. Es dauerte keine fünf Minuten, bis die Wachmannschaft des Ministeriums reagierte. Einige hundert Soldaten nahmen zwischen den Demonstranten und dem Ministerium Aufstellung, bildeten eine Phalanx aus Gewehren und Bajonetten. Dinier gab seinen beiden Begleitern einen Wink und meinte: „Zeit zum umziehen.“

    Sie gingen in eine nahe Tiefgarage, wo ihr Wagen wartete und legten Rüstungen und Unifprmen an. Während Ahriman sein Tarngerät und einige Sprengladungen in seiner Tasche verstaute, aktivierte Dinier das Kommunikationsgerät zur Erde. „Abrahms, hören sie mich?“ „Die Verbindung ist gut, Monsieur le Colonel.“ „Gut. Wir gehen jetzt rein. Wenn sie an irgendwelche Götter glauben beten sie für uns.“ Er sah zu Kieran. Der Kelownaner war immer noch recht schwach auf den Beinen und blass im Gesicht. „Meinen sie, dass sie das schaffen?“ „Spielt keine Rolle. Ich muss.“ Sie fuhren los. Ihr Wagen war wie ein Fahrzeug aus dem Fuhrpark der Armee lackiert und trug entsprechende Nummernschilder, die Diniers Leute einige Monate zuvor bei einem Überfall erbeutet hatten und die hier ihren Zweck erfüllten. Kurz vor dem Ministerium versperrte die Masse ihnen den Weg. Ihr Wagen wurde mit Blumen beworfen, man sang ihnen Friedensparolen vor und einige langhaarige Gestalten hatten sich in einem Trommelkreis vor ihnen auf die Straße gesetzt. Dinier hupte und fuhr langsam weiter. Dann wurde die Straße von Soldaten geräumt.

    Am Haupttor stand ein leicht überfordert wirkender Unteroffizier am Wachhäuschen und telefonierte mit einem Vorgesetzten. Ein kurzer Blick auf das Fahrzeug reichte ihm, um es an den Schlagbaum heranzuwinken. Er legte den Hörer zur Seite und trat an das Fenster des Fahrersitzes. „Gibt es Probleme, Corporal?“, fragte Kieran, als Colonel eindeutig der ranghöchste im Wagen. „Nein, Sir“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Wir haben alles unter Kontrolle und warten auf den Befehl den Platz zu räumen.“ Er sah in Richtung der Demonstranten. Abscheu und Verachtung standen ihm ins Gesicht geschrieben. „Wir werden diesen stinkenden, langhaarigen Feiglingen eine Lektion erteilen.“ Kieran nickte. „Gut so. Zeigen sie es dem Dissidentenpack.“ „Das werden wir. Ihre Ausweise bitte.“ Alle drei reichten ihm ihre Ausweisdokumente, die er mit ihren Gesichtern abglich. Als der dann ein Lesegerät aus der Tasche zog und einen Soldaten heranwinkte, der den Strichcode auf dem Nummernschild einlesen sollte, flog aus der Menge auf einmal ein stinkender Farbbeutel auf den Wagen. Der Kopf des Unteroffiziers fuhr so schnell wütend herum, dass ihm sein Schiffchen beinahe vom Hinterkopf flog. Er gab die Ausweise zurück und sagte: „Fahren sie rein.“ Er ließ vom Wagen ab und signalisierte den Schlagbaum zu öffnen. Als sie den Wagen auf einem der Parkplätze auf einem Innenhof abstellten, sagte Kieran: „So weit so gut. Wir müssen ins vierte Untergeschoss des Gebäudekerns. Ahriman, sie wissen was sie zu tun haben?“ Er klopfte auf die Tasche mit den Sprengsätzen und Rauchgranaten. „Es werde schon ordentlich für Chaos sorgen.“

    Sie betraten das Gebäude und trennten sich. Ahriman nahm den Korridor in Richtung der Büros der Heereslogistik und der Wachstuben, Kieran und Dinier den Hauptkorridor direkt in Richtung des Hauptflügels. Zweimal mussten sie durch Metalldetektoren, und mussten ihre Pistolen abgeben, kamen aber darüber hinaus mit einfachen Gesichtskontrollen davon. Sie ließen die mit Aufzüge links liegen und nahmen das zentrale Treppenhaus der Wartungsebene, um nach unten zu gelangen. Die Treppe war kaum breit genug für einen einzelnen kräftigen Mann und die Decke so niedrig, dass Dinier die ganze Zeit reflexartig den Kopf einzog, um nicht gegen die offen liegenden Leitungen und Kabelbahnen zu stoßen. Dafür standen die Chancen hier nicht mit irgendjemandem zusammenzustoßen erfreulich gering und sie kamen ohne viel aufhebens an ihr Ziel: 4. Untergeschoss.

    Valis Hale stürmte in die Überwachungszentrale des Wachbataillons, packte den kommandierenden Offizier beim Kragen und fuhr ihn an: „Lieutenant-Colonel, warum ist dieser Tumult da draußen noch nicht aufgelöst worden?“ Der Mann streifte seine Hände mit einer ruppigen Bewegung ab und antwortete seinerseits mit einer Frage: „Wer sind sie, Zivilist? Wie sind sie durch die Türkontrolle gekommen.“ „Ersparen sie mir das Gerede, sie Blitzmerker. Ich bin Mitarbeiter der Staatssicherheit und stehe mit meiner Geheimhaltungsstufe so weit über ihnen, dass sie mich nicht einmal mit einer Leiter beobachten könnten. Ich will dass dieser Aufhur beendet wird. Jagen sie diesen Mob vom Platz.“ Der Offizier schüttelte den Kopf. „Ginge es nach mir, ich würde jeden einzelnen dieser Verräter an Vaterland und Tradition an die Wand stellen, aber die Dienstvorschriften bezüglich Zivilisten sind eindeutig. Ich darf nicht in Aktion treten, solange ich keinen präsidialen Befehl habe oder die Sicherheit dieser Anlage direkt bedroht ist.“ „Sie ist es!“ „Ich denke sie reagieren über“, vernahm er eine Stimme hinter sich. General Velis, der ihm in sehr viel gesetzterem Schritt gefolgt war, stand in der Tür. Der Colonel salutierte sofort zackig vor ihm und sagte: „General, wie wünschen sie dass ich in dieser Sache verfahre?“ „Halten sie sich an die Vorschriften. Hale, das ist eine ganz banale Demonstration irgendwelcher Schwachköpfe, die nicht wahr haben wollen, das unser Land nur auf dem Schlachtfeld zu dem werden konnte, was es ist und glauben jedes Problem mit Reden lösen zu können. Wir erleben so etwas immer wieder.“

    „Ja. Aber in den zwölf Jahren seit der ersten großen Friedensdemonstration hat es noch nie eine Aktion zum Jahrestag des Nordlandfeldzuges gegeben. Egal wie viele Tote es gegeben hat, es ist der stupideste vorstellbare Anlass. Und ausgerechnet diese Kundgebung findet gerade jetzt statt. Falls es ihnen nicht aufgefallen ist, jeder im Gebäude spricht darüber. Es gibt keine bessere Ablenkung.“ In diesem Moment sah man auf den Bildern der Außenkameras einige kleinere Explosionen mit grellen Blitzen, viel Rauchentwicklung und lautem Knallen, das durch die Funkgeräte der Wachmannschaft bis an die Lautsprecher in diesem Raum drang. Einige der Soldaten in der Kette warfen sich hin und brachten ihre Gewehre in Anschlag, doch der Colonel reagierte sofort und griff zum Mikrophon: „Nicht schießen. Ich wiederhole: Nicht schießen. Das sind nur Feuerwerkskörper.“ „Sehen sie“, fragte Hale den General. „Diese Demonstration, geradewegs in einer Phase, in denen wir Sicherheitsbrüche im Netzwerk und Terroristen in der Stadt haben! Die sind dabei ins Gebäude einzudringen.“ „Dafür bräuchten sie gültige Pässe, Uniformen, müssten das Prozedere kennen um sich nicht zu verraten...“ „Denken sie, dass das irgendeinen Hinderungsgrund für Leute darstellt, die unsere Sicherheit derart manipulieren können?“ Er vergrub das Gesicht kurz in den Händen und dachte nach. Dann meinte er: „Die sind hinter den Servern her.“ Hastig und mit leicht watschelndem Gang verließ er den Raum wieder und forderte einige Soldaten der angrenzenden Wachräume auf ihm zu folgen.

    Kieran und Dinier standen vor der Sicherheitsschleuse, die den Zugang zu den Serverräumen versperrte. Der Andarianer sah sah seinen Mitstreiter fragend an. Der nickte und sagte: „Los, keine Zeit zu verschwenden.“ Mit einem Ruck schob er die Karte in das Lesegerät. Eine Diode daran blinkte, während die Daten abgerufen wurden. Dann öffnete sich das Okkular eines Irisscanners, dessen Technologie definitiv alles überstieg was er bisher an kelownanischer Sicherheitstech gesehen hatte. Ein weiteres Gerät, so vermutete er, das der Senat seinen guten Kunden von Langara verkauft hatte. In seinem rechten Auge trug er eine Variante der Haftgläser, in die sie die Iris jenes Offiziers eingearbeitet hatten, dessen Ausweis er in gewisser Weise gerade benutzte. Er legte das Auge davor und seine Wahrnehmung verschwamm, als das Gerät aktiv wurde. Während der Scanner arbeitete, kam ein Offizier aus den schriftlichen Archive auf dieser Ebene. Er sah nur kurz in ihre Richtung, stutze aber und drehte sich hastig wieder um, als er Kieran sah, der einen Ausweis mit anderem Namen und Bandschnallen, an denen seine wichtigsten Auszeichnungen fehlten, trug. „Colonel Kieran, waru...“ Ihm dämmerte was los war und er brüllte lauthals „Alarm“, wurde aber im Wort von Kieran erstickt, der ihn mit der Schulter rammte und zu Boden schleuderte. In einer schnellen, flüssigen Bewegung kniete er auf ihm, packte seinen Kopf und brach ihm das Genick. „Verdammt“, fluchte Kieran, „mit diesem Mann habe ich Nächte lang Karten gespielt.“ Der Schrei war laut genug gewesen die Archivare zu alarmieren. Einer steckte seinen Kopf durch die Tür und sah den mit verdrehtem Genick am Boden liegenden Toten, den Kieran gerade aus dem Flur schleifen wollte. So schnell wie er aufgetaucht war, war er wieder weg. Wenige Augenblicke später gingen Alarmsirenen los und ein rotes Rundumlicht flammte auf. Im gleichen Moment öffnete die Schleuse sich vor ihnen. Dinier aktivierte das Kommunikationsgerät erneut und gab durch: „Abrams, wir sind aufgeflogen. Verschaffen sie uns etwas Luft.“ „Ich bin dran.“

    In der Überwachungszentrale froren plötzlich die Bildschirme eines Dutzends Computer ein und beinahe jeder Alarm im Gebäude wurde ausgelöst. Alle fernlenkbaren Türen wurden entriegelt, alle Aufzüge blockiert und die Überwachungskameras begannen sich in erratischer Weise ein- und abzuschalten. Der Colonel und General Velis sahen sich erschrocken um. „Ich hatte doch angeordnet eine neue Verschlüsselung auf alle Systeme aufzuspielen!“, brüllte der General wütend. „Das ist auch passiert“, verteidigte der Colonel sich. „Wir sind erst vorgestern von 2 auf 6 Bit gegangen. Die Techniker waren sich einig, dass das so etwas nicht in unter 10 Jahren zu knacken sei.“ (Heute moderne Verschlüsselungen arbeiten mit 128 oder 256 Bit, Anm. d. Autors) Er trat an einen der wenigen Bildschirme, die nicht eingefroren waren oder Datenmüll anzeigten und tippte hastig Befehle ein. „Ich habe keine Kontrolle mehr über die Gebäudesicherheit. Alles spielt verrückt.“ Er wandte sich dem General zu. „Sir, bitte um die Erlaubnis den Platz zu räumen und das Gebäude umstellen zu lassen.“ „Reden sie nicht, machen sie.“ Er nickte grimmig und griff zu seinem Funkgerät. „Achtung Wachbataillon, hier Lieutenant-Colonel Jirar. Exerzierplatz sofort räumen und Gebäude manuell abriegeln...“

    Auf dem Vorplatz gab ein Lieutenant in den Linien der Soldaten einen Wink und die erste Reihe setzte sich mit aufgepflanztem Bajonett in Bewegung, während er in ein Megaphon brüllte: „Räumen sie augenblicklich den Platz. Ich wiederhole: Verlassen sie den Platz sofort. Sollte dieser Aufforderung nicht nachgekommen werden, wenden wir Gewalt an.“ Einige Demonstranten gingen, doch andere blieben ruhig sitzen oder reihten sich in eine Menschenkette ein, die sich den Soldaten in den Weg stellte. Der Lieutenant ließ seine Leute innehalten und die Waffen in Anschlag nehmen. Weitere Demonstranten suchten verunsichert das weite, doch Hunderte blieben stehen. Eine junge Frau schob sich vor die Reihe und steckte einigen der Soldaten mit einem breiten Lächeln Blumen in die Mündungen ihrer Gewehre. Sekunden später gab der Lieutenant den Feuerbefehl.

    Im vierten Untergeschoss betraten Dinier und Kieran den ersten der großen Serverräume. Waren ihm die Anlagen im Back-up-Rechenzentrum schon groß vorgekommen, waren die Schutzräume hier gewaltig. Hunderte, wenn nicht an die Tausend Serverschränke standen in mehreren Räumen in langen Reihen beeinander. Es schien kein Ende zu nehmen. Es war das Herz des Netzwerks, das Nervenzentrum, das es Kelowna erlaubte seine Truppen rund um den Globus binnen weniger Sekunden zu koordinieren, große Offensiven in einem Lidschlag einzuleiten, Informationen beinahe in Echtzeit abzugleichen. Das Werkzeug ihrer Dominanz. „Wir sind drin“, gab er Philipe durch. „Wo soll ich hin?“ „Suchen sie ein Terminal und folgen sie meinen Anweisungen. Suchen sie die Eingabezeile und tippen sie folgendes ein...“ „Ich hab hier auch eine Maus.“ „Oh, Zut! Graphische Benutzeroberflächen sind nur was für Leute, die nicht mit einer Tastatur umgehen können. Und jetzt machen sein was ich sage.“ Der Tau'ri dirigierte ihn mit knappen, präzisen Anweisungen durch die Programme. Unter den Daten, die sie in der vermeindlichen Pumpstation erbeutet hatten, war ein kompletter Datenkatalog gewesen, in dem das System der Dateinamen nach erstellender Behörde, Datum und Inhalt aufgeschlüsselt war. Es dauerte gut drei Minuten, in denen Kieran sich schon erste Schusswechsel mit Wachen lieferte, die gesuchten Daten zu finden. Ein Blick in die Dateien ließ sein Herz höher schlagen. Alles was sie wissen mussten stand dort. Er ließ sich die Schritte erklären, um den beinhaltenden Datenträger zu finden, suchte den entsprechenden Serverschrank und riss die Festplatte heraus.

    Mit der Festplatte unter dem Arm lief er zu Kieran zurück und rief: „Verschwinden wir!“ Gleichzeitig gab er Ahriman sein Signal. Kieran warf ihm eine Pistole zu, die er einem toten Soldaten abgenommen hatte. Gemeinsam schossen sie sich den Weg frei. Auf halber Treppe zurück zum Erdgeschoss liefen sie in eine Gruppe von Soldaten. Dinier packte die Waffe des ersten und zog ihn die Stufen hinab gegen Kieran, der ihm den Garaus machte. Gleichzeitig warf er sich gegen den nächsten, dem er sein Messer entwinden und gegen ihn richten konnte. Er warf die Leiche die Enge Treppe hinauf gegen den Nächsten und duckte sich, um Kieran ein Schussfeld frei zu machen. Der fällte den letzten Mann. Nur noch einer stand vor ihnen. Valis Hale, dem die Todesangst ins Gesicht geschrieben stand und der mit fleischigen Fingern am Verschluss einer Maschinenpistole nestelte. Dinier ging mit todernster Mine auf ihn zu. „Es ist vorbei. Ich sollte sie hier und jetzt erledigen und für Gerechtigkeit sorgen. Aber ich werde leben lassen, damit sie ihre schöne Welt zusammenbrechen sehen können.“ Mit diesen Worten entriss er ihm die MP und schlug ihn nieder.

    Auf den letzten Stufen der Treppe konnten sie weiter oben eine Reihe von Explosionen hören. Ahriman war aktiv geworden. Angestellte und Soldaten liefen auf den Fluren wie wild durcheinander und schenkten ihnen zuerst keine Beachtung. Rauch und beißender Pulverdampf lagen in der Luft. Es herrschte blankes Chaos. Erst als sie den ersten Kontrollpunkt erreichten, richtete ein Soldat seine Waffe auf sie und forderte sie auf stehen zu bleiben. Dinier schoss ihn über den Haufen und beschleunigte seine Schritte, Kieran keine vier Meter hinter sich. Sie kämpften sich durch die Flure. In keinem Schusswechsel durchdrang auch nur eine Kugel ihre Faserpanzer. In der zur Flussterrasse hin geöffneten Eingangsterrasse sahen sie sich jedoch auf einmal einer größeren Gruppe Soldaten in voller Schutzkleidung gegenüber, die die Ausgänge blockierten. In einem heftigen Schusswechsel fällten sie drei von ihnen, fanden sich aber an ihrer Position festgenagelt. Als sie schon Schritte und Rufe von hinten hörten, tauchte eine Granate wie aus dem Nichts auf und rollte ihren Gegnern vor die Füße. Praktisch gleichzeitig mit der Explosion wurde einer von einer gut gezielten MP-Salve niedergestreckt und einem anderen wurde von unsichtbarer Hand ein Messer in den Nacken gerammt. Ein dritter und ein vierter fielen, bevor einer von ihnen reagieren konnte. Zwei der überlebenden sahen sich erschrocken um, stellten sich Rücken an Rücken und suchten nach einem Ziel. Einer bemerkte auf einmal den heißen Lauf einer Waffe direkt auf seiner Stirn. Es war das letzte, was er spüren sollte. Die Kugel zerriss seinen Hinterkopf und ließ seine Leiche gegen seinen Kameraden kippen, der sich im nächsten Augenblick zu Boden geworfen fand. Während Ahriman sein Magazin aus nächster Nähe auf ihn leerte, ergriffen Kieran und Dinier wieder die Initiative. Sie erledigten die letzten beiden Schützen und verließen ihre Deckung. Dinier nickte in die Richtung, in der er Ahriman vermutete und sagte: „Ganz normaler Arbeitstag.“, erklang die Antwort genau hinter ihm. Er deutete in Richtung des Ausgangs. „Verschwinden wir.“

    Die Lage vor dem Gebäude war nicht weniger chaotisch, als im Inneren. Männer des Wachbataillons liefen durcheinander und versuchten einen Absperrung aufzubauen. Doch die drei Flüchtigen hatten nicht vor über Land zu entkommen. Mit heulenden Motoren brauste ein Schnellboot über den Fluss heran. Am Steuer stand Mallic mit fliegendem grauen Mantel. Kilian lag mit seinem Präzisionsgewehr auf dem Bug und drei andere Soldaten standen mit Maschinengewehren im Heck. Mallic steuerte das Boot dicht an die Kaimauer heran und verlangsamte die Fahrt, während die Schützen das Feuer auf jedes sich bietende Ziel am Ufer eröffneten. Die drei Männer sprangen auf und das Boot beschleunigte wieder. Sie fuhren gut zwei Meilen flussabwärts, auf denen sich ihnen auf den letzten hundert Metern Boote der Wasserschutzpolizei an die Versen hefteten. Plötzlich tauchte neben ihnen aber die offene Tür des Frachtschiffes auf. Mallic steuerte das Boot auf eine Biegung im Fluss zu, um aus dem Sichtfelt der Polizei zu entkommen, dann sprangen sie alle auf das getarnte Schiff auf.

    Einige Stunden später hatten sie Kelowna weit hinter sich gelassen und waren auf einer Lichtung unweit Cyrene nieder gegangen. Dinier saß auf einem umgestürzten Baumstamm und beobachtete, wie seine Leute in einem Kreis beieinander standen und ein Gebet für die in all den Jahren ihres Kampfes gestorbenen sprachen. Es war nicht seine Art sich derart von seinen Leuten abzusondern, doch er teilte ihren Glauben nicht und hätte es aus falsch empfunden ihre Gebete mitzusprechen, ebenso wie wahrscheinlich keinem von ihnen die Rituale des Feuertempels oder ein Bittgebet an die Sterne um Licht auf der Wanderschaft durch die ewige Nacht etwas bedeutet hätten. Nachdem sie die Daten eingesehen und erkannt hatten was ihnen hier in die Hände gefallen war, hatte er für einen Moment ein Gefühl des Triumphs, aber auch der Leere empfunden. In seinem tiefsten Inneren, so hatte er sich eingestehen müssen, hatte er nicht mehr an einen Erfolg geglaubt. Nun arbeitete es hinter seiner Stirn, während er über Wege nachdachte, wie er die Taten der kelownaner Regierung vor aller Welt publik machen konnte. Ihnen war nicht nur in die Hände gefallen, was sie gesucht hatten, sondern noch bedeutend mehr schmutzige Geheimnisse, die eine Regierung zu Fall bringen konnten. Und genau damit kam eine Verantwortung, derer er sich bis dato nicht bewusst gewesen war, konnten diese Daten doch sehr viel Schaden anrichten.

    Während er noch grübelte, kam Fabiola auf ihn zu. Sie setzte sich neben ihn und sagte: „Ich muss mich bei ihnen entschuldigen. Ich hatte zuerst nicht geglaubt, dass ihr Plan funktionieren könnte. Der Einsatz kam mir sehr hoch vor.“ „Kein Grund sich zu entschuldigen. Keine Frage, es war riskant.“ Sie nickte. „Wir werden uns morgen auf den Rückweg machen. Es ist ein langer Flug zur nächsten Senatswelt und wir müssen noch unsere Spuren verwischen.“ Sie reichte ihm die Hand. „Es war erfrischend mit ihnen zusammen zu arbeiten.“ Er sah sie mit ausdrucksloser Mine an. „Ich habe ihre Hilfe akzeptiert, weil ich sie gebraucht habe. Das heißt nicht, dass ich ihnen verzeihen kann, was sie meiner Heimat angetan haben.“ Sie sog scharf die Luft ein, entspannte sich dann aber und sagte: „Damit kann ich leben. Zumindest kann ich es verstehen. Und wir haben beide bekommen was wir wollen. Damit sind wir untereinander wohl quitt.“ „Soweit wir das jemals sein können.“ Sie nickte erneut und stand auf. „Wie ich schon sagte: Ich kann damit leben. Sollten sie und ihre Leute in naher Zukunft einen Job suchen, lassen sie es uns wissen. Die Union wird für Männer wie sie immer Verwendung haben.“

    Sie wandte sich ab und ging. Er blieb noch für einen Moment schweigend sitzen. Dann schaltete er das Mikro des Kommunikationsgeräts, das die ganze Zeit auf Senden gestanden hatte, ein und fragte: „Abrams?“ „Qui?“ „Was halten sie davon?“ „Wovon?“ „Von diesen Leuten.“ Er hörte ein leises Lachen. „Ich glaube, dass sie ein ehrliches Anliegen haben, auch wenn mir nicht ganz klar ist welches. Nach allem was man auf der Erde über sie weiß kann ich ihnen nicht vertrauen. Aber ehrlich gesagt wissen wir so gut wie nichts.“ „Also heißt es abwarten?“ „Abwarten und lernen. Eine bessere Lösung sehe ich nicht.“ Dinier seufzte und schwieg für einen Moment. Dann fragte er: „Wenn sie so wenig von denen halten, warum haben sie ihnen dann hier geholfen?“ „Mais, je vous en pries. Haben sie deren Technologie gesehen? Ich würde meinen Arm geben um mit so etwas arbeiten zu können.“ „Ich hatte eigentlich auf eine ehrliche Antwort gehofft.“ Fast eine Minute lang schwieg der Franzose betreten. Dann antwortete er schließlich: „Ich kannte ihr kleines Geheimnis. Während der Konferenz vor ein paar Monaten habe ich die Hauptstadt gescannt und unterirdische Laboratorien für Naquadriawaffen und Wohngebieten entdeckt. Als ich damit zu meinen Vorgesetzten wollte, hat ein Senator mich aufgehalten. Er erzählte mir davon, was während des Krieges passiert ist. Breitete alles vor mir aus. Aber er wusste auch Dinge über mich.“ „Was für Dinge?“

    „Ich war nicht immer Soldat, Colonel. Es ist mehr als zehn Jahre her, da wurde ich als Hacker angeheuert, als mein Land in einen Krieg verwickelt zu werden drohte. Ich sollte zusammen mit einigen anderen über die Computer des Gegners seine Kommunikation und seine Nuklearraketen lahmlegen. Es war ein toller Haufen, die besten Leute, die ich je getroffen habe. Aber der Gegner hatte einen, der besser war als wir alle. Ein echter Virtuose am Rechner. Irgendwann... Irgendwann habe ich dann einen Weg in ihr Netzwerk gefunden und ihn genutzt, um falsche Beweise zu platzieren, die seine Leute glauben machen mussten, er arbeite für uns.“ „Klingt als hätten sie getan was nötig war.“ „Non, so einfach kann ich es mir hier nicht machen. Ich wusste genau was passieren würde und es ging mir nicht um die Sicherheit meines Landes oder darum einen Krieg zu verhindern. Es war schon längst eine diplomatische Lösung in Sicht. Ich habe es einfach nicht ertragen. Er war so viel besser als ich. Ich habe ihn bewundert. Und genau dafür habe ich ihn getötet. Ich war es, der sein Todesurteil geschrieben hat, indem ich diese Daten platzierte. Es war die Eitelkeit eines dummen Halbstarken, der nicht akzeptieren wollte, dass jemand ihn in dem worin er am besten war ein solches Lehrgeld abverlangen könnte.“

    Wieder schwieg er einen Moment, bevor er weiter sprach: „Die Senatoren und ich, wir alle haben Leben genommen, ohne unseren Opfern eine Chance zu geben. Aber in diesem Vorhaben hoffte ich eine Chance zu finden Abbitte zu leisten. Ich will endlich nicht mehr davon träumen müssen, wie ich diese Zeilen in die Tasten haue, die einen Menschen zum Tod verdammen. Ich will zu meinen Freunden und meinem Ehemann ehrlich über meine Vergangenheit und meine Gefühle sein können.“ „Und haben sie gefunden wonach sie gesucht haben?“ „Ich weiß es nicht.“ Er lächelte und auch wenn Philipe es nicht sehen konnte, schwang in seiner Stimme doch eine gewisse Vertrautheit und Güte mit. „Sie sind nicht wie der Senat. Sie haben nicht versucht sich zu rechtfertigen und bereuen. Sie haben damals ein Leben genommen und nun geholfen viele tausend zu retten. Ich weiß nicht, ob es ihnen etwas bedeutet, aber in meinen Augen sind sie frei von Schuld.“ „Danke.“ „Möge die Sonne am Horizont ihnen den Weg in den Tag weisen, Abrams.“ Er schaltete die Verbindung ab und lehnte sich auf dem Stamm zurück, um die Sterne zu beobachten. Er hatte erkennen müssen, dass jene Philosophen, die die Macht der Veränderung bei der Masse sahen, unrecht hatten. Schon eine kleine Entscheidung konnte das Schicksal hunderter Welten beeinflussen. Und wenn dem so war, konnten sich auch die Sagen der Ahnen bewahrheiten: Schon einige entschlossene Seelen konnten die Welt aus den Angeln heben.
    Geändert von Protheus (25.03.2011 um 22:58 Uhr)
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    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

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  15. #50
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    Alter Falter! Wir sind ja von dir gewohnt das die Kapittel sehr umfangreich sind aber diesmal hast du dich selbst übertroffen. Da hat man echt was dran zu lesen!
    Wie immer super geschrieben und bis auf ein paar kleine Satzbaufehler ist nichts zu meckern (ein bischen was muß ja sein)
    Freu mich schon darauf wen es weiter geht.
    LG heiko

  16. #51
    Gehasst, Verdammt, Vergöttert Avatar von Colonel Maybourne
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    Ich frage mich, wann du mit deinen Kapiteln die 50 Seiten Marke knackst und ich zwei Stunden brauche, um es durch zulesen.
    Nichts desto trotz war es wieder sehr gut geworden und konnte mich hervorragend unterhalten, was auch an deinen Reichtum für Details liegt.

    Da fällt mir zum Beispiel die Szene ein, wo die Frau eine Blume auf das Gewehr steckt und darauf erschossen wird.
    Die Szene kam ja fast genauso in Watchman vor, der übrigens ein herausragender Film ist.

    Außerdem erinnert mich dieses Kelowna mit seiner Frömmigkeit an die USA, wo sie auch an Gott glauben und hinte rihrem Rücken alles ra**eln.

    Und die kleine Parallele zum Iran fiel mir ebenfalls auf, als du dieses Kleine Land gezeigt hast, wo der Herrscher gestürzt wurde.


    Habe mir gestern übrigens Salt angesehen und wenn du dir den Film ansehen solltest, die Rahmenhandlung könnte man auch bei deinen Story super einbauen.


    Bis dann.
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  17. #52
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
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    @Heiko_M: Danke für das Feedback. Ich tue mein bestes, um die Satzbaufehler zu eliminieren, aber wenn ich meine Storys im Laufe ihrer Entstehung immer wieder umschreibe, um die Formulierungen noch etwas flüssiger oder bissiger zu machen (natürlich alles nur im Interesse der Leser *hüstel*), schleicht sich so was beinahe zwangsläufig ein. Aber ich bin optimistisch, dass ich mich bessern werde.




    @Colonel Maybourne: 50 Seiten? Kommt sofort, gib mir einen Moment^^. Bei Lichte betrachtet hat ja auch dieses Kapitel schon seine 53 Seiten. Immerhin bilden diese beiden Teile auf dem Papier ein zusammenhängendes Kapitel. Aber auch egal.

    Auf jeden Fall besten Dank für die Einschätzung bzgl. der Handlung. Zentrales Ziel dieses Kapitel war es schließlich Langara auf prosaische Art etwas Seele einzuhauchen, was mir angesichts der Reaktionen auch gelungen zu sein scheint. Die Szene mit der Blume ist eine Anlehnung an ein berühmtes Bild aus den 70ern, wo die US-Nationalgarde mit Gewehr im Anschlag vor einer Hippie-Demonstration steht und ein Mädchen den Soldaten Blumen in die Gewehrläufe steckt. Damals haben die Soldaten nicht geschossen. Wenn die Szene in Watchmen ähnlich vorkommt, muss ich mir den Film wohl mal komplett ansehen. Ich kannte ihn bis jetzt nur in Auszügen.

    Ansonsten liegst du mit deinen Einschätzungen goldrichtig. Kelowna ist an die Vereinigten Staaten der Ära McCarthy und der Kommunistenhatz angelehnt, als das Land tiefer denn je im konservativen Mief versunken war. Ich würde nicht sagen, dass alle Amerikaner derart doppelzüngig sind, wie du es ihnen unterstellst, aber doch immerhin genug, um mich zu diesem literarischen Seitenhieb zu verleiten. Außerdem ist die Geschichte von Barez der des Iran entlehnt, wo England und die USA während des 20. Jahrhunderts zwei Mal interveniert haben, um sich die Kontrolle über die Bodenschätze zu sichern und schließlich mit Reza Pahlavi jemanden auf den Thron gesetzt haben, der das Volk direkt in die Arme der Religionsgelehrten getrieben hat, bevor sie dann Sadam Hussein auf das Land gehetzt haben. Eingedenkt meiner Vorlage für Kelowna, wie gesagt die USA der 50er und frühen 60er Jahre, konnte ich es mir nicht verkneifen die Kelos die selben Fehler machen zu lassen, wie damals die Amerikaner.

    Allerdings hat es auch ein paar Parallelen gegeben, die offenbar nicht so augenfällig waren. Aber vielleicht kommt ja noch jemand darauf. Und 'Salt' werde ich mir nicht ansehen, weil ich bis jetzt noch nie einen Actionfilm mit Angelina Jolie gesehen habe, der in Handlung oder schauspielerischer Leistung das Eintrittsgeld wert gewesen wäre (z.B. Wanted war einfach nur schwach).




    Ich würde mich allerdings auch über einige Stellungnahmen zu den auftretenden Charakteren hören. Dieses Mal wage ich keine Vorhersage über einen Zeitpunkt für das nächste Kapitel, verrate hiermit aber schon einmal, dass es sich um Systemlord Dumuzi und sein Sternenreich drehen wird.
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  18. Danke sagten:


  19. #53
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
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    Das hat mal wieder entschieden zu lang gedauert. Aber die Frühgeschichte der Goa'uld mit Inhalt zu füllen ist keine Sache von fünf Minuten und das Ergebnis ist es wert. Dieses Kapitel konzentriert sich auf Geschehnisse in Dumuzis Reich. Einigen Lesern wird sicher die Häufung arabisch klingender Namen und arabischer Kulturelemente auffallen. Das ist soweit absicht, dass Dumuzis Reich zwar ein absoluter Vielvölkerstaat ist, sein Hof auf An aber kulturell arabisch geprägt. Sollte sich unter den Lesern tatsächlich jemand finden, der des Arabischen mächtig ist oder etwas von der dortigen Kultur versteht, wird er wahrscheinlich bei den Namen, die übrigens alle etwas bedeuten, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und beim Rest nur selbigen Kopf schütteln. Ich bitte in diesem Punkt um Nachsicht, weil ich nicht mehr als ein Wörterbuch, einige populärwissenschaftliche Texte über den nahen Osten wärend der Kreuzzüge und einige Zeitungsartikel aus jüngerer Zeit zur Hand hatte .

    Ansonsten das übliche: Länge 32 Seiten. Viel Spaß beim Lesen, bleiben sie uns treu, empfehlen sie uns Weiter. Und für alle die sehnsüchtig darauf warten: Im nächsten Kapitel taucht Jules - wenn auch nur in einer Nebenrolle - wieder auf.



    Episode 10: Im Reich des Systemlords

    Der Abend hatte sich über das Land geneigt. Die letzten Schatten waren verschwunden und alles schien ins Dunkel hin gegangen. Der warme Wind, der sonst die Geräusche des Tages mit sich trug, hatte seine Richtung gewechselt und wehte von See her einen warmen, salzigen Hauch heran. Die meisten Räume im Ostflügel des weitläufigen Palastkomplexes, der vom Rücken eines von Mandelbäumen gesäumten Hügels das Land überragte, waren dunkel. Nur das schwache Licht, das durch die schmalen Öffnungen der zu feinen Ornamenten geschnitzten Gitterfenster nach Außen drang, verriet die Ruhelosigkeit des Fürsten, der dieses Haus bewohnte.

    Dumuzi saß im schwachen Schein einer Öllampe in eine Ecke seiner Gemächer gekauert und kämpfte gegen den Drang seine Augen zu schließen. Beinahe drei Monate ohne Schlaf ließen den Körper seines Wirts bei jedem Schritt beinahe zusammenbrechen und die bleierne Müdigkeit, die sich über seinen Geist gelegt hatte, wie ein dunkler Schleier, ließ jeden Muskel in seinem Körper schmerzen. In einem tiefen Winkel seines Bewusstseins war ihm klar, dass noch einige weitere Tage ohne Schlaf ihn töten würden, doch es war ihm einerlei. Mehr als den Tod fürchtete er die Bilder, die Erinnerungen und Gefühle, die aus aus seiner Erinnerung aufstiegen, sobald er die Augen schloss. Sie war tot. Er hatte es gewusst noch bevor eines seiner Schiffe einige versprengte Flüchtlinge ihres Volkes aufgegriffen und die Geschichte von ihnen erfahren hatte. Auf eine Weise, die er selbst nicht begriff, hatte er ihr Ende gespürt. Zuerst war es ihm wie ein Paradox erschienen, das ein Wesen ermordet worden sein sollte, dass er für unsterblich gehalten hatte. Dann, als er die Empfindung wirklich begriffen hatte, war er zusammen gebrochen. Es hatte für ihn nur noch unendliche Leere gegeben.

    Vielleicht war der Tod gar nicht das schlimme Schicksal, das die Systemlords immer gefürchtet hatten, ging es ihm zum wiederholten Male in den letzten Wochen durch den Kopf. Wenn es nichts mehr gab, wofür es sich zu Leben lohnte...

    Er führte die bauchige Kristallflasche in seiner rechten an die Lippen. Der darin enthaltene starke Schnaps brannte ihm auf der Zunge und im Rachen. Der vom Symbionten beschleunigte Stoffwechsel filterte Alkohol nahezu so schnell aus dem Blut eines Wirts heraus, wie man sich auf irgendeine vorstellbare Weise damit vergiften konnte, so dass es Goa'uld fast unmöglich war sich zu betrinken. Aber glücklicherweise bedeutete fast unmöglich nicht gänzlich unmöglich. Es bedurfte nur weniger Augenblicke für die Schlucke, die er genommen hatte, in seinem Körper zu wirken und seine Gedanken auf wohlige Art zu betäuben. Er verspürte einen wertvollen Moment trügerischer Ruhe, ließ den Kopf auf die Brust sinken und ließ seinen Gedanken freien lauf. Beschwingte Klänge drangen an sein Ohr – die schmeichelnden Melodien der Kitharas, gemischt mit dem hellen Klang der Schellen. Wenigstens konnte noch jemand auf dieser Welt fröhlich sein, ging es ihm voller Bitterkeit durch den Kopf. Er lauschte den Klängen einige Minuten lang. Dann stellte er die Flasche unsanft vor sich auf den Mosaikboden, drückte sich quälend langsam auf die Füße und wankte, sich bei jedem Schritt irgendwo festhaltend, aus dem Schlafgemach in sein Arbeitszimmer.

    Zwei der Kohlepfannen, die normalerweise Licht und Wärme spendeten, waren entzündet und leuchteten den Raum mit flackerndem Licht aus. An den Wänden reihten sich Regale voller Schriftrollen und Notizen aneinander und vor einer von mehreren großen Bogenfenstern durchbrochenen Wand, deren Öffnungen den Blick auf einen der Lustgärten des Palastes freigaben, stand ein großer hölzerner Schreibtisch. Einsam, verlassen und beiseite geschoben stand ein Computerterminal an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Er hatte es immer abgelehnt solche Krücken des Geistes zu nutzen und sich damit selbst mentale Ketten anzulegen, so dass es seit Jahrhunderten ungenutzt dort stand. Als er den Raum betrat, erfasste Unruhe einige der Nachtigallen, die in den Bäumen des Garten lebten. Eine von ihnen kam durch das Fenster hinein und ließ sich auf einen kleineren Tisch nahe der Tür nieder, auf den einer seiner Diener ein Tablett mit Essen gestellt hatte. Auffordernd sah der Vogel zuerst das Essen an, dann ihn und hüpfte unruhig hin und her. Nachdem er trotz eines kurzen Moments intensiven Nachdenkens keinen Grund finden konnte, wie ein voller Magen ihn von seinem Schmerz hätte abbringen können, schleppte er sich zum Tisch und setzte sich.

    Er nahm einen Bissen Brot und riss einige kleine Krümel davon ab, die er dem Vogel hinwarf. In den Palastgärten lebten keine gewöhnlichen Singvögel, sondern für ihre Art außergewöhnlich intelligente Tiere, die er vor einigen Jahrhunderten in einer Phase seines Lebens, in der sich er aus rückblickend für ihn völlig unverständlichen Gründen für Ornithologie hatte begeistern können, selbst gezüchtet hatte. Sie hatten schnell begriffen, dass bei ihm Futter abfiel, hatten aber auch gelernt sich nicht von selbst über Essen in diesem Raum herzumachen. Er beobachtete die Nachtigall, während sie gierig die Krümel aufpickte und tunkte das Brot in die mittlerweile erkaltete Suppe, eine stark gewürzte dicke Gemüsesuppe, die auf dem Tablett stand. Nach dem sechsten Bissen begann er ein leichtes Unwohlsein im Nacken zu verspüren. Er hielt im Kauen inne und betrachtete Brot und Suppe. Etwas... Wie konnte...?

    Das Gefühl begann sich immer schneller auf seinen ganzen Körper auszubreiten und gewann an Intensität, schlug in ziehenden Schmerz um, der ihn sogar vergessen ließ wie abgekämpft sein Körper war. Sein Gleichgewichtssinn und seine Koordination versagten endgültig und er rutschte vom Stuhl. Der Vogel flog wütend und irritiert zwitschernd auf, als Dumuzi hart und röchelnd auf dem Boden aufschlug. Alle seine Sinne begannen flirrend zu verschwimmen, seine Glieder zuckten und er war unfähig noch einen anderen klaren Gedanken zu fassen als diesen: Schmerz, unvorstellbarer Schmerz. Er kämpfte noch einige Momente lang, bis die Augen ihm nieder sanken und er das Bewusstsein verlor.

    Schlagartig öffneten sich seine Augen. Wie viel Zeit war vergangen? Minuten? Stunden? Die Suppe, die er bei seinem Sturz mit herunter gerissen hatte, war nicht eingetrocknet, ja nicht einmal richtig verlaufen. Es konnten nur wenige Augenblicke gewesen sein. Ein brennender Schmerz in seiner Brust schien mit jedem Herzschlag stärker zu werden und sein Kopf fühlte sich, als wolle er jeden Augenblick zerplatzen, als er versuchte ihn zu heben. Er ließ den Kopf zurück auf den Boden sinken und nahm sich einen Augenblick seine Gedanken zu ordnen. Er hatte vom Brot und von der Suppe gegessen. Gift? Ein starkes Gewürz konnte eine Menge übertünchen. Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf, er würde nicht einfach so abtreten. Seine Beine versagten ihm den Gehorsam, so dass er mit einem schmerzerfüllten Grollen die Arme nach vorne warf und irgendwie versuchte mit den Fingernägeln in den feinen Rillen zwischen den Mosaiksteinchen Halt zu finden. Als es ihm gelang zog er sich vorwärts, fünfzehn, zwanzig Meter durch einen kleinen Flur in einen Nebenraum. Jede Bewegung fiel ihm schwerer, doch dann erreichte er endlich das Bad. Das Becken war wie zu jeder Zeit mit Wasser gefüllt, das von Filtern in den Wänden ständig sauber gehalten wurde, so dass es bestes Trinkwasser war. Mit zittrigen Händen griff er in eine bronzene Schale voller Badesalz, die am Rand des Beckens stand, umklammerte irgendwie eine Faust voll der groben Körner und tauchte beide Hände ins Becken. Er schöpfte Wasser, das durch das Salz in seiner Hand trüb wurde, und trank gierig davon. Nur ein Bruchteil lief ihm in den Mund, so dass er gleich ein zweites Mal nach dem Salz greifen wollte, als sein Unterleib plötzlich von einem Zucken durchfahren wurde, dass sich die Speiseröhre hinauf zum Kehlkopf ausbreitete. Die Überreste der Mahlzeit stießen ihm in einem Schwall auf und landeten auf dem Boden vor ihm. Er wollte noch einen zweiten Schluck nehmen, um sicher zu gehen, brach dann aber erschöpft zusammen und blieb mit dem Gesicht im Erbrochenen liegen.

    Erste Strahlen der Morgensonne drangen bereits durch die Fenstergitter, als er wieder zu sich kam. Er spürte kräftige Hände, die ihn packten und vom Fußboden hochzogen, hörte besorgte Stimmen. Langsam schlug er die Augen auf und sah mit verschwommenem Blick zwei Wachmänner und eine Dienerin, die ängstlich die Hände vor dem Mund geballt hatte und knetete, während einer der Männer ihn hielt und der andere ihn offenbar ansprach. Mit der wenigen Kraft, die er aufzubringen vermochte, murmelte er mit der sanften Stimme eines Menschen: „Basir.“ Der Mann musste bis auf einen Finger breit an seinen Mund heran, um ihn verstehen zu können. Dann nickte er und rief der Dienerin in scharfem Tonfall etwas zu, während die beiden Männer ihn hochhoben und in sein Schlafgemach trugen.

    Keine Viertelstunde später lag er in Decken gewickelt und auf mehrere Kissen gebettet in seinem Gemach und sein Leibarzt Basir Hazen war an sein Bett geeilt. Der ergraute, rundliche Mann, dessen Wanst und Pausbacken seine ständigen Ermahnungen an seine Umwelt sich gesund zu ernähren ad absurdum führten, wirkte zerzaust. Seine Haare waren ungekämmt, seine Tunika schlecht gerichtet und er war offensichtlich aus dem Schlaf gerissen worden. Er redete in einem Fort, während er ihn untersuchte: „Ihr hattet großes Glück, edler Herr. Hätte die Küchendienerin euch nicht ein frisches Frühstück bringen wollen, wäre all das hier wahrscheinlich unbemerkt geblieben. Ich hoffe, dass euch das eine Lehre ist euren gesamten Hof aus euren Gemächern auszusperren und alle meine Ratschläge zu ignorieren.“ Hätte er die Kraft dazu gehabt, er hätte wahrscheinlich gelacht. Nur wenige Menschen brachten den Mut auf so mit ihrem Herrn, geschweige denn einem Goa'uld zu sprechen, was Unterredungen mit dem Arzt immer wieder zu einer erfrischenden Angelegenheit machte.

    Als er einen Scanner aus seiner Tasche holte und ihn zum Nacken seines Fürsten führen wollte, hob er abwehrend eine Hand und schob den Arm des Medicus von sich weg. „Das Essen“, meinte er. „Es muss etwas in der Suppe gewesen sein.“ Der Arzt blickte kurz mürrisch drein, steckte das Gerät dann aber weg und meinte: „Ich werde es untersuchen. Aber lasst mich euch wenigstens etwas zur Stärkung geben. Allein wenn ich schon euer eingefallenes Gesicht sehe...“ Er ließ sich Wasser aus einem der Brunnen der Räumlichkeiten bringen und begann mit Tiegeln, Bechern und Pulvern zu hantieren, die er aus seiner Tasche hervorzog. Während er beschäftigt war, klangen schnelle, harte Schritte aus dem Arbeitszimmer herüber. Ein hühnenhafter Mann mit sonnenverbrannter Haut erschien im Durchgang. Sein ernstes, selbst im Angesicht des sicher erscheinenden Todes unbewegtes Gesicht, rahmte durchdringende, tiefblaue Augen ein, deren Blick kein Mann lange stand zu halten vermochte und er trug den Mantel des Kommandanten der Junayd voller Stolz, der jeder seiner Bewegungen anzusehen war. Er blieb einige Schritte vor dem Bett stehen, deutete eine Verbeugung an und sagte: „Mein Herr, ich habe von den Wachen erfahren, was hier passiert ist. Ich hätte es verhindern müssen. Ich erbitte eure Vergebung.“

    „Und was erzählen die Wachen, Atanas?“ „Dass ein Giftanschlag auf euch verübt wurde.“ Er kniff die Augen zusammen. „Wie weit hat es sich schon herumgesprochen?“ „Nur unter den Wachen dieses Flügels. Aber es kann nicht lange dauern, bis...“ „Macht ihnen klar, dass sie kein Wort darüber verlieren dürfen.“ „Natürlich Herr“, antwortete der Hühne. „Herr, was mein Versagen betrifft...“ „...will ich kein weiteres Wort hören.“ Er winkte mit zittriger Hand ab. „Ihr habt es nie an Vorsicht mangeln lassen und niemand ist unfehlbar. Wichtig ist was jetzt vor uns liegt. Unterbindet allen Flugverkehr und aktiviert die planetaren Schilde. Der oder die Schuldigen dürfen keine Chance erhalten den Planeten zu verlassen. Wenn ihr nach Gründen gefragt werdet gebt an was immer ihr für sinnvoll haltet. Außerdem soll Haikon einige seiner Männer schicken, um diesen Gebäudeflügel zu bewachen und eine Vardin-Drohne soll in meinen Arbeitsräumen postiert werden.“ „Herr, die Junayd haben euch bisher noch nie enttäuscht, ihr...“ Er schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. „Ihr habt eure Befehle. Führt sie aus.“ Der Hühne schwieg für einen Moment. Seine Unterlippe zuckte, als brenne ihm eine Erwiderung auf der Zunge. Dann legte er nur zum Salut die rechte Hand auf die linke Schulter, verbeugte sich und war mit den Worten „Mein Herr“ wieder verschwunden.

    Der Arzt sah dem Heermeister noch einen Augenblick, in dem er mit einem feinhaarigen Pinsel eine Tinktur in einem silbernen Becher eifrig umrührte, hinterher, dann beugte er sich zu ihm vor, hielt ihm den Becher hin und sagte: „Trinkt, das wird euch gut tun.“ Er musste den Becher halten, damit er seinem Patienten nicht beim Trinken entglitt. Die Arznei darin war zähflüssig wie Honig und schmeckte beinahe ebenso süß, hatte aber eine etwas klinische Note, die ihn das Gesicht verziehen ließ. Da der resolute Mediziner ihm aber kaum eine andere Wahl ließ und schon mit einem zweiten Becher drohte, trank er jeden einzelnen Tropfen. Während dessen fragte Hazen: „Habt ihr Zweifel an ihm?“ „Atanas?“ Er wiegte den Kopf in Andeutung eines Kopfschüttelns von einer Seite auf die andere. „Seine Loyalität steht für mich außer Frage.“ „Warum lasst ihr ihn dann hinter den Sodanern zurücktreten?“ „Um meine Feinde hervorzulocken.“ Er richtete seinen Blick nach oben und starrte für einen Moment mit glasigem Ausdruck die Deckenfresken an. „Es ist alles ein delikates Spiel der Täuschung, in dem verlieren wird, wer zuerst sein Gesicht zeigt, Magister Hazen. Untersuchen sie die Reste des Abendessens. Sobald sie Ergebnisse haben schicke ich ihnen einen Vertrauten vorbei.“ Der Arzt nickte und packte sein Handwerkszeug wieder zusammen. „Wie werde ich ihn erkennen?“ „Er wird eingeweiht sein.“


    Einige Stunden später:

    Ein Mann schlenderte die vom warmen Licht der Morgensonne durchfluteten Pfade in den Obstgärten, die den Palast umgaben, entlang. Er hatte eine Kufiya, die nur seine braunen Augen frei ließ und deren schwarze Farbe der seines Mantels glich, nachlässig um seinen Kopf gewickelt. Immer wieder lüftete er sie kurz, wenn er Trauben von den Weinreben pflückte, die sich an den alten Bäumen emporrankten, und sie sich in den Mund schob. Während der Weg ihn weiter zum Heerlager am Fuße der Palasthügel führte, ließ er den Blick über das Land schweifen. Die von Felsen durchsetzten Hügelketten, auf denen die Paläste lagen, waren von tiefem Grün, blühende Grasflächen, die sich mit lichten Zedernwäldern oder Gärten abwechselten. Das Land verlor sich noch vor dem Horizont in einem blauen Ozean. Hätte er die Augen geschlossen, nur den Geräuschen gelauscht, die Gerüche eingeatmet und sich das Gesicht von der Sonne wärmen lassen, wahrscheinlich hätte er sich in die jene ferne Heimat träumen können, an die ihn dieses Land so sehr erinnerte. Nur verbot die Aufgabe, die zu erfüllen er hier war, ihm jede Unkonzentriertheit.

    Trotzdem konnte er nicht anders, als daran zu denken. Er glaubte wieder die geschäftigen Straßen seiner Heimatstadt vor dem inneren Auge zu sehen, die brennende Hitze der Wüstensonne auf der Haut zu spüren, unter der sie ihn ausgesetzt hatten, um seine Fähigkeiten zu überleben zu testen, oder die fröhlichen Stimmen früherer Leben zu hören. Es waren glückliche Tage gewesen, selbst als er in er Wüste mit bloßen Händen Schlangen hatte jagen müssen, um nicht zu hungern. Er hatte eine Familie gehabt, Schwestern und Brüder. Und er hatte seine Geliebte als kleines Mädchen auf den Schultern zum Tempel getragen, ihr als alte Frau die Hand gehalten, sich an sie geschmiegt, als sie in der Blüte ihrer Schönheit gestanden hatte. Für alle Zeiten zusammen bleiben, Lebensalter durchleben, wieder und wieder. Er schüttelte den Kopf. Eine naive Vorstellung. War es überhaupt so passiert? Es konnte schwer genug sein zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Doch was sollte man tun, wenn verschiedene Realitäten aufeinander prallten?

    Lauter werdende Geräusche, in die sich die Stimmen zahlreicher Männer mischten, lenkten seine Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt, als er am Rand des Heerlagers ankam. Zwischen den Bäumen gelegen drängten sich Zelte, in denen hunderttausende Männer des Nachts Unterschlupf fanden. Es gab keine Städte auf An. Die kaum eine Million Bewohner dieser Welt lebten im Herrscherpalast und einige darum herum verstreuten Dörfern, einem Raumhafen und einigen wenigen Anwesen Dumuzi untergebener Fürsten, so dass man den Soldaten keine feste Unterkunft anbieten konnte, was diese Männer aber ohne zu klagen in Kauf nahmen.

    Er wanderte eine Weile durch das Lager, das für den Tag erwachte, und beobachtete die Männer bei ihren Verrichtungen. Viele drängelten sich an den Kanälen, die durch das Lager gelegt worden waren, und wuschen sich, andere waren noch beim morgendlichen Dauerlauf oder aßen. Ein Paar waren sogar schon zu dieser frühen Stunde mit Kampfübungen zu Gange. Er lehnte sich an einem mit Sand bedeckten Kampfplatz an einen hölzernen Ständer, über den einige Männer ihre Tuniken geworfen hatten und beobachtete die Kämpfer einer Einheit, die ihr tägliches Training bereits begonnen hatte. Unter den wachsamen Augen eines Offiziers fochten sie mit ihren Ma'Tok – Stabwaffen, wie Außenstehende sie oft nannten. Bei genauem hinsehen konnte man einen hellen Schimmer erahnen, der das vordere Ende der Waffen umgab. Es war ein Zeichen dafür, dass die Waffe an ihrer Spitze ein Energiefeld emittierte, das Gegnern schmerzhafte Schocks versetzte und ihr Nervensystem beeinträchtigte, um dem Soldaten so die Chance zu einem Todesstoß zu geben.

    Er beobachtete zwei Männer, die ihm recht nahe standen. Der eine, ein eher schmächtiger und drahtiger Bursche, an dessen vernarbten Rücken man eine Vergangenheit als Sklave erkennen konnte, hatte sein Gegenüber, einen riesigen Kerl mit Armen dick wie Baumstämme, in der Defensive und trieb ihn Schritt um Schritt weiter zurück. Der Große hatte dutzende Blaue Flecken, die von harten Treffern zeugten und versuchte seinen Gegner auf Distanz zu halten, indem er mit bestialischer Kraft, aber viel zu unbeholfen in dessen Richtung drosch. Der andere wich jedem Schlag leichtfüßig aus und stieß seinerseits immer wieder vor und zwang den Riesen zur Parade. Dann, als er einen günstigen Moment gekommen sah, sprang er auf ihn zu und holte in der Luft zu einem mächtigen Hieb aus. Der Große grinste siegesgewiss und schwang seine eigene Waffe in Richtung des anderen, der im Sprung nicht ausweichen konnte, der schlug aber plötzlich mit seinem Übungsschild, dessen Energiefeld seinen linken Arm samt Schulter bedeckte, gegen die Waffe, lenkte sie so ab und landete direkt vor seinem Kontrahenten. Bevor dieser seine Waffe auch nur in Andeutung einer Parade wieder zwischen sie hätte bringen oder mit der bloßen Hand zuschlagen können, trat er ihm mit solcher Wucht gegen das Schienbein, dass er das Gleichgewicht verlor, touchierte ihn voll mit dem Schockfeld, dass seine Augen für einen Sekundenbruchteil weiß aufleuchteten und rammte ihm dann das hintere Ende seiner Waffe gegen die Schläfe.

    Der Große fiel zu Boden. Ihr Beobachter glaubte die Erschütterung seines Aufpralls in den Füßen spüren zu können und schmunzelte, während ein Offizier herbeieilte, und den Ausgeknockten wieder auf die Beine brachte. In diesen Männern zeigte sich, wie die Kriegerkaste der Jaffa sich selbst hatte überleben können. Gewöhnlichen Menschen schon von Natur aus an Kraft und Ausdauer überlegen waren viele Jaffa ohne jedwedes Training in die Ränge der Goa'uld gepresst worden und hatten sich damit zufrieden gegeben mehr Schläger im Dienste ihrer Herren zu sein, als echte Krieger. Um halb verhungerte Sklaven einzuschüchtern oder eine gelegentliche Fehde zwischen zwei Lords auszufechten hatten sie es nicht nötig gehabt sich ausgefeilte Techniken anzueignen. Nur die größten unter ihnen hatten tatsächlich körperlich wie geistig an sich gearbeitet. Ihre Überlegenheit hatte sie dermaßen überheblich gemacht, dass sie alles verspielten, als die Macht erst einmal in ihren Händen lag.

    Die Menschen aber, die ihre Kräfte hier im Zweikampf maßen, hatten von frühester Kindheit an kämpfen müssen, um im Leben voran zu kommen und hatten lernen müssen, dass sie nie aufhören durften an ihren Fähigkeiten zu arbeiten. Sie waren Sklaven, Wegelagerer und Dreckfresser gewesen, bevor ihr Fürst gekommen war und sie zu Wächtern des Reiches erklärt hatte. Sie waren durch jeden Schlag, den das Schicksal ihnen in ihrem Leben beigebracht hatte, weiter abgehärtet worden, kannten Leid und Tod und hatten die Chance auf eine bessere Zukunft, die sich ihnen hier bot, mit Begeisterung empfangen. Sie waren die Junayd, die Besten des Reiches. Die Junayd hatten nichts mit den einfachen Kämpfern gemein, die das Reich auf hunderten Welten aushob, um lokale Unruhen niederzuschlagen, Handelsrouten zu schützen oder unbedeutende Feinde zu bekämpfen. Sie hatten sich mit jeder Faser ihres Seins dem Dienst an Herr und Reich verschrieben, waren exzessiv im Kampf von Angesicht zu Angesicht oder auf große Distanz, in Infiltrationstaktiken und vielem mehr geübt. Sie bekamen die modernste verfügbare Ausrüstung und wurden bei der Zuteilung des knappen Materials grundsätzlich bevorzugt. Es gab keine zwei Millionen von ihnen – bedachte man die Vielzahl der Konflikte, in die das Reich verwickelt war und die weiten Territorien, die es zu schützen galt, eine erschreckend geringe Zahl – doch sie brauchten keine Auseinandersetzung zu fürchten. Selbst den Tau'Ri hatten sie sich als ebenbürtig, wenn nicht sogar leicht überlegen erwiesen, wo immer sie bisher auf sie getroffen waren.

    Er verfolgte das Training der Soldaten noch eine Weile, dann ging er weiter zu einem Gebäude im nördlichen Teil des Lagers, wo er den Mann zu treffen hoffte, den er suchte. Das Arsenal des Lagers war eines der wenigen steinernen Gebäude im Heerlager. Mehrere kleine Nebentrakte waren um eine große zentrale Lagerhalle herum gruppiert. Sie enthielten Offizierswohnungen, Werkzeuglager, ein Lazarett und die Arbeitsräume des Khaliq, Lord Nazih. Dieser Ort barg mehr, als der erste Blick verriet. Hier schlug eines der stählernen Herzen, die das Reich am Leben hielten: Vierzig vollautomatische, adaptive Fertigungsstraßen, die tief im Erdreich unter dem Arsenal von automatischen Drohnen herbeigeschafte Erze aus dem Schoße des Planeten verarbeiteten. In der Halle selbst herrschte auf den ersten Blick Chaos, das sich erst bei genauem Hinsehen als fein ausgearbeitete Aufgabenteilung entpuppte. Dutzende Männer und Frauen liefen durcheinander, gaben Ausrüstung aus, verpackten Dinge für den Weitertransport, stapelten Kisten um oder bedienten die zwanzig Ringtransporter, die Tag und Nacht Material aus den Fabriken hinauf schafften. Ein Ameisenhaufen, ging es ihm durch den Kopf, kam dem nicht einmal nahe.

    Er ging mit hastigen, leicht eingeschüchterten Schritten durch die laute, schon zu dieser frühen Stunde stickigen Halle, in der dank der Transporter ständig ein beißender Ozongeruch in der Luft lag. Auf dem Innenhof bog er ab und ging zu Lord Nazihs Gemächern. Als er die schwere Tür aufstieß, die in die Eingangshalle führte, hörte er ein vertrautes Summen. Er sah sich um, schreckte aber obwohl er durch das Geräusch gewarnt war zurück, als plötzlich eine Gahlib-Drohne, die knapp unter der Decke geschwebt hatte, wie im freien Fall vor ihm nieder sank und auf Augenhöhe vor ihm in der Luft verharrte. Es war keiner jener primitiven Prototypen, die in den letzten Jahren Truppen im Fronteinsatz anvertraut worden waren, sondern eine der fortschrittlichsten existierenden kybernetischen Maschinen. Gut ein Dutzend Arme, die verschiedene Werkzeuge trugen zweigten sich von ihrer langgestreckten Gestalt ab und er konnte auf Anhieb noch einige weniger augenfällige Waffen ausmachen, als die schwere Plasmakanone unter dem schwarzen Maschinenauge, das ihn regungslos anstarrte. „Identifizieren sie sich und nennen sie ihre Absichten“, forderte die Drohne ihn auf. Er verneigte sich und sagte: „Ich bitte darum Lord Nazih sprechen zu dürfen. Ich komme im Auftrag Lord Dumuzis.“

    So absurd Höflichkeitsrituale gegenüber einer Maschine wirken mochten, so waren sie doch erstaunlicherweise von Bedeutung. Wie alle neueren Drohnen trug auch diese nicht etwa Kristalle oder primitive Siliziumchips, sondern das genetisch modifizierte Nervengewebe eines Goa'uld-Symbionten als Rechenkern, der über Subraumuplinks nahezu in Echtzeit mit allen anderen Drohnen auf dem Planeten verbunden war. Im Netzwerk konnten diese Biocomputer selbst derart komplexe Dinge, wie Verhalten und Mimik organischer Wesen in Sekundenbruchteilen mathematisch analysieren, Gefühlsregungen interpretieren und Absichten einschätzen. Die Drohne schwebte für einen kurzen Augenblick stumm vor ihm. Dann sagte sie: „Lord Nazih erwartet sie nicht.“ „Sag ihm Bescheid, dass ich hier bin. Er wird mich sehen wollen.“ Wieder verstrich kurze Zeit, bis die Maschine ihm schließlich sagte: „Lord Nazih wurde über ihre Präsenz informiert. Sie dürfen passieren.“

    Die Drohne schwebte wieder auf ihren Posten über der Tür. Der Mann atmete kaum merklich auf und erklomm mit raschen Schritten die Treppe zu Nazihs Räumen. Als er im Obergeschoss die Arbeitsräume des Goa'uld betrat, nahm die Luft einen Geruch von Reagenzien, bearbeitetem Metall und Kohlefeuern an. Vorsichtig, als bewege er sich durch feindliches Territorium, durchquerte er den ersten Raum und sah sich um. Er kannte einige Teile von Dumuzis und Nazihs gemeinsamer Geschichte – wahrscheinlich mehr als jeder andere – und wusste, dass zwischen ihnen etwas wie eine echte Freundschaft existierte, bekam beim Gedanken an ein Treffen mit dem Goa'uld aber trotzdem weiche Knie. Er fand sich in einem Raum wieder, in dem zahlreiche Computer, eine Werkbank und eine kalte Esse standen. Das Hologramm eines aktiven Rechners zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Rasch sah er sich noch einmal um, als befürchte er der Goa'uld könne jede Sekunde aus einer dunklen Ecke hervorspringen und laut „Buh!“ rufen. Dann besah er sich die Darstellung genauer. Es sah danach aus, als arbeite der Goa'uld an einer neuen Geschützart, die alte und unpräzise Plasmaartillerie auf Raumschiffen ersetzen sollte.

    Nazih zeichnete als Ingenieur nicht nur für die Gefechtsschilde, Sensoren und verbesserten Stabwaffen der Junayd verantwortlich, sondern auch die Drohnentechnologie oder die Horusgleiter und hatte seinen Teil zur Entwicklung der neuen Schlachtschiffe beigetragen. Dumuzi mochte ein gerissener Anführer und General sein, doch ohne Nazih wäre sein Reich nie mehr als eine Hand voll Planeten gewesen, dazu verdammt in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Nazihs brillanter technischer Verstand war die militärische Macht des Sternenreichs.

    Er hörte Stoff hinter sich rascheln und fuhr herum. Lord Nazih stand in der Tür und musterte ihn. Sein Blick mochte sogar freundlich sein, doch die Augen mit denen er seinen Besucher anstarrte, waren die eines Raubtiers. In den letzten Jahrzehnten, in denen er mit dem Studium und der Neuentwicklung von Technologie begonnen hatte, diente ihm ein Unas als Wirt, eine wahre Bestie von riesenhafter Gestalt und entsprechender Kraft. „Dumuzi hat dich geschickt?“, fragte er mit tiefer, grollender Stimme und machte einen Schritt vor, um das Hologramm mit seiner mächtigen Pranke zu verdecken. Der Fremde machte einen Schritt zurück, verneigte sich und sagte: „In gewisser Weise. Mein Name ist Saif-ul-Ahura.“ Nazihs Gesicht zuckte kurz, dann ließ er etwas vernehmen, das man für ein amüsiertes Schnauben halten könnte und sagte etwas in einer Sprache, die sein Gegenüber nicht verstand. Sein Schweigen schien die falsche Antwort gewesen zu sein, denn Nazih stieß plötzlich ein geradezu bösartiges Knurren aus. Seine Hand schnellte vor und packte den Mann an der Kehle. Er hielt ihn am ausgestreckten Arm hoch, während er verzweifelt versuchte mit aller Kraft die klauenbewehrten Finger aufzubiegen, die sich wie ein Schraubstock um seinen Hals geschlossen hatten.

    „Wer immer auch du bist, Mensch, du bist nicht ul-Ahura“, knurrte er sein Opfer an. Stumme Worte der Erklärung verließen die zugeschnürte Kehle des Mannes. Zuerst zappelte er wild. Dann aber nahm er in einem klaren Augenblick mit beiden Beinen Schwung und rammte dem Goa'uld-Unas beide mit Stahlkappen bewerten Stiefel in den Unterleib. Nazih zuckte leicht zusammen und stieß ein leises Stöhnen aus, ließ aber nicht los. Doch sein Griff lockerte sich für einen Augenblick so weit, dass der Mann sich befreien konnte. Er stürzte zu Boden, wo er auf die Seite gerollt liegen blieb und nach Atem rang. Bevor der nun sichtlich wütende Goa'uld ihn in der Luft zerreißen konnte, hob er abwehrend eine Hand und versuchte mit röchelnder Stimme zu erklären: „Ich weiß nicht alles über ihn, aber ich bin Saif-ul-Ahura.“ Nazih grollte, packte ihn und zog ihn wieder auf die Füße. Dann, als der Mann, der sich selbst Saif nannte, nur eine Handspannte von ihm entfernt hilflos in der Luft baumelte, stutze er auf einmal. Er legte den Kopf fragend zur Seite und riss ihm die Kufiya vom Gesicht. Als sein Blick auf die kantigen Gesichtszüge, die sandelholzfarbene Haut und die Augen, in denen gerade nur schiere Todesangst geschrieben stand, fiel, ließ er ihn los. „Ihr kennt unsere alten Späße nicht. Ihr seid nicht er“, murmelte er ungläubig. „Handelt ihr in Dumuzis Auftrag?“ Der Mensch, der einige Schritte auf Abstand gegangen war, sah ihn an und antwortete: „Nein. Aber in seinen Sinn. Man hat versucht ihn zu töten und ich bin hinter den Schuldigen her.“

    Einige Minuten später waren sie in einem mit Sitzkissen ausgelegten Raum, der Nazih zur Entspannung diente. Der Goa'uld saß auf einem der Kissen und atmete die süßlichen Dämpfe eines starken Brennkrauts ein, dass er in einer silbernen Handschale entzündet hatte. Der schwache Duft, der auch an der anderen Seite des Raumes noch Saifs Sinne kitzelte ließ vermuten, dass das Kraut wahrscheinlich stark genug war einen einfachen Menschen auf die Bretter zu schicken. Den Unas-Goa'uld jedoch beruhigte es offenkundig. „Es mag grausam klingen“, sagte er schließlich, „aber ich habe damit gerechnet, das so etwas passiert. Ich merke jeden Tag in Gesprächen mit Soldaten, wie die Moral sich verschlechtert und die Geier unter den Adeligen haben Blut gewittert. Dumuzi, er...“ „Er hat sich gehen lassen, wie ein wertloser Säufer“, fuhr Saif ihm ins Wort. „Treibt es nicht zu weit, Mensch.“ Saif breitete die Hände aus. „Warum? Er hat kein Monopol auf Verlust und Schmerz. Männer von Format stellen ihre Pflicht über ihre Trauer.“ Nazih schüttelte den mächtigen Kopf. „Sie waren dreißig Menschenleben zusammen. Ihr könnt nicht einmal annähernd begreifen, was das bedeutet.“

    Saif ging einige Schritte im Raum auf und ab, warf noch einmal einen Blick auf das kleine Gerät, das Nazih in der Mitte der Runde aufgestellt hatte, wie um sich noch einmal zu vergewissern, dass es auch aktiv war. Es sollte jede dem Goa'uld bekannte Abhörtechnologie nutzlos machen, so dass sie sich ungeniert austauschen konnten. „Mag sein“, antwortete er. „Was im Moment aber wichtiger ist, ist die Suche nach den Hintermännern. Magister Hazen erwartet mich in einigen Stunden. Ich hoffe, dass er mir etwas über das Gift sagen kann. Aber ich brauche Hilfe. Ihr habt ja bereits gemerkt, dass es mir am Wissen fehlt ul-Ahura glaubhaft darzustellen.“ Nazih kicherte. Es war ein scharrender Laut, als würde ein Messer über eine unebene Metallfläche geschabt. „Davon dass er vor 4500 Jahren gelebt hat ganz zu schweigen. Aber ich denke da lässt sich eine Legende finden.“

    Wenig später fand Saif sich auf einem der Kissen wieder, während Nazih ihm mit einem langen, scharfen Messer die Haare und den Bart stutzte und ihm dabei mehr über den Mann erzählte, dessen Namen er gewählt hatte. Saif-ul-Ahura und sein Begleiter Asher waren Söldner gewesen, die im Dienste verschiedener Systemlords gestanden hatten. Er war an vielen Höfen als kunstfertiger Schwertkämpfer in Erinnerung geblieben. So mancher großer Jaffa seiner Zeit hatte bei ihm gelernt. Saif lauschte den Erzählungen und strich mit der Hand über die Klinge, die in seinem Schoß lag. „Sie beide waren Saif und Asher, oder?“ „Gerade sie müssten das am besten wissen.“ „Es ist schwierig. Er schafft es manche Gedanken nicht zu teilen. Ich glaube er will Teile seines eigenen Lebens vergessen. Und ich muss im Moment so viel begreifen, dass ich nicht einmal weiß wer ich selbst bin.“ Langsam zog er das Schwert und betrachtete die Lichtspiegelungen in der blank polierten Klinge. „Ich kann hiermit nicht mal umgehen.“ „Doch. Ihr habt das Wissen dafür.“ Nazih legte das Messer beiseite und griff zu einem kleinen Tiegel mit Farbe nebst Pinsel. Während er mit ruhiger Hand einige Goa'uld-Symbole auf Saifs Wangen und Stirn auftrug, erzählte er: „Es waren damals unsere Namen. Wir hatten in einem Krieg auf der falschen Seite gestanden. Selbst An war verloren und wir mussten einen neuen Weg finden zu überleben. Wir haben Jahrtausende durchlebt, Mensch. Er und ich, wir haben Königreiche regiert, Armeen geführt, kurzlebige Zivilisationen aufsteigen und untergehen sehen. Aber manchmal mussten auch wir Lumpen tragen und uns in der Gosse mit Hunden um Abfälle von irgendjemandes Tisch streiten. Aber ich will es nicht missen. Die Systemlords lebten in einer Illusion der Unsterblichkeit, die der Sarkophag ihnen schenkte. Wenn man darauf verzichtet, sich klar macht, dass das Leben endlich ist, bekommt jeder Augenblick einen Wert.“

    Saif presste die Lippen zusammen und sah kurz nachdenklich ins Leere. Dann meinte er: „Ich sitze hier und höre mit Altersweisheiten einer Schlange an. Kommt euch der Gedanke nicht auch wenigstens ein bisschen absurd vor?“ Nazih knurrte wütend, ließ sich aber in seiner Arbeit nicht beirren. Als er schließlich fertig war, sagte er: „Was wollt ihr tun, wenn euch das Gift nicht zu den Tätern führt?“ „Ein Misserfolg war in meinen Plänen nie vorgesehen. Aber im Zweifelsfall werde ich mir einen anderen Ansatz suchen müssen.“ „Seid vorsichtig, Mensch. Solltet ihr versagen, werde ich meine Ablehnung des Sarkophags überdenken und mich noch einmal sehr genau mit euch unterhalten.“ Er erhob sich. „Wartet hier.“ Nazih verschwand im Nachbarraum. Saif lehnte sich indess ins Kissen zurück und schob sich etwas von dem Fleisch zwischen die Zähne, das der Goa'uld ihm hingestellt hatte. Er hatte bereits fünf Stücke des stark gewürzten und mürbe gekochten Fleisches vertilgt und sein Magen war voll, doch er verspürte immer noch Appetit. Was er jetzt doch für einen großen Topf Hummus geben würde...

    Er schloss die Augen, kaute genüsslich und gönnte sich einen Augenblick der Stille. Nach einigen Minuten kehrte Nazih zurück. Über dem Arm trug er einen Stapel frischer Kleidung und einige kleine Geräte. Er reichte alles Saif, der die Kleider bei Seite legte und die Geräte prüfend in der Hand drehte. Es waren ein wie eine Kugel aus mattem grauem Stahl anmutendes Kommunikationsgerät der Goa'uld und ein Tarngerät der Sodaner. Er begann seinen Mantel abzulegen und fragte: „Was ist mit einem Schutzschild?“ Nazih schüttelte den Kopf. „Nicht für euch. Ich habe keine Ahnung wie er auf jemanden in eurem Zustand wirken würde.“ Saif grinste spöttisch. Worte in einer kehlig und rau klingenden, schnellen Sprache kamen ihm über die Lippen. Nazih neigte den Kopf fragend. Saif bemerkte seinen irritierten Blick und fragte: „Was ist?“ „Was haben sie gerade gesagt?“ „Dass ich...“ Ihm wurde klar, dass er eine andere Sprache gesprochen hatte, die der andere nicht verstanden hatte. Er vergrub das Gesicht in den Händen und schlug sich ein Paar Mal mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. „Verdammt, was ist los mit mir?“ „Euer Geist ist gezwungen Erinnerungen aus zehn Jahrtausenden zu verarbeiten. Ich wundere mich, dass ihr überhaupt noch soweit bei Verstand seid, dass ihr einen klaren Satz sprechen könnt.“ „Besten Dank für das Vertrauen.“ „Sorgt euch nicht. Ihr werdet schon damit zurechtkommen. Oder ihr bekommt Wahnvorstellungen...“

    Von Nazih mit dem nötigen Rüstzeug und Wissen für seine Aufgabe bedacht machte er sich auf zu Magister Hazen. Er mied das Gedränge des Heerlagers oder des Palastes und wanderte statt dessen über die schmalen Pfade durch die Obsthaine, die die Palasthügel im Süden umsäumten. Die wenigen Menschen auf die er hier traf, schenkten ihm keine weitere Beachtung, so dass er seinen eigenen Gedanken nachhängen konnte. Die ganze Situation war einfach nur absurd, doch eine innere Stimme – seine eigene innere Stimme, die aus den untersten Tiefen seines Bewusstseins zu ihm durchdrang – beschwor ihn, dass er das Richtige tat.

    Die Sonne stand bereits im Zenit und trieb mit ihren sengenden Strahlen jede Seele in den Schatten, als er das Gelehrtental erreichte, eine Senke an einem kleinen Bach, der sich ein paar Meilen entfernt vom Palast durch die Landschaft wand, in der ein kleiner Weiler aus Wohngebäuden um das Asklepieion – das Sanatorium der Thronwelt – errichtet worden war. Hier lebten Ärzte, Gelehrte und Schreiber, die hier Ruhe vor den Umtrieben und Intrigen des Hofes suchten, um ihrer Arbeit nachzugehen und die Kranken pflegen zu können. Hazen logierte zwar normalerweise im Palast, um jederzeit schnell bei Dumuzi sein zu können, brauchte zur Bestimmung des Gifts aber die Laboratorien des Asklepieions. Studenten in weißen, mit roten Schärpen gegürteten Kaftanen hielten wie in alten Tagen an des Weilers Toren Wache, als die Gelehrten ihr Wissen noch als von den Göttern offenbarte Weisheit betrachtet und es eifersüchtig gehütet hatten. Heute war die Wacht ihrer Schüler mehr ein Akt der Traditionspflege oder den wenigen Nervenkranken geschuldet, die mit hinter diesen Mauern lebten, so dass man zwar Notiz von Saif nahm, ihn aber nicht hinderte. Er ging schnurstracks die Straße entlang, die zwischen den Wohnhäusern und Bibliotheken hindurch führte und betrat das Asklepieion, wo er sich von einem Schreiber zu Hazen führen ließ.

    Der Magister saß an einem Schreibtisch, auf dem ein holographischer Monitor thronte, und war in die Betrachtung einer Datenbank versunken, deren Einträge er hastig durchblätterte, jeden nur eines kurzen Blickes würdigend, um sofort fortzufahren. Er wirkte nicht minder mitgenommen als in den frühen Morgenstunden und hatte offenbar keine Sekunde an sich selbst verschwendet, solange seine Aufgabe wartete. Lediglich seinen Magen konnte er auch jetzt nicht ignorieren. Vor ihm stand ein Teller mit kleinen Leckereien, von denen er sich immer wieder eine in den Mund schob. Er bemerkte zuerst nur flüchtig den Schreiber, den er mit einer harschen Geste wieder hinausscheuchte, nicht aber Saif, der ihm mit einigen Schritten Abstand gefolgt war. Als der Medicus ihn nicht einmal registrierte, als er nur einen Meter von ihm entfernt stand, sondern weiter mit hochkonzentriertem Blick auf die schnell wechselnde Anzeige starrte, rang er sich ein Schmunzeln ab und schnappte ihm ein Stück süßen Gebäcks unter der fleischigen Hand weg. Als seine Finger ins Leere griffen sah er etwas verwirrt auf den Teller, bemerkte dann aber Saif, der ihm das Stück mit einem Lächeln hinhielt und sagte: „Falls mir der Rat gestattet ist, Magister: Ihr solltet weniger naschen. Ihr esst für zwei.“ „Ich denke auch für zwei“, erwiderte Hazen mit in tiefe Falten gelegter Stirn und musterte Saif. Leise murmelte er „Eure Stimme...“ und warf einen raschen Blick auf den Sensor, den er bei seinem siechenden Herrn zurückgelassen hatte, um seinen Zustand zu überwachen.

    Sein Blick wanderte mehrmals misstrauisch zwischen seinem Gegenüber und dem Gerät, das ihm seit dem frühen Morgen keine Veränderung angezeigt hatte, hin und her. Dann sagte er mürrisch: „Es betrübt mich zu sehen, wie wenig mein Wort inzwischen gilt.“ Saif lächelte ihn freundlich an und verbeugte sich ohne auf seine letzten Worte einzugehen mit einer schwungvollen Geste. „Magister Hazen, ich bin Saif-ul-Ahura. Ich ermittle für Lord Dumuzi in den Geschehnissen des letzten Abends.“ Der Arzt sah ihn mürrisch an, reichte ihm dann einen Zettel, den er aus einer Falte seines Gewands hervorzog und sagte: „Die Analyse ist abgeschlossen. Ich habe Spuren eines sehr komplexen Alkaloids, das ich für das Gift halte, in der Suppe gefunden.“ Saif nahm den Zettel und fragte, während er ihn entfaltete: „Seid ihr sicher?“ „Bin ich sicher? Nein. Ich kenne weder die Substanz, noch ihre Wirkung. Selbst die Suche in der Datenbank war bisher ergebnislos. Alles was ich weiß ist, dass das Gift den Symbionten unseres Herrn direkt angegriffen hat. Und alle anderen Substanzen an der Mahlzeit waren für Goa'uld völlig unbedenklich.“

    Saif nickte und warf einen Blick auf den Zettel. Es war eine Abschrift der Analyseergebnisse. Als sein Blick auf die chemische Darstellung des mutmaßlichen Giftes fiel, durchzuckte es ihn wie ein Stromschlag: Er erkannte das Mittel. Die entfernte Erinnerung an Hände, die einen schmucklosen Becher entgegen nahmen, zahllose Konfuse, unlogische Bilder in wirrer Folge. Sein Blick musste für einen Moment abwesend oder glasig gewirkt haben, denn als er wieder zu Hazen aufsah, hatte dieser sich erhoben und schon nach einem seiner Scanner gegriffen und kam hinter dem Tisch hervor. Saif räusperte sich, trat einen Schritt zurück und steckte die Notiz ein. „Danke, Magister Hazen. Ich schlage vor ihr sucht einen Weg dieses Zeug zu neutralisieren.“ „Ihr...“, setzte Hazen an, der Saif bereits den Sensor entgegen streckte, wurde aber unterbrochen. „Ja, ich muss mich auf den Weg machen. „Nein“, erwiderte der alte Mann. Saifs Hand schnellte vor. Seine Finger schlossen sich um Hazens rechtes Handgelenk und er sah ihn eindringlich an. „Macht es nicht unnötig kompliziert. Ihr habt fragen, aber ich habe keine Antworten. Noch nicht.“ Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und ließ den Medicus allein stehen.

    Es gab viele Dinge, die kaum ein Mensch über die Goa'uld wusste, die selbst junge Goa'uld über ihr eigenes Volk vergessen hatten. Ihre Reiche waren nicht aus dem Nichts erscheinen oder hatten sich nach dem Untergang alter Mächte in einem Vakuum der Macht ausgebreitet. Und sie teilten viele der Ängste und Hoffnungen, die Erkenntnis eigener Schwäche, die staubgeborene Wesen dazu trieb sich Götter zu ersinnen oder Ideale zu suchen, die Erlösung von allem Leid und Überwindung der eigenen Schwäche versprachen. Wie zahllose andere Kulturen hatten auch die Goa'uld nach Heilslehren gesucht, doch hatten sie nie höhere Wesen angerufen, sondern selbst nach der Überwindung ihrer Natur und Schwäche gestrebt. Körperliche, geistige und seelische Vollkommenheit sollte ihnen der Weg sein, um sich über die Schöpfung zu erheben. Die Idee eines Aufstiegs im eigentlichen Sinne, wie die Antiker ihn praktiziert hatten, war ihnen noch fremd gewesen. Sie hatten die Schwächen und Ängste ablegen wollen, um von Tieren zu wahrhaft erhabenen Wesen zu werden.

    Viele dieser Lehren waren falscher Interpretation oder schlichter Bequemlichkeit zum Opfer gefallen. Es war keine Herrschsucht gewesen, die die frühen Goa'uld zu den Sternen getrieben hatte, sondern die Hoffnung im Ringen mit den alten Völkern zu lernen. Sie waren kriegerische Philosophen gewesen, die sich selbst erbarmungslose Disziplin abverlangten. Die Herrschaft über die Galaxie war für sie nichts als Beiwerk. Als die Revolte der Unas und wiederholte Konflikte mit den Asgard und den Völkern des Concordiums, die zwar geschwächt, keineswegs aber vernichtet waren, schließlich ihren Tribut forderten und nur die Entdeckung der Menschen als neuer Wirte den Tod ihrer Rasse verhinderte, gaben viele junge Goa'uld die alten Lehren auf. Ra, Toth, Nut, Yu und Anubis hatten zu den ersten gezählt, die berauscht von der Herrschaft über die schnell wachsende Zahl der Sklaven und von den fragilen Körpern ihrer Wirte dazu verleitet den Sarkophag zu benutzen, an Stelle der Idee der Selbstüberwindung den Gedanken der Erhebung zum höheren Wesen, wenn nicht sogar zum Gott durch die bloße Verehrung ihrer Anhänger gesetzt hatten. Yu mochte wirkliche Göttlichkeit noch nicht für sich beansprucht haben, aber manch ein anderer mochte durch die Ehrerbietung, die ihm von gebrochenen, willensschwachen Sklaven entgegen gebracht wurde, genug geblendet worden sein, um sich derlei anzumaßen. Die Systemlords waren letzten Endes nur noch schwächliche Narren, denen ihre eigenen Vorfahren nur noch mit Verachtung begegnet wären.

    An mochte gegenwärtig vor allem politischer und militärischer Mittelpunkt des Reiches sein, doch seine Anfänge hatte als spirituelles Zentrum der ersten Goa'uld. Noch heute überragte ein alter Tempels den Jahrhunderte später drumherum errichteten Palast. Als Saif mit schnellen Schritten die letzten Stufen zum Heiligtum hinauf erklomm und die erfrischend kühle Luft der von wuchtigen Säulen getragenen Halle, der man ansah um wie vieles älter als der Palast sie war, im Gesicht spürte, überkamen ihn bruchstückhafte Erinnerungen an ähnliche Orte. Immer wieder stahl sich ihm das Bild einer Frau in sein Denken, die ihm, oder dem der ein Teil von ihm damals gewesen sein mochte, auf einem Kissen gegenüber saß und ihm mit einem lächeln einen silbernen Becher reichte. Sie haben sich das erste Mal in einem Tempel getroffen, kam es ihm in den Sinn. Wie passend, dachte er bitter bei sich, dass man nun versucht hatte ihn mit einem Gift für rituelle Handlungen umzubringen.

    Er durchquerte den Raum mit angemessen leisem Schritt, um die Anwesenden nicht zu stören und ging in Richtung der Tempelbibliothek. Der heutigen Tempelherren hatten nichts mehr mit den Anfängen gemein. Sie gaben nur noch selten spirituellen Rat, sondern lauschten vor allem den Problemen der Höflinge und leisteten Seelsorge – Seelenklempner in Tempelroben, wie manche Diener spotteten. Dennoch hatte der Tempel immer noch eine Sammlung alter Schriften, in denen die alten Rituale und Glaubenslehren minutiös beschrieben wurden. Hier hoffte Saif Hinweise auf die Drahtzieher des Attentats finden zu können.

    In der niedrigen Kammer, deren Zugang hinter einer Säule versteckt lag, begann er sofort die Regale nach den Anleitungen für die Rituale zu durchsuchen. Sein Blick fiel auf eine uralte, brüchig aussehende Schriftrolle, die in alter Keilschrift das Wort 'Norma', den Namen eines der zeremoniellen Bücher, trug. Er wollte sie aus dem Fach nehmen, traf mit den Fingern aber auf ein Kraftfeld, das ihm einen Schlag versetzte, der ihn erschrocken und mit einem Schmerzenslaut zurückschrecken ließ und ihm alle Haare zu Berge stellte. Er murmelte leise einige Verwünschungen vor sich hin und sah sich nach einem Kontrollfeld um, das es ihm erlaubt hätte den Schild abzuschalten. Dabei bemerkte er eine Priesterin, die im Eingang stand und ihn mit einem verschmitzten Lächeln beobachtete. Es war eine junge Frau mit hübschem Gesicht, wahrscheinlich eine jene Tempeldienerinnen, die ein Priester auf ihrer Heimatwelt vor allem aufgrund ihrer Schönheit aussucht hatte, ein letztes Privileg, das den einstmals heiligen Männern half die eigene Bedeutungslosigkeit zu verschmerzen. Das Volk hatte seinen Glauben verloren oder betete eigene Götter an und Dumuzi hatte es nie gewagt diesen Tempel zum Heiligtum einer Lüge zu machen, so dass die Pflichten der hiesigen Priester seit Sokar vor 4500 Jahren während seiner kurzen Herrschaft über An die Lehrmeister des alten Glaubens hatte hinrichten und durch belanglose Götzendiener hatte ersetzen lassen, nur noch in der Prim'ta der Jaffa ihres Herrn bestanden hatte, die mit seinem Bruch mit der Kriegerkaste nicht mehr ausgeführt wurde. So war von jungen Schönheiten umgeben zu sein das letzte, was einige Priester davon abhielt sich voller Frustration in das Tempelfeuer zu stürzen, nachdem sie Stunden lang den belanglosen Sorgen irgendwelcher Adeligen hatten lauschen müssen.

    Doch etwas an dieser Frau war anders. Ohne sagen zu können was es war, wich Saif instinktiv zurück, als sie mit eleganten, flüssigen Schritten an ihm vorbei und zu dem Regal ging, das er gerade noch so interessiert betrachtet hatte. „Diese Schriftrollen sind alt“, meinte sie. „Wir müssen sie unter einer Schutzatmosphäre aufbewahren, damit sie nicht zerfallen.“ Sie besah sich kurz das Regal, wandte sich dann zu ihm um und fragte: „Offenkundig habt ihr etwas gesucht. Kann ich euch helfen?“ Er nickte. „Ich muss etwas in den Rollen 'Norma' nachschlagen.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, für das jeder Mann – auch er, wären seine Instinkte nicht Sturm gelaufen – über Leichen gegangen wäre und antwortete: „Es fragt praktisch nie jemand nach den alten Lehren. Wenn ihr wünscht, kann ich euch Zugang zum Computerarchiv geben.“ „Danke, aber nein.“ Er streckte eine Hand aus. „Ich brauche die Rollen.“ Einen Augenblick hatte er den Eindruck, dass sie widersprechen wollte. Also griff er nach einem Lederband, an dem er einen Ring um den Hals trug, der ihn als persönlichen Agenten Dumuzis auswies, hielt ihn ihr hin und drohte damit sich direkt an einen Priester zu wenden.

    Sie starrte ihn für einen Augenblick mit unbewegter Miene an, dann zückte sie eine kleine Fernbedienung und deaktivierte den Schild vor dem Fach, das die geforderten Schriftstücke enthielt. Als sie ihm nur die ersten vier reichte, sagte er: „Ich brauche auch die fünfte Rolle.“ „Die fünfte Schrift 'Norma' enthält nur Hinweise für Priester zur Durchführung von Ritualen.“ Er neigte den Kopf etwas zur Seite und zog die Augenbrauen hoch. Sie verstand und gab ihm auch die letzte Rolle. Er ging damit an den einzelnen schlichten Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, nahm sich den daran stehenden Stuhl und setzte sich in Richtung des Eingangs. Während er die Rollen vorsichtig vor sich ausrollte sagte er: „Ich möchte die nächste Stunde nicht gestört werden. Ich werde die Rollen wieder zurücklegen, wenn ich gehe.“ Sie nickte und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.

    Sein Verdacht bestätigte sich schnell. Es gab nicht viele Substanzen, die den außergewöhnlichen Metabolismus eines Goa'uld-Wirtes umgehen und einen direkt Symbionten beeinflussen konnten. Einer davon, ein im höchsten Maße potentes Gift, hatten die Goa'uld früher in ihren Ritualen genommen. Ihre Tempel waren Orte des Lernens und der Selbstbehauptung gewesen und sie hatten sich nicht nur in Symbiose mit ihren Wirtskörpern, sondern auch unmittelbar in Gestalt ihrer Symbionten Prüfungen unterworfen. Der Sud einer Pflanze von ihrer Heimatwelt konnte schon in kleinen Mengen Nahtoderfahrungen herbeiführen und die körperliche Widerstandsfähigkeit eines Goa'uld auf die Probe stellen. In schwacher Dosierung löste er Halluzinationen aus, die der Prüfung des Geistes dienten und in manchen Strömungen der alten Lehre als bewusstseinserweiternd galten. Mit dem Verlust seiner rituellen Bedeutung war das Mittel von einer kurzen Episode abgesehen, in der es unter den Systemlords als Modedroge Anklang gefunden hatte, im Dunkel der Vergangenheit versunken. Bis heute. Die chemische Beschreibung des verantwortlichen Wirkstoffs in den Schriftrollen deckte sich in allen Details mit Magister Hazens Analyseergebnissen.

    „Es müssen die Tok'ra gewesen sein“, sagte Nazih, nachdem er eine Zeit lang in die stumme Betrachtung von Hazens Schreiben versunken war. „Warum?“ Der Goa'uld sah Saif, der an eines der Fenstergitter seines Allerheiligsten gelehnt dagestanden und in den sich zuziehenden nachmittäglichen Himmel gestarrt hatte, über den Rand des Papiers hinweg an und gab zu bedenken: „Selbst für mich waren die alten Bräuche nie mehr als etwas von dem Dumuzi von Zeit zu Zeit erzählt hat. Und ich bin einer der ältesten Goa'uld im Reich. Atok, Tartaros, Nyx, Fu Xi und alle aus den ersten Jahren, an die sich niemand mehr erinnert, sind tot. Als Ras Herrschaft begann gab es schon nur noch wenige, die sich mit der alten Lebensweise beschäftigten und noch weniger, die wie Dumuzi nach ihr lebten. Ras Gemahlin Egeria soll sich damit befasst haben. Sie hatte das Wissen und die Verschlagenheit für diesen Anschlag und ich Zweifle nicht daran, dass sie beides an ihre Nachkommen weitergegeben hat. Der Zeitpunkt, der feige Giftanschlag, alles passt zum Vorgehen der Tok'ra.“

    Saif löste sich vom Fenster und begann im Raum auf und ab zu gehen. „Warum jetzt? Hätten die Tok'ra den nötigen Zugang, um Lord Dumuzis Essen zu vergiften, wüssten sie auch, dass ihr Problem sich in zwei, höchstens drei weiteren Wochen selbst zu Tode geschunden hätte. Warum sich also noch einmischen und riskieren ihn zu einem Märtyrer zu machen, dessen Tod die Adeligen vereint, einem untergeben die Chance gibt seinen Platz einzunehmen, oder noch schlimmer: Riskieren dass er überleben und aus seiner geistigen Umnachtung gerissen werden könnte? Warum so überstürzt handeln? Wenn die Tok'ra je durch etwas glänzen konnten, dann durch Geduld.“ Er tigerte noch ein paar Mal auf und ab. Dann sagte er: „Auch im billigsten Krimi geht es immer um drei Dinge: Motiv, Möglichkeit und Gelegenheit. Ich glaube nicht, dass ein Mangel an Personen mit einem Motiv besteht. Aber wie sieht es mit Möglichkeit und Gelegenheit aus? Wenn der Täter wüsste welches Gift er braucht, wie könnte er es bekommen?“ Nazih grummelte und zuckte mit den Schultern. „Unsere evolutionäre Wiege ist nur noch verbranntes Ödland, seit Anubis sie nach dem Mord an Apep als Aufmarschgebiet nutzte und die Systemlords mit einem viertägigen Nuklearbombardement der gesamten Planetenoberfläche reagierten. Die Pflanze, die sie damals benutzt haben gibt es nicht mehr. Und darüber wie sich das hier“ - er hielt das Schriftstück demonstrativ so, dass Saif die von Hazen skizzierte Struktur des Giftes sehen konnte - „synthetisieren ließe, habe ich die letzte halbe Stunde nachgedacht. Ich hasse es so etwas sagen zu müssen, aber ich könnte es nicht.“

    Saif ließ sich auf eines der Kissen sinken und rieb sich die Schläfen. „Über die Verabreichung vielleicht? Sein Lo'taur oder ein Leibdiener bereiten jede seiner Mahlzeiten persönlich zu. Selbst wenn sie sie von einem der Küchenmädchen bringen lassen, untersuchen die Posten an seinen Gemächern sie noch einmal und kosten sie vor. Die Scanner haben das Gift offensichtlich nicht erkannt.“ Nazih schüttelte energisch den Kopf. „Die Giftdetektoren reagieren genauso auf unbekannte Inhaltsstoffe.“ „Das Gift ist also erst danach ins Essen gekommen. Kommandant Atanas schickt jeden Tag neue Wachen. Nur er und sein direktes Umfeld kennen die Dienstpläne.“ „Denkt ihr...?“ Saif nickte. „Ein Offizier hätte Männer an die Tür stellen können, die auf den Scann verzichten und keine Fragen stellen, oder hätte das Gift schon vorher im Raum verstecken können.“ Nazih dachte kurz nach, erhob sich dann und wandte sich zur Tür. Saif sprang auf und fragte: „Wo wollt ihr hin?“ „Mit Atanas sprechen.“ „Auf keinen Fall“, warnte Saif. „Der bringt es fertig und wirft jeden Mann vom Amid bis zum niedrigsten Truppführer ins Verließ. Zugegeben, damit bekämen wir einen niederen Verräter, aber niemals den Kopf des ganzen. Wer so sorgfältig geplant hat, hat auch sicher gestellt, das die einfachen Handlanger seinen Namen nicht kennen und er alle Mittelsmänner schnell loswerden kann.“ „Und was wollt ihr statt dessen tun?“ „Ich will mich weiter umhören. Ich glaube, dass nur jemand vom Hofadel so etwas abziehen und sich etwas davon versprechen könnte.“ Nazih stand einen Augenblick lang schweigend da. Seine impulsive Art diktierte ihm jetzt zu handeln. Doch schließlich zwang er sich selbst zur Geduld und sagte: „Ich gebe euch zwei Tage. Dann gehe ich die Dinge auf meine Art an.“

    Am frühen Abend umschmeichelten bereits der sachte Klang einiger Musiker, die die Saiten ihrer Instrumente leise anschlugen, die Sinne der ersten Gäste, die eine der größten Adelsresidenzen Ans betraten. Fürst Ruslan, Kriegsherr der Samar und einer der mächtigsten Menschen des Reiches, hatte zu einem seiner Feste geladen. Wenn immer der Fürst von Samar rief, fand sich nahezu der ganze Hof in seinem Palast ein, der unter der Herrschaft der Systemlords eines weniger mächtigen Goa'uld würdig gewesen wäre und, obschon in seiner Fläche um einiges kleiner, nur Anstands halber den Dumuzis nicht überragte. Mit der Dämmerung hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt, so dass einige Damen neben Saif, die ihr Haar mit goldenem Geschmeide zu kunstvollen Frisuren gesteckt und mit Ölen eingerieben hatten, die es in zahllosen Farbschattierungen schimmern ließen, ihre Schritte beschleunigten, um ins Trockene zu gelangen. Das sie keine Diener hatten, die sie mit einem Schirm oder Stoffbaldachin schützten, verriet dass ihr sozialer Stand um einiges niedriger war, als sie ihre Umwelt glauben machen wollten. Er konnte seine Belustigung nicht verbergen und einer seiner Mundwinkel zuckte leicht, aber er machte keine Anstalten es ihnen gleich zu tun.

    Gemächlichen Schritts betrat er den Palast und schlug seinen Mantel auf. Gefällige Plagegeister – man hätte wohl auch von Dienern sprechen können – wuselten am Eingang umher, nahmen gewöhnlichen Gästen die feuchten Mäntel ab und wiesen ihnen den Weg zur Festhalle, während einige von Samarten in prächtigen Wämsern begrüßt wurden, die ihnen als Zeichen der Ehrerbietung die Füße wuschen und sie direkt zu ihrem Gastgeber führten. Der Fürst war ein Mann, der daran glaubte, dass der Weise den Narren und der Starke den Schwachen führen sollte und nie Zweifel an jemandes Stand zugelassen hatte. So hatte er bei seiner Heirat mit der Tochter eines anderen Reichsfürsten Diener ihre Mitgift durch die Straßen der Hauptstadt Samars tragen lassen, um dem Volk zu zeigen, dass sie eine reiche und wichtige Frau war und ließ bei seinen Festen alle Gäste, die er persönlich eingeladen hatte, besonders zuvorkommend behandeln.

    Saif hielt sich am Rand des Geschehens und hatte ein Auge auf die nach und nach eintreffenden Gäste. Wie immer erschien was Rang und Namen hatte. Sich nicht auf Fürst Ruslans Festen blicken zu lassen bedeutete, dass man gesellschaftlich tot war. Seine besondere Aufmerksamkeit erregte aber wen er offenbar um sein Erscheinen gebeten hatte. Das Défilé seiner persönlichen Gäste nahm sich aus wie eine Versammlung der mächtigsten zwischen den äußeren Sternen und dem terranischen Raum, Reichsfürsten ebenso wie Botschafter einiger unabhängiger Systeme. Entschlossen sich die Sache genauer anzusehen legte er seinen Mantel ab und brachte die Kithara zum Vorschein, die er darunter vor dem Regen hatte schützen wollen. Nach wenigen Augenblicken näherte sich ein Diener bei ihm und sagte: „Tek'ma'te, ehrenwerter Herr. Seid ihr zum Fest gekommen?“ „Ja, in der Tat“, bestätigte Saif. Er hielt das Instrument kurz hoch und erklärte: „Ich hatte gehofft als Spielmann auftreten zu können.“ Der Diener verbeugte sich zustimmend. „Wir haben bereits einige Spielleute, aber für Gewöhnlich immer viel mehr Gäste. Mein Herr ist also jedem dankbar, der hilft seine Gäste zu unterhalten. Geht ruhig in den Festsaal. Man wird euch Bescheid geben, wenn ihr Spielen könnt.“

    Saif nickte und folgte dem Korridor. Der große Festsaal war ein in einem seltsamen Zusammenspiel der bis ans asketische schlicht wirkenden Kunst von Ruslans Heimatwelt, der man ihre Herkunft aus einer Kriegerkultur ansah, und der herrschaftlichen Kultur Ans geschmückt. Diener eilten umher, um Wein auszuschenken und das leise Gemurmel belangloser Geschpräche mischte sich in die Musik. Saif erkannte beim Blick durch die Menge einen von Dumuzis Agenten, der wie wohl noch so mancher Anderer an diesem Abend Augen und Ohren offen hielt, um seinen Herrn auf dem Laufenden halten zu können. Hätte Dumuzi in den letzten Monaten nur auf seine Männer gehört... Er schob sich so unauffällig wie es ihm möglich war näher an ihn heran. Dann verklangen plötzlich die Instrumente der Musiker und die Wachleute an der Stirnseite des Raumes schlugen ihre Waffen gegeneinander. Transportringe fielen vor ihnen aus der Decke herab und Fürst Ruslan erschien darin in einem hellen Lichtblitz. Er streckte die Hand aus, worauf ihm ein Diener sofort einen verzierten Kelch reichte, den er mit der Rechten in die Luft streckte. „Meine Freunde“, rief er – um alle Geräusche zu übertönen aus vollem Halse – traditionelle Worte, „ich habe euch gerufen, um in unsicheren Zeiten unsere Sorgen zu vergessen, um unser Leben zu feiern, das Morgen schon ein Ende finden kann. Aber wenn wir das tun lasst uns zurück sehen. Lasst uns auf unsere Brüder und Schwestern zurücksehen, die der Tod schon zu sich rief, deren Opfer es uns erlaubte zu leben. Lasst uns zurücksehen, um sie nie zu vergessen.“

    Als habe er ein Stichwort gegeben erhob jeder Anwesende seinen Becher. „Ehrt die Toten!“, donnerte es aus seiner Kehle. „Ehrt die Toten“, antwortete die Menge. Er nahm einen Schluck aus seinem Becher, vergoss den Rest und schmiss den Kelch mit solcher Wucht zu Boden, dass er eingedellt wurde. Alle anderen taten es ihm gleich, obwohl die meisten auf das Werfen ihrer Becher verzichteten. Es war ein Symbol. Den Wein zu verschütten erinnerte an vergossenes Blut und kam einem Versprechen gleich das eigene Leben zu opfern, wenn der Tag kam. Aus Altersschwäche zu sterben war bei Ruslans Volk in Jahrhunderten, in denen sie manchmal für mächtige Systemlords, sehr viel öfter aber gegen sie gekämpft hatten ein eher ungewöhnlicher Tod gewesen. Sobald das Ritual vollzogen war, riss der Fürst mit einem breiten Lachen die Arme in die Luft und rief: „Und jetzt esst, trinkt, tanzt! Seid fröhlich!“ Anfeuernde Rufe wurden laut. Als sie verstummten und Ruslan sich gefolgt von mehreren seiner persönlichen Gäste zum Gehen wandte, machte Saif einen Schritt vor zum Agenten.

    Er trat neben ihn, packte ihn an der Schulter und zeigte ihm so, dass ihre Körper seine Hand hoffentlich vor neugierigen Blicken abschirmten, seinen Ring. Leise raunte er ihm zu: „Ich muss wissen was hier besprochen werden soll.“ Der Agent registrierte den Ring und warf einen flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel in Richtung des den Raum verlassenden Fürsten. Er verstand was Saif wollte und war wahrscheinlich aus keinem anderen Grund hier. Dann riss er sich los, setzte eine wütende Miene auf drängte Saif mit erregten Worten aus dem Weg. Als er ihn anrempelte drückte er ihm etwas gegen den Leib und ließ es in einer Falte seines Gewandes verschwinden. Saif zog sich in eine ruhige Ecke zurück und sah sich an, was man ihm gegeben hatte. Es war ein hochsensibles Abhörgerät, das durch Wände, Glas und die meisten Schutztschilde hindurch Gespräche mitverfolgen konnte. Mit einem kaum merklichen zufriedenen Grinsen mischte er sich wieder unter die Menschen und positionierte sich so in Sichtweite jener Tür, durch die Ruslan den Raum wieder verlassen hatte, dass er verfolgen konnte wer ging. Er konnte zwei Fürsten und einen Botschafter noch eine Treppe hinauf geben sehen, bevor die Wachen die Tür wieder schlossen.

    Wie die meisten großen Gebäude auf An waren auch bei diesem Palast die meisten Fenster zu den verschiedenen Innenhöfen hin gerichtet. Saif schlenderte also wie beiläufig in einen der angesichts des Wetters recht leeren Gartenhöfe, wo er sich kurz in den Schatten zurückzog und das Sodaner-Tarngerät aktivierte, das Nazih ihm gegeben hatte. Die Welt um ihn herum schien für einen Augenblick zu verschwimmen, dann wurde seine Wahrnehmung wieder klar. Er sah sich um und stellte zwar nicht überrascht, aber doch etwas erleichtert fest, dass hier niemand außer ihm mit einem solchen Gerät unterwegs war – Träger aktiver Geräte waren für gewöhnliche Betrachter zwar unsichtbar, konnten einander aber sehen. Er kletterte an einem hölzernen Gitter, das einigen mit schmerzhaft vielen Stacheln bewehrten Zierpflanzen halt bot und unter seinem Gewicht bedrohlich knackte und schaffte es in wenigen schnellen Bewegungen hinauf. Auf einem schmalen Vordach umrundete er den Hof und überprüfte alle Fenster. Als er nichts fand, kletterte er noch etwas höher und schließlich in einen anderen Hof hinüber.
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

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    Laufend: 2036 - A Union at War

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    Dort sah er den illustren Kreis endlich. Die meisten Männer und Frauen hatten sich in etwas eingefunden, das eine Waffenkammer zu sein schien. Das Ruslan einen solchen Ort wählte konnte ein starkes Signal sein, genauso gut aber auch der Überzeugung geschuldet sein der Raum sei besonders gut abgeschirmt. Saif kletterte so dicht wie möglich an den Raum heran und schob das nur münzgroße Abhörgerät in einen Spalt an der Fensterbank. Dann drängte er sich in eine nahe Mauernische und legte die empfangenen Signale auf seinen Kommunikator. Das Mauerwerk übertrug ihre Stimmen besser als er zu hoffen gewagt hatte, mischte zugleich aber auch eine ganze Reihe von Störgeräuschen darunter. Er brauchte beinahe drei Minuten, bis er alles soweit gefiltert hatte, dass etwas klar zu verstehen war.

    Er konnte mehrere Einzelgespräche, in der Mehrzahl Mutmaßungen darüber, was Ruslan von ihnen allen wollen konnte, heraushören. Da war die ehrenhafte Regentin Medea von Erakis, des Granatsterns, die einmal einer Goa'uld als Wirtin gedient hatte, bis diese nach ihrer Niederlage gegen Dumuzi exekutiert worden war und die Wirtin, die ihr Wissen und ihre Erfahrung in vielen Dingen geteilt hatte, ihren Platz eingenommen hatte, Lord Hector Athanasios, Herrscher über die sturmgepeitschte Welt von Menchib, die in ihrer Unbarmherzigkeit mit allen Wesen, die sie zu besiedeln versucht hatten, einige der besten Piloten des bekannten Raumes hervorgebracht hatte Pyrus der Gottschlächter, ein ebenso alter wie streitbarer, ja regelrecht unausstehlicher Mensch, der – selbst einmal Sklave – den Goa'uld seiner Welt erschlagen und die Systemlords über Jahrhunderte getäuscht hatte, indem er seinen Platz eingenommen hatte und nach Ende des Ori-Feldzuges einige der größten Naquadaminen des Perseusarmes unter seine Kontrolle hatte bringen können, oder aber Radom Timur, als Elektor Herrscher über die Plejaden, die der Erde nächsten Territorien des Reiches, und als einziger demokratisch bestimmter Volkstribun des Reiches ständiger Stachel im Fleische konservativer Aristokraten. Nicht nur das sie in solcher Zahl die Aussprache suchten, sondern auch dass gegensätzliche Persönlichkeiten wie Medea und Timur, die sonst waren wie Feuer und Wasser, hier zusammengefunden hatten, dass mit Hector auch ein Goa'uld unter ihnen war und alle bereit schienen Pyrus Anwesenheit länger als einen Herzschlag zu akzeptieren, sprach für das Gewicht, das Ruslan in dieser Runde besitzen musste.

    Einige Minuten, in denen der Regen immer stärker wurde, vergingen. Das schwache Nieseln hatte sich zu einem heftigen Wolkenbruch ausgewachsen, als endlich der letzte der Runde eintraf. Saif, der zusammengekauert dasaß und bis auf die Knochen durchnässt versuchte sich wenigstens etwas Wärme zu bewahren, konnte durch die Wanze die schweren Schritte hören, die alle Gespräche sofort verstummen ließen und die Ankunft des Fürsten verrieten. „Tek'ma'te, ich danke euch allen für euer Kommen.“ „Gut“, unterbrach ihn jemand, „dann sagt uns endlich was so wichtig ist, das ihr es mit uns allen besprechen wollt und mich von Wein und Weibern unten im Saal fern haltet.“ „Es gibt wichtigere Dinge, Kyros.“ „Und hat euer Volk nicht eher einen Ruf als Knabenliebhaber?“, fragte Medea mit rauchiger Stimme. Einige der Anwesenden lachten und der so angesprochene verstummte. „Also, Ruslan, warum ein solches Treffen, das man meinen könnte ihr führtet unlauteres im Sinn?“

    „Mein Absichten sind ehrlich, edle Medea.“ Man hörte ihn einige Schritte machen, bevor er weiter sprach: „Es ist kein Geheimnis wie sehr sich unsere Lage in den letzten Monaten verschlechtert hat. Mehrere Grenzplaneten sind angegriffen worden, einige davon sogar gefallen und der Widerstand in den jüngst eroberten Territorien ist wieder aufgeflammt.“ Er schwieg kurz, um seinen nächsten Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Das Reich droht zusammenzubrechen. Allein meine Welten wurden von genug Flüchtlingen überschwemmt, um jeden Zweifel zu beseitigen.“ „Ich habe davon gehört“, behauptete Medea. „Was mir aber niemand sagen konnte ist, was aus diesen armen Seelen wurde. Keiner von ihnen wurde wieder gesehen. Was habt ihr mit ihnen gemacht?“ „Ihnen Waffen gegeben. Wir können zwei Millionen Flüchtlinge nicht auf Dauer ernähren. Also sollen sie für ihre verlorene Heimat kämpfen.“ „Verstecken die mächtigen Samarten sich neuerdings hinter Kanonenfutter?“ Saif hörte Pyrus hämisch lachen. Er wusste, dass Ruslan Männer schon für weniger erschlagen hatte. „Nein“, antwortete der Fürst. „Die Flüchtlinge sind Bauern oder Handwerker, keine Kämpfer. Mehr Schläger, die planlos auf ihre Gegner einprügeln, als echte Krieger, aber sie werden ihren Teil tun. Ohne sie habe ich einfach nicht genug Leute, um etwas zu erreichen.“

    „Und was habt ihr vor?“ „Uns alle zu verteidigen. Seit drei Monaten hat niemand mehr Lord Dumuzi gesehen oder etwas von ihm gehört. Seine Generäle sind ohne Befehle. Wenn sie uns nicht schützen können, ist es an uns selbst.“ Eine kurze Pause folgte. „Ich mobilisiere jeden Samarten und jeden, der zu mir kommt und glaubt eine Waffe halten zu können. In ein paar Tagen werde ich vor den Rat treten und verlangen, dass das Reich sich an allen Enden zum Krieg rüstet.“ „Gegen wen?“, wollte einer der Anwesenden wissen. „Ihr werdet keine Unterstützer finden, wenn ihr keinen Feind nennen könnt.“ „Luzianer, Jaffa, Tau'ri, benennt wen ihr wollt. Unsere Gegner sind zahlreich genug, dass sich einer finden wird, gegen den man den Rat aufbringen kann. Im Moment ist Einigkeit das wichtigste. Wenn sich unsere Heere unter einem Banner vereinen, wenn wir ein Zeichen der Einigkeit setzen, können wir viele Kriegsherren in ihre Schranken weisen, ohne einen Schuss abgeben zu müssen und können unseren wahren Feinde begegnen.“ Saif hörte das Geräusch gemächlicher Schritte auf dem harten Stein des Fußbodens. Leise, als sei sie direkt vor ihn getreten, fragte Medea Ruslan: „Und wer soll diese vereinte Armee führen?“ „Jemand den der Rat für fähig befindet.“ Die Regentin gluckste. „Und das wärt nicht wahrscheinlich ihr?“ Ruslan klang zornig, als er antwortete: „Das spielt keine Rolle.“ „Doch, das tut es. Käme es so weit würde man euch wählen und ihr wisst es. Ihr seid der erfahrenste General im Rat. Aber solange wir euch nicht unterstützen, werdet ihr die Fürsten nicht für euch gewinnen können.“

    Wieder erklangen Schritte und Medea hob ihre Stimme: „Wie viele Siege bräuchtet ihr, um die Loyalität der Soldaten zu gewinnen? Sieben oder acht, bis sie euch verehren? Elf, zwölf, bis sie eher euch folgen, als ihren Weltenherrn? Wer könnte euch dann noch aufhalten? Nein, euch den Befehl über eine solche Armee zu geben würde bedeuten euch das Reich selbst vor die Füße zu werfen und ich werde mich nicht zum Werkzeug eurer Ambitionen machen.“ Hörbar um Fassung ringend erwiderte Ruslan: „Der Thron interessiert mich nicht.“ Für einen Augenblick herrschte schweigen. Dann – der erste Donnerschlag eines aus dem Wolkenbruch entstehenden Gewitters lenkte Saif für einen Moment ab, doch er glaubte Kyrons Stimme zu erkennen – sagte einer der Männer: „Seit zwei Monaten werden Versorgungswege zwischen meinen Welten überfallen. Ein Dutzend Getreidetransporter und zwei Geleitschiffe wurden zerstört. Wir wissen nicht wer dahinter steckt, aber die Angriffe sind viel zu stark und viel zu gut organisiert, um das Werk einfacher Piraten zu sein.“ Eine unausgesprochene Anklage stand für einen Moment im Raum. Es war so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Saif beschloss einen Blick zu riskieren, schob sich auf dem schmalen Sims wieder ans Fenster und spähte hinein. Er Kyron mit einer Härte, die sein vergeistigt und weich wirkendes Äußeres Lügen strafte, den Blick durch den Raum wandern lassen. Dann trat er vor Ruslan und sagte: „Ich kenne eure Ziele nicht und die Götter mögen mir verzeihen: Es ist mir egal. Aber wenn ihr die Ordnung wieder herstellen und die Grenzen schützen könnt, habt ihr meine Stimme und meine Männer.“

    Er verbeugte sich tief. Zwei andere Fürsten taten es ihm gleich. Lord Hector schlug die flache Hand lautstark gegen die Wand, an der er lehnte und rief: „Das ist Wahnwitz. Ich werde nicht zulassen, dass ihr die Reichsordnung umstoßt. Lord Dumuzi ist unser Führer und Kriegsherr. Ihr werdet uns nur spalten und Chaos stiften.“ Medea nickte. „Kein Blut von Erakis für euch. Meine Schwüre gelten Dumuzi.“ Auch Radom Timur meldete sich zu Wort. Er warf die Arme in die Luft in die Luft und rief wild gestikulierend: „Meine Verpflichtung gilt meinem Volk, nicht euren Spielchen. Ich werde mir das nicht länger ansehen.“ Mit einer energischen Bewegung wandte er sich ab und ging zur Tür. Dort blieb er kurz stehen, sah sich zu Ruslan um und meinte mit fast entschuldigendem Ton: „Um sich von der Tyrannei des Bundes zu befreien, mussten die Menschen der Pleyaden einen zu hohen Blutzoll entrichten. Wir sind kriegsmüde, Lord Ruslan.“ Dann stieß er die Tür auf und ging. Kaum dass er den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, tönten laute Rufe auf. Die Adeligen schrien einander an. Einige wenige, die sich zu Ruslan und Kyron gestellt hatten, warfen den anderen Anschuldigungen an den Kopf ihre Verantwortung zu ignorieren oder sich einfach nur feige hinter anderen zu verstecken und wurden ihrerseits als Kriegstreiber, Spalter und Zerstörer der Ordnung beschimpft. Es hätte wohl nicht mehr viel zur Schlägerei gefehlt, als Ruslan die ersten Leute zur Tür schob. Die Versammlung löste sich auf. Nur der Samartenfürst blieb zurück. Gescheitert sank er neben der Tür zusammen, stützte die Stirn auf die Hände und murmelte mit in Wut und Fassungslosigkeit zusammengekniffenen Augen Verwünschungen gegen seine Standesgenossen.

    Saif hatte gesehen was zu sehen war. Er sammelte das Abhörgerät wieder ein und wollte wieder vom Dach herunter klettern. Er war bis auf die Haut durchnässt, fror erbärmlich und hätte sich am liebsten nur noch in einer warmen Ecke verkrochen. Bevor er aber eine Stelle finden konnte, an der er gut nach unten hätte kommen können – während eines Gewitters wollte er nicht über das höchste Dach des Palastes zurück klettern – aktivierte sich plötzlich sein Kommunikator. Der im Festsaal gebliebene Agent meldete sich und forderte seine Hilfe an.

    Einige Augenblicke zuvor:

    Mit tausendfach trainierten freundlichen Gesichtern und unverfänglichen Floskeln hatte der Agent sich unter die Festgesellschaft gemischt. Fast eine Stunde lang hatte er schon in der Mehrheit belanglosen Gesprächen gelauscht, genau beobachtet wer sich mit wem unterhielt, hatte Gesten und Worte binnen eines Augenblicks analysiert, um sich anbahnende Allianzen oder aufkeimende Aversionen abzuschätzen und hatte einigen Gästen, die sein Interesse geweckt hatten, Aufnahmegeräte untergeschoben. Als er gerade wieder einen Injektor mit Überwachungsnaniten, kaum 10μm Maschinen, die sich in den auditiven und visuellen Cortexen eines Menschen festsetzen und alle empfangenen Reize an Dritte übermitteln konnten, aus dem Ärmel zauberte, um den Inhalt unauffällig in die Weinkelche zweier Händler zu geben, die er bei einer Absprache zum Steuerbetrug belauscht hatte, rempelte ihn jemand von hinten an. Er musste hastig einen Fuß nach vorne setzen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Diener, ein hagerer Kerl, der niemandem in die Augen zu sehen wagte, drängte sich an ihm vorbei und nuschelte in rauem Akzent eine Entschuldigung. Er sah dem Büttel für einen Moment erbost hinterher, versorgte seine beiden Ziele mit dem besonderen Schuss in ihrem Wein und zog sich zufrieden schmunzelnd zurück. Ein weiterer Erfolg dieses Abends.

    Von einem ruhigen Fleck unweit der Musiker aus ließ er seinen Blick wieder auf der Suche nach verräterischen Gesten oder Lippenbewegungen – er brüstete sich damit bei bis zu einem halben Dutzend Leuten gleichzeitig von den Lippen lesen zu können – durch den Saal schweifen. Als er die Hände in die Taschen schob, bemerkte er, dass man ihm einen Zettel zugesteckt hatte. Er holte die Notiz hervor und warf einen Blick darauf. Ein Ort und eine Zeit, in einem Nebengebäude des Palastes in kaum einer halben Stunde, waren darauf vermerkt. Nur der Diener war ihm nahe genug gekommen, um den Zettel in seine Tasche zu schieben. Und das gerade er ihn erhalten hatte, war ein starkes Indiz dafür, dass jemand wusste für wen und warum er hier war. Er konnte diese Sache nicht einfach ignorieren, wollte zugleich aber auch nicht riskieren allein in eine Falle zu laufen. Also schickte er eine kurze Nachricht an den anderen Agenten, der ihn zu Beginn der Feier angesprochen hatte, um sich dann auf den Weg zu machen.

    Er benutzte das Überwachungsgerät, das er ihm gegeben hatte, als Relais und stellte es so ein, dass es seinem Kommunikator folgen und den anderen so sicher zu ihm lotsen konnte. Er stahl sich aus dem Saal und machte sich auf den Weg durch einige sonst den Dienstboten vorbehaltene Flure zu einem Hinterausgang. Er nahm sich einen der neben der Tür hängenden groben Mäntel und trat hinaus in den Regen. Er schlang den groben Stoff notdürftig um sich, schaffte es aber keine zehn Sekunden trocken zu bleiben. Etwas hastiger als geboten gewesen wäre eilte er den Weg entlang und rutschte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf den glitschigen Gehwegplatten aus. Er prallte hart auf, schüttelte sich und presste einen Fluch zwischen den Zähnen hervor. Doch als er sich wieder auf die Füße drücken wollte, hörte er jemanden hinter sich. Die leisen Schritte waren viel zu weich für den anderen Agenten, der unter Soldaten übliche Lederstiefel mit metallischer Spitze getragen hatte. Er sprang regelrecht wieder auf die Füße und drehte sich um und sah in ein helles Licht. Im nächsten Augenblick spürte er rasenden Schmerz in allen Gliedern. Sein Körper versagte ihm den Dienst und er brach zusammen. Die letzten Sekunden seines Lebens war sein Blick auf das Licht gerichtet, hinter dem er noch schemenhaft die Gestalt einer Frau zu erkennen glaubte.

    Auf den Fluren von Ruslans Anwesen hatte Saif sich vor zwei Wachen verstecken müssen. In eine Ecke gekauert wartete er ab, bis die beiden hoch gewachsenen samartischen Krieger, die sich offenbar auf dem Fest am Wein gütlich getan hatten und nun laut lachend und anzügliche Lieder grölend zurück zur Wachstube wankten, um die nächste Biegung verschwunden waren. Nachdem sie aus seinem Sichtfeld verschwunden waren, lauschte er noch einen Moment nach ihnen, verließ dann sein Versteck und pirschte sich vorsichtig weiter.

    Das Tarngerät mochte ihn zwar direkten Blicken entziehen, bot aber keinen perfekten Schutz. Seine völlig durchnässte Kleidung hatte er noch am Innenhof ablegen und unter einem Busch verstecken müssen, um den trockenen Böden keine verräterische Spur von Wasserflecken zu hinterlassen. Das Wasser, das ihm immer noch aus den Haaren und dem Lendenschurz troff, das Geräusch seiner Stiefel auf dem Fußboden, alles konnte ihm zum Verhängnis werden. Zuerst hatte er, nicht zuletzt in der Hoffnung in der Eingangshalle einen trockenen Mantel erbeuten können, den Festsaal angesteuert, doch das Positionssignal des Agenten hatte ihn in eine andere Richtung gelenkt. Nach einigen Minuten fand er sich sehr zu seinem Unmut vor einer Gesindetür wieder. Zurück in den Regen? Er seufzte, zögerte für einen Moment, als hoffe er auf ein unvorhergesehenes Ereignis, das ihm den Gang in die Nacht ersparte, trat schlussendlich aber doch nach draußen.

    Er folgte dem Signal einen Weg hinab. Vielleicht eine Meile entfernt erkannte er das Muster hell erleuchteter Fenster, die zu einem Nebengebäude gehören mussten. Er beschleunigte seine Schritte und senkte etwas den Blick, um seine Augen vor dem windgepeitschten Regen zu schützen. Als ein Blitz die Nacht für einen Sekundenbruchteil grell erleuchtete, erkannte er plötzlich eine Gestalt, die auf dem Weg lag, der Körper in einer vor schmerzverkrampften Pose erstarrt und eine zweite, die über ihr stand. Er blieb stehen und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen, sah aber nur einen schattenhaften Umriss, der sich vor dem Nachthimmel abhob. Langsam ging er geduckt weiter und versuchte die beiden seitlich zu umgehen und einen besseren Blick zu erhaschen.

    Ein Geräusch, vielleicht sogar nur sein eigener Atem, musste ihn verraten haben, denn der Schatten drehte sich jäh in seine Richtung und duckte sich wie ein Soldat, der versucht ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Ein weiterer Blitz durchzuckte die Dunkelheit und er wusste, wen er vor sich hatte. Sie mochte ihre Roben gegen ein Festagskleid getauscht haben, mit dem sie in der Abendgesellschaft nicht aufgefallen wäre, doch er hatte die Priesterin, die er vor wenigen Stunden noch im Tempel getroffen hatte, deutlich erkannt. Selbst wenn sich unter ihrem durch den Regen auf ihrer Haut klebenden Gewand nicht ein trainierter, muskulöser Körper abgezeichnet, der weder der Tochter eines Handwerkers oder Bauern, noch einer Tochter des niederen Adels gehörte, hätte doch das schwache Glimmen der Waffe, die um Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand geschlungen war, alle Zweifel beseitigt: Ihm gegenüber stand eine Kämpferin. Er verharrte regungslos, um ihr die Chance zu geben zu glauben einer Sinnestäuschung aufgesessen zu sein. Sie sah sich um und begann grimmig zu lächeln.

    Als sie ihre Waffe in seine Richtung ausrichtete, wurde ihm klar dass sie die Spuren sah, die er im Schlamm hinterlassen hatte, wo er den Weg verlassen hatte. Im letzten Moment warf er sich in Dreck. Ein Lichtblitz zuckte über ihn hinweg. Er rollte sich ab, kam wieder auf die Füße und rannte auf sie zu. Mit wenigen langen Schritten war er bei ihr. Seine Hand schloss sich um das Handgelenk ihres Waffenarms und hielt es fest umklammert. Er drückte von sich weg und versuchte ihn ihr auf den Rücken zu drehen, doch sie wand sich um letzten Moment heraus und schlug mit der freien Hand in die Richtung in der sie ihn vermutete. Ein Betrachter, der sie beide zu sehen vermocht hätte, hätte sich wohl nicht nur über ihre Kraft gewundert, sondern auch dass das dürre Männlein mit dem sie Rang dagegen halten konnte. Er hielt ihre zweite Hand ebenfalls fest und wollte ihr die Beine wegziehen. Allerdings reagierte sie zu schnell, indem sie in Knien und Hüfte einknickte, auf diese Weise Schwung nahm und sich in einem Überschlag befreite, bei dem sie ihn mit beiden Füßen an der Brust traf und mit einem Schmerzenslaut zurücktaumeln ließ, wobei sein Griff sich soweit lockerte, dass sie sich in ihrer Bewegung losriss.

    Sie kam in Kampfhaltung wieder auf die Füße, beide Hände erhoben und auf ein Geräusch wartend, das ihr seine Position verraten hätte. Immer wieder blinzelte sie auf die Spuren am Boden. Als sie erkannte, wo seine Spur endete, ging sie zum Angriff über. Blitzartig wirbelte sie um die eigene Achse und riss das linke Bein zum Tritt hoch. Ihr Schienbein traf ihn am Oberarm. Die Wucht war groß genug ihn beinahe aus dem Gleichgewicht zu werfen und jagte heftigen Schmerz bis zu seiner Schulter hinauf, der verriet, dass der Knochen zumindest angeknackst war. Doch die Pein weckte etwas in ihm. Intensiv trainierte Kampfinstinkte, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass er sie besaß. Als sie mit einem Schritt vorwärts ihr anderes Bein an seinem Kopf vorbei hoch riss, wusste er sofort was sie vorhatte. Als ihr Fuß der Schwerkraft nachgab und mit potentiell Knochen zerschmetternder Kraft zurückschnellte, beugte er den Oberkörper etwas beiseite, und ließ ihr Bein seinen in niedrigem Winkel zur Seite gestreckten Arm treffen. Die Wucht glitt an seinem knochigen Oberarm ab. Sofort winkelte er seinen Oberarm an, klemmte ihr Bein ein und rammte in einer Drehung aus dem ganzen Oberkörper heraus den Ellenbogen gegen den Schädel. Jede einzelne Bewegung kam wie von selbst. Es war eine Art zu kämpfen, die auf jede Schnörkel verzichtete und schmutzig und skrupellos jede Chance ausnutzte, die sich bot.

    Er wusste dass der Treffer, insbesondere mit der gewaltigen Kraft ausgeführt, die er aufzubringen vermochte, die meisten Gegner sofort zu Boden geschickt hätte. Doch sie stand trotz der Platzwunde, die sein Schlag ihr beigebracht hatte, immer noch, schaffte es sogar ihr Bein wieder frei zu reißen. Erbarmungsloser Hass flammte in ihren Augen auf, als ihr klar wurde was er war. Sie machte einen Satz zurück und zog ein filigranes Messer mit einer gefährlich aussehenden Klinge, die mehr dafür gemacht schien eine punktgenaue Verletzung beizubringen, die einen gewöhnlichen Menschen wohl kaum gestört hätte, als seinen Gegner aufzuschlitzen. Derartige Klingen dienten nur einem Zweck: Mit einem einzigen gezielten Stich die Wirbelsäulen zweier Wesen gleichzeitig zu verletzen. Für Saif war nun endgültig klar, dass diese vermeintliche Priesterin dazu ausgebildet war Goa'uld zu töten. Doch solange sie ihn nicht sehen konnte... Als hätte sie geahnt, was er dachte, zog sie ein golden schimmerndes Schmuckstück aus ihrem Haar, zerdrückte es in der Hand und schleuderte ihm das feine Pulver, zu dem das Geschmeide sofort zerfiel, mit einen hasserfüllten Schrei entgegen. Wie glitzernder Eiskristalle verteilte es sich in einer funkelnden Wolke, die auch vom Regen nur langsam aus der Luft gewaschen wurde. Wo der Staub ihn traf und mit unter dem Tarnfeld verschwand, verriet er seine Position, so wie jede seiner Bewegungen jetzt eine sichtbare Spur hinterlassen würde.

    Ohne zu zögern sprang sie ihn an, das Messer in seine Richtung stoßend. Er hob die Arme zur Verteidigung und blockte jeden Angriff mit dem Unterarm ab, konterte mit einem Tritt in ihre Seite. Als der Treffer sie aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte, packte er ihre Messerhand, zog sie zu sich heran und nutzte die Klinge gleichzeitig als Hebel ihr das Messer zu entwinden. Sie taumelte haltlos vorwärts, stürzte und versuchte dabei noch sich an ihm festzuhalten. Er ruschte auf dem schlammigen Untergrund aus und fiel mit zu Boden, schaffte es indess aber auf den Knien aufzukommen und so über ihr zu landen. Noch während sie mit dem Rücken aufschlug, nahm er die ganze Kraft aus dem Oberkörper und schmetterte ihr den Oberarm gegen Schlüsselbein und Hals.

    Endlich blieb sie regungslos liegen. Für einen Moment kniete er einfach nur schwer atmend neben ihr. Dann kroch er zum Agenten hinüber. Ein einziger Blick reichte seine Befürchtungen zu bestätigen. Der Mann war tot. Saif murmelte ein Wort des Dankes und der Anerkennung und klopfte den Leichnam auf der Suche nach einem Hinweis auf seine letzte Absicht ab. In einer Tasche fand er den Zettel. Uhrzeit, Treffpunkt, es blieben nur noch wenige Sekunden. Er sah den Hügel hinunter zum Nebengebäude, wohin man ihn offenbar bestellt hatte. Dann rief er mittels seines Kommunikators eine von Nazihs Drohnen heran, um sich um den Toten und die ausgeknockte Attentäterin zu kümmern, stand auf und rannte los.

    So schnell ihn seine Füße trugen wetzte er den Abhang hinab und kam neben einem Fenster zum stehen. Da das Gebäude einen einfachen Gleiterhangar darstellte, fehlten ihm die aufwändigen Fenstergitter der Paläste und man konnte ohne weiteres hinein sehen. Saif entdeckte einen von Ruslans Männern, der Kleidung nach zu urteilen ein Krieger seiner Leibgarde, der an die Landestützen eines modifizierten Todesgleiters gelehnt stand. Ihm gegenüber stand stand niemand anderes als Atanas, Atanas den er für Dumuzis treuesten Soldaten hielt, Atanas den eine Einheit der Junayd aus einer Naquadamine befreit, dem der letzte große Goa'uld persönlich die Sklavenketten abgenommen hatte, der auf Knien um eine Gelegenheit gebeten hatte seinem Befreier zu dienen. Es gab kein Zeichen von Verrat, doch jemand hatte gewollt, dass ein Agent Dumuzis das hier sah. Saif konnte weder hören was sie die beiden besprachen, noch konnte er es von ihren Lippen lesen – dazu hatte ihm immer das Talent gefehlt. Erst als Atanas unter seinen Mantel griff und dem Wächter einen Beutel reichte, dem die darin enthaltenen Goldtafeln (Anm. d. Autors: Gravierte Platten aus Edelmetall, hier Gold, von ca. 120g das Stück, das Äquivalent der Goas zur Feinmünze oder dem Goldbarren) deutlich anzusehen waren, war für Saif endgültig klar, dass etwas faul war im Sternenreich. Weder war es normal, dass der Kommandant der Junayd sich hier und zu solcher Zeit mit einem von Ruslans Leibwächtern traf, noch gehörte es zu seinen Pflichten eben diese für irgendetwas zu bezahlen. Der Wächter nahm den Beutel, zog eine der Platten heraus, hielt sie ins Licht und biss darauf, bevor er sich vor Atanas verbeugte und das Gold unter seinem Waffenrock verschwinden ließ.

    Beide verließen das Gebäude auf getrennten Wegen. Der Wächter verschwand mit unbekanntem Ziel irgendwo in der Dunkelheit, während Atanas den Weg nahm den ihr Beobachter gekommen war. Saif widerstand nur mit Mühe dem Drang sich zu verraten und Atanas mit dem Gesehenen zu konfrontieren, aber aus einem einzelnen Treffen mit einem Fremden, dessen Zweck man nicht kannte – und nichts anderes konnte Atanas im Moment vorgeworfen oder bewiesen werden – hätte er sich ohne Schwierigkeiten herausreden können. Er musste mehr wissen. Auf halbem Wege passierte das Unausweichliche: Der Offizier stieß auf den toten und seine ausgeschaltete Attentäterin. Sofort zog er seine Zat'nik'tel und näherte sich dem Ort des Geschehens. Die Spuren im Morast, die der Regen noch nicht hatte fortwaschen können, verrieten ihm auf einen Blick, dass hier ein heftiger Kampf statt gefunden hatte und dass der Tote unmöglich einer der Kontrahenten gewesen sein konnte. Er tastete nach dem Puls der Frau und sah sich um. Auch er konnte den nur wenige Schritte entfernt auf dem Steinpflaster stehenden Saif nicht sehen, wohl aber die Drohne, deren Triebwerk in einiger Entfernung am Himmel leuchtete. Ohne mit der Wimper zu zucken aktivierte er seine Waffe und dematerialisierte beide beide Körper. Dann lief er schleunigen Schrittes zum Anwesen hinauf.

    Kaum das er durch die Tür war und seine triefende Kapuze abgestreift hatte griff er nach seinem Kommunikator. Es dauerte etwas bis das Gespräch angenommen wurde. Er redete sofort drauf los: „Herr, es gibt Probleme. Jemand muss die Tempeldienerin enttarnt haben. Ich habe sie neben der Leiche eines Spions gefunden. Eine Drohne war bereits auf dem Weg. Ich habe mich um die Sache gekümmert, aber irgendjemand ist uns auf den Fersen.“ „Sie hat ihre Schuldigkeit getan“, antwortete eine monotone, künstlich klingende Stimme, wahrscheinlich von einem Computer generiert, so dass sein Gesprächspartner nicht fürchten musste sich durch seine Stimme zu verraten. „War ihr Treffen erfolgreich?“ „Ja. Er hat das Angebot angenommen.“ „Hat man euch bemerkt?“ Wieder sah Atanas sich um. „Ich weiß es nicht.“ „Dann seid vorsichtig. Man wird sich bei euch melden.“

    Als er die das kugelförmige Gerät wieder einstecken wollte, bemerkte er auf einmal eine Bewegung an seiner Hüfte. Seine Hand wanderte zur Zat, fand aber nur ein leeres Holster. Hinter sich hörte er das typische Geräusch der Waffe, die aktiviert wurde. „Warum, Atanas?“, vernahm er eine Stimme. Er drehte sich langsam um. Saif erschien vor ihm schier aus dem nichts. Seine Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen. „Ausgerechnet ihr...“ Das Gesicht des Offiziers verfinsterte und er grummelte: „Stellt keine Fragen, auf die ihr die Antworten kennt.“ Dann, mit einer Schnelligkeit, die man einem muskelbepackten Riesen wie ihm kaum zugetraut hätte, schlug er Saif die Waffe aus der Hand. Der starrte den wütenden Hünen eine Schrecksekunde lang fassungslos an, stieß sich dann in einem heftigen Ausfallschritt vor und schlug ihm die erhobenen Fäuste gegen Rippen und Wangenknochen. Es reichte Atanas erschrocken zurückprallen zu lassen. Hatte der Angriff ihm irgendwelche Schmerzen zugefügt, so ließ er es sich nicht anmerken.

    Saif nutzte den Augenblick, den ihm dies verschaffte und warf sich zur Seite der Waffe hinterher. Er kam neben der Zat auf, rollte sich über die Schulter ab und packte den Griff der Waffe dabei mit der Linken. Aber bevor er die Waffe auf ihr Ziel richten und beide Hände an den Griff bringen konnte, hatte Atanas sie ihm schon wieder aus der Hand getreten und ihn mit einem wuchtigen Hieb zu Boden geschickt. Sein Hinterkopf schlug mit solcher Wucht auf, dass Sterne vor seinen Augen zu tanzen schienen und er einige Atemzüge lang um Orientierung ringen musste. Im letzten Moment bemerkte er Atanas, der sich auf ihn stürzen wollte. Er hob die Beine und schaffte es den Angriff abzufangen und seinen Gegner zurückzustoßen.

    Beide kamen gleichzeitig wieder auf die Füße. Die Waffe lag zu weit entfernt und Saif wusste, dass er Atanas mit bloßen Händen in seinem jetzigen Zustand nicht ebenbürtig war. Also reaktivierte er das Tarngerät und versuchte zu entkommen. Atanas hörte die sich schnell entfernenden Schritte und setzte ihm nach. Er nahm seinen Mantel und schleuderte ihn in die Richtung, in der er Saif vermutete. Der bemerkte den Zug nicht rechtzeitig. Überrascht versuchte er noch zum Stillstand zu kommen und den Stoff beiseite zu schlagen, rannte aber direkt in den zuerst zu weit geworfenen Mantel hinein. Nicht völlig vom der Wirkung des Tarnschilds erfasst flatterten die Enden der Ärmel in der Luft, während er in seinen nassen Stiefeln noch ein paar Meter weiter schlitterte und versuchte den Mantel abzuschütteln. Darauf hatte Atanas gewartet. Er packte die Ärmel und zog derart fest daran, dass Saif mehrere Schritte zurück gerissen und beinahe die Atem abgeschnürt wurde. Es gelang ihm den Mantel teilweise abzuwerfen, so dass der Rest abglitt, aber er war Atanas schon so nahe, dass der Riese einen seiner massigen Arme um ihn schlingen und ihn festhalten konnte. Um sich zu befreien schlang er einen Arm um Atanas Nacken, legte die freie Hand auf seine Schulter und versuchte ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber bevor er seine Bewegung abgeschlossen hatte, wurde er von einem Schlag mit der Gewalt eines Dampfhammers in die Seite getroffen und fand sich von um seine Hals geschlossenen Händen an ausgestreckten Armen gegen die Wand gedrückt.

    Mit aufgeblähten Nüstern und vor Wut verzerrten Augen starrte Atanas in Richtung seines unsichtbaren Gegners. Niemand hätte seine mörderische Absicht übersehen können. Auch mit aller Kraft konnte Saif den Griff um seine Kehle nicht aufbrechen und der Tritt, den er Atanas in die Eingeweide verpasste, verfehlte jede Wirkung. „Ihr habt mich verraten!“, brüllte der wütende Hüne. „Versteckt euch nicht. Seht mir wenigstens ins Gesicht, wenn ihr sterbt, Dumuzi!“ Er hätte seine Stimme lieber senken sollen, denn plötzlich tauchten drei Männer. Ihr Anführer, ein alter Mann, der sich nur auf einen Stock gestützt noch auf den Beinen halten konnte, starrte für eine Sekunde mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen in ihre Richtung, dann deutete er auf Atanas und rief seinen Begleiter zu: „Ergreift ihn!“ Er konnte an seinen Bewegungen deutlich erkennen, dass Atanas tatsächlich mit einem Gegner kämpfte, der sich mit aller Kraft wehrte und bestenfalls ein Tau'ri hielt Körpertarnschilde noch für etwas außergewöhnliches.

    Die beiden warfen sich auf Atanas, der den ersten zwar wie eine lästige Fliege beiseite schleuderte, vom zweiten aber aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Das verschaffte Saif etwas Luft. Mit beiden Händen bog er die letzte an seiner Kehle sitzende Hand auf, versetzte Atanas einen Ellenbogenschlag gegen die Kehle und sank dann an der Wand zusammen, während die beiden Männer mit seinem Gegner rangen. Erst als einer von ihnen mit einer Zat'nik'tel auf ihn schoss, wurde sein Toben schwächer und sie schafften es ihn festzuhalten. Der Alte – jetzt wo er nicht mehr abgelenkt war, erkannte Saif, dass es niemand geringeres als der Gottschlächter Pyrus war – war unterdessen näher gekommen und suchte mit neugierigen Blicken die Stelle ab, wo Saif gerade noch um sein Leben gekämpft hatte. Er stocherte mit seinem Stock nach ihm. Nachdem die metallische Spitze der Stützte ihn dreimal an der Brust getroffen hatte, rief Saif schließlich „Hört auf“ und deaktivierte das Tarngerät. Der alte Mann musterte ihn aufmerksam aus allen Winkeln, befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen und sah danach wechselweise zu Atanas und Saif. „Und ihr sollt Dumuzi sein?“ Saif schüttelte den Kopf. „Bin ich nicht.“ Pyrus drückte ihm den Stock unter das Kinn und hob so seinen Kopf ein wenig, betrachtete sein Gesicht noch einmal genauer und verdeckte mit einer Hand die untere Hälfte seines Gesichts. „Doch“, sagte er schließlich, „der Bart ist neu und ihr seid so ausgemergelt, dass man euch kaum erkennt, aber ihr seid es.“ „Bi...“ „Versucht nicht mir etwas vorzumachen. Eure Augen verraten euch. Ihr seid es.“ Er deutete auf Atanas. „Warum sollte euer treuester Soldat euch angreifen?“ „Ich habe keine Ahnung. Helft mir ihn zu Lord Nazih zu bringen.“

    Der Anblick eines verschlafenen Unas im Morgenmantel hätte wohl etwas Erheiterndes gehabt, hätte Nazih Atanas nicht um ein Haar mit bloßen Händen die Kehle aufgerissen, als er erfahren hatte, was Saifs Ermittlungen ergeben hatte. So schwer waren Atanas Verletzungen gewesen, dass sie Hazen hatten rufen müssen. Der Medicus saß nun sichtlich wenig erfreut darüber zum zweiten Mal binnen zwei Nächten aus dem Schlaf gerissen zu werden neben dem Offizier und behandelte ihn mit einem Heilgerät. „Ich benutze diese Technik nicht gerne“, sagte er bei einem Seitenblick auf Nazih. „Es erspart dem Patienten die Erfahrung der Genesung und mindert den Lerneffekt. Aber das hier lässt mir kaum eine Wahl. Ich nahm an ihr wüsstet, dass der menschliche Körper nicht für derartige Gewalteinwirkung gemacht ist.“ „Haltet euer loses Mundwerk geschlossen, Hazen“, fuhr Nazih ihn in Erwiderung an, während er unruhig im Raum auf und ab ging. „Gerne, wenn ihr dann bereit seid euer Temperament zu zügeln.“

    Nazih blieb stehen und starrte den Magister wohl ein Stück weit erschrocken über seinen Schneid mit weit aufgerissenen Augen an. Pyrus und Saif hingegen brachen in Gelächter aus. Die Situation entspannte sich schließlich, als Pyrus auf die Armlehne des Stuhls schlug, auf den er sich unaufgefordert gesetzt hatte und sagte: „Meine Herren, ich denke es ist Zeit, dass sie mir erklären was hier gespielt wird. Das planetenweite Flugverbot, die Unterbrechung der Kommunikation und das verstärkte Aufgebot an Soldaten hier im Palast waren ja Stoff genug für Gerüchte. Und jetzt wüsste ich gerne die Wahrheit.“ „Wenn wir sie denn selbst wüssten“, murmelte Saif. Pyrus nahm diese verbale Vorlage gerne auf und deutete mit knochigem, gichtgeschwollenem Finger in seine Richtung. „Fangen wir mit euch an. Ihr behauptet nicht Dumuzi zu sein. Wer seid ihr dann.“ Saif breitete in einer Geste der Ratlosigkeit die Hände aus und antwortete: „Sein Wirt. Meinen eigenen Namen kenne ich nicht und ich weiß auch nicht wo ich herkomme. Ich weiß nur, dass ich vor nicht ganz anderthalb Tagen plötzlich mit Schmerzen wie aus einem schon ewig dauernden Schlaf aufwachte und kurz vorm verrecken war. Irgendwie konnte ich mir selbst klar machen, dass man mich vergiftet hatte und wusste, was ich dagegen tun konnte. Ich kann nur vermuten, dass ich einmal trainiert wurde solche Situationen zu überleben.“

    „Sein Wirt?“ Auf Pyrus Gesicht zeichnete sich ein finsteres Lächeln ab. „Warum habe ich nur Probleme das zu glauben, selbst wenn der Beweis direkt vor mir sitzt? Wahrscheinlich aufgrund der Gerüchte, die darüber kursieren, wie ihr in Dumuzis schleimige Fänge geraten sein sollt. Und glaubt man denen, seid ihr ein Soldat der Tau'ri, erklärter Todfeinde der Goa'uld. Trotzdem helft ihr Dumuzis Werk und Leben zu schützen. Das passt nicht zusammen.“ Saif vergrub sein Gesicht für einen Augenblick in seinen Händen. Dann meinte er: „Tau'ri? Dann wisst ihr mehr als ich. Ich habe einfach nur getan was ich für das richtige hielt. Außerdem hängt mein Leben genauso mit drin, solange ich an ihn gefesselt bin. Wahrscheinlich wird er über kurz oder lang wieder zu sich kommen, aber ich kann leider nicht viel tun.“ „Und was wollt ihr nun tun?“ Er deutete auf Atanas. „Warten bis er wieder bei Bewusstsein ist und ein paar Fragen beantworten kann.“

    Gut eine halbe Stunde verging, in der sie schweigend beieinander saßen. Nazih hatte etwas von seinem Brennkraut angeboten und Pyrus versucht ein, zwei zotige Witze zu reißen, doch keiner hatte besonderes Interesse an einem Gespräch gezeigt. Schließlich hatte Hazen seine Arbeit beendet und verkündete: „Ich wecke ihn jetzt auf.“ Saif nickte, was Hazen alle Bestätigung gab, die er brauchte. Er setzte sich eine Maske auf und holte dann einen seiner Tiegel aus der Tasche, mischte darin ein helles Pulver mit etwas Wasser an und hielt Atanas das Gebräu, dessen scharfer Gestank selbst durch den schweren Duft des Brennkrauts hindurch noch zu riechen war, unter die Nase und schlug ihm ein paar Mal sacht auf die Wange. Nach der vierten Ohrfeige schreckte Atanas plötzlich mit röchelndem Atem und offensichtlich gegen Übelkeit ankämpfend hoch. Reflexartig versuchte er Hazen mit dem stinkenden Gemisch von sich weg zu schieben, der nur zufrieden nickte, seine Sachen einzupacken begann und sagte: „Meine Herren, er gehört ihnen. Ich hoffe, dass ich ihm kein zweites Mal in einer Nacht das Leben retten muss.“ „Keine Sorge“, knurrte Nazih, „wenn er nicht reden will, breche ich ihm nur ein paar Knochen.“

    Mit drei ausladenden Schritten durchquerte der Goa'uld den Raum und stand vor Atanas. Der Soldat sah eingeschüchtert zu dem Unas-Goa'uld auf, der selbst ihn noch um eine Haupteslänge überragte. „Kal kek m'al shol'va?“ Der Mensch rutschte soweit zurück, wie der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, während Hazen seine Arbeit getan hatte, es erlaubte und wäre damit beim Versuch noch weiter zurückzuweichen wohl umgekippt, hätte Nazih ihn nicht am Kragen gepackt und auf Augenhöhe vor sich gehoben. „Sag mir wer deinen Verrat unterstützt und was ihr vorhabt, dann lebst du vielleicht lang genug, um von Dumuzi selbst gerichtet zu werden.“ „Kein Wort.“ „Ich habe keinen Grund euch nicht zu töten.“ „Dann sterbe ich treu meiner Heimat“, antwortete Atanas entschlossen, auch wenn er ein Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken konnte, „meiner Heimat, die ihr verraten habt.“ Nazih stieß ein tiefes Grollen aus und hob eine klauenbewehrte Hand. „Gut. Dann stirb.“

    Saif sprang von seinem Platz auf und eilte neben Nazih, als der zuschlagen wollte. Er hielt seine Hand fest und sagte: „Ihr reagiert viel zu emotional, Idiot.“ „Zur Seite.“ Er atmete tief durch, zog die Zat'nik'tel, die er Atanas abgenommen hatte und richtete sie auf Nazih. „Egal wer ich in für euch bin“, verkündete er mit scharfem Tonfall, „ich teile Dumuzis Wissen und Gedanken, nicht ihr. Ihr werdet Respekt vor ihm zeigen, oder ich schwöre euch, ich schieße euch hier und jetzt über den Haufen.“ Pyrus Leibwächter hatten sich erhoben und ihre eigenen Waffen gezogen, doch der alte Mann gab ihnen ein Zeichen sich zurückzuhalten. Er lehnte sich zurück, als verfolge er einen guten Gladiatorenkampf oder ein spannendes Schauspiel und meinte: „Wartet. Ich will sehen wie das hier ausgeht.“ Nazih starrte Saif indessen an und suchte nach einem Zeichen der Wirt seines Freundes und Fürsten könne bluffen. Aber Saif stand nur eiserne Härte in die Augen geschrieben. Er war wirklich Soldat gewesen, hatte gelernt in kalter Berechnung zu töten.

    Er atmete tief durch und senkte dann mit einem wütenden Laut die zum Schlag erhobene Hand wieder. Saif nickte und richtete die Waffe nun auf Atanas. „Eure Heimat...“ - es brauchte einige Zeit, bis er in seinen überfrachteten Erinnerungen den Namen finden konnte „...Belaz Kerkin. Der Planet liegt in einem der mittlerweile ruhigsten Sektoren des Reichs, hunderte Lichtjahre entfernt von jeder Front. Seit Jahren ist kein Feind ihr auch nur nahe gekommen und das Reich hat seine Verträge eingehalten!“ Er sah zu Nazih und Pyrus. „Mir fehlen tagespolitisch drei Monate. Das Reich hat sich doch an die Vereinbarungen gehalten, oder?“ „Ja“, knurrte Nazih. „Der Planet wird wie zugesagt versorgt, abgesehen von unseren Flottenbasen auf seinem Mond gibt es keine Garnison und es hat keine Berichte über Verfehlungen der Magistrate oder der Fürsten gegeben.“ Sein Griff um Atanas Kragen wurde fester, schnürte ihm beinahe die Luft ab. Mit Mühe konnte er noch die Worte ausstoßen: „Ihr paktiert mit den Luzianern.“

    „Was?“, fragte Nazih und ließ den Delinquenten los, so dass er unsanft zu Boden fiel. „Was redet ihr da?“ Atanas rang für einen Moment nach Luft, stand dann auf und spuckte den beiden Goa'uld, respektive dem Goa'uld und dem Wirt, entgegen: „Ich habe eure Offerte an die Luzianer gesehen. Die Seiten zu wechseln dafür ihre Freiheit und ihren Besitz zu behalten.“ Saif dämmerte der Grund für Atanas Taten. Das wenige, was er sich über seine Welt ins Gedächtnis zu rufen vermochte war, dass sie nach dem Tod des Goa'ulds Penu, Unterlord von Svarog, im Krieg gegen die Erde von Kriegsherren der Allianz besetzt worden waren, unter denen ihre Situation sich sogar noch verschlimmert hatte. Der Hass der Menschen von Kerkin auf die Luzianer war nach sechzehn Jahren unter ihrer Herrschaft bis Dumuzis Truppen die Welt befreiten absolut beispiellos. Zehntausende hatten sich am Tag der Befreiung freiwillig für die Armeen des Sternenreichs gemeldet, bevor ein Vertrag hatte ausgehandelt werden können oder sie auch nur gewusst hätten, wofür Dumuzi stand. Den Ultionisten (lat.: Ultio = Rache, anm. d. Autors), wie sie unter den Soldaten auch heute noch genannt wurden, ging es einzig um eine Chance Rache zu nehmen. Wenn es wirklich ein Abkommen mit den Luzianern gab...

    „Das ist Unsinn“, unterbrach Nazih die Überlegung. „Es gibt kein solches Angebot.“ „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, geschrieben von Dumuzi selbst. 'Im Konflikt gegen die Allianz der luzianischen Kriegsheeren bietet die erhabene Krone von An jedem Gnade, Freiheit und Sicherheit von Leben und Besitz an, wenn er sich von der Allianz lossagt und unter das Banner des Sternenreichs tritt.' Worte aus seiner Feder, die seine Unterschrift trugen.“ „Ja“, sagte Nazih, „es gibt ein solches Schreiben. Aber der Wortlaut ist ein anderer. Dort heißt es bietet die erhabene Krone von an jedem einfachen Soldaten, der in die Reihen ihrer Feinde gezwungen wurde, jedem geknechteten Mann, jedem Sklaven und jedem, der sich nicht aus eigenem Willen gegenüber der Krone oder ihren Untertanen schuldig gemacht hat, Gnade, Freiheit und Sicherheit von Leben und Besitz an'. Es ist ein Angebot an einfache Soldaten, Zwangsrekrutierte und Sklaven. Ihre Anführer dürfen bei uns nie etwas anderes erwarten, als das Schafott.“ Atanas schüttelte den Kopf. „I... Ihr lügt.“ „Wenn ihr mir nicht glaubt, dann kommt mit und werft selbst einen Blick auf das Original.“

    Atanas schien auf einmal seinen festen Stand zu verlieren. Er begann zu zittern, seine Beine wurden Wackelig und er tastete nach dem Stuhl hinter sich. Er ließ sich darauf fallen, starrte ins Leere und murmelte: „Sie... Nein, dass kann nicht... Was habe ich nur getan?“ „Was immer auch es war, helft uns die Sache wieder zu richten“, forderte Saif ihn auf. Atanas reagierte zuerst nicht, sondern murmelte weiter zusammenhanglos erscheinende Worte vor sich hin, die erahnen ließen welche inneren Kämpfe er gerade austragen musste. Als Saif ihn kräftig anstieß, schreckte er zurück, fing sich aber binnen eines Lidschlags wieder und sah zu den beiden Männern vor ihm auf. „Sie haben mir diesen Erlass gezeigt. Ich hatte ihn zuvor noch nicht gesehen, aber ich habe die Handschrift meines Herrn sofort erkannt. Es hat mich rasend gemacht. Anstatt ihn sofort zur Rede zu stellen, habe ich mich überreden lassen, dass sich das Reich von ihm befreien muss, um zu bestehen und war bereit...“ Er zögerte kurz, schämte sich die Wahrheit auszusprechen. „Sie haben eine Frau geschickt, die mir etwas gab, dass ich unter sein Essen mischen sollte. Ich habe also Männer für den Wachdienst eingeteilt, von denen ich sicher sein konnte, dass sie keine Fragen stellen würden und dafür gesorgt, dass ihre Scanner präpariert wurden. Später begann man auch in Fürst Ruslan eine Bedrohung zu sehen. Seine Versuche eine Armee aufzubauen sind nicht unbemerkt geblieben und man wollte ihm keine Chance geben den Thron nach Dumuzis Tod einzunehmen. Also sollte ich Männer seiner Leibwache bestechen ihn zu töten.“

    „Wer sind 'sie'? Wer steckt dahinter?“ „Regentin Medea, Lord Hector, Fürst Besmer und vielleicht noch ein halbes Dutzend andere. Ich kenne nicht alle Namen.“ Nazih wiegte den Kopf etwas zur Seite. „Ihr sagtet die Verschwörer würden behaupten zum besten des Reichs zu handeln. Besmer hat sich uns damals nur aus Furcht vor einer Besetzung seiner Welt und dem Verlust seines Throns angeschlossen. Ich glaube nicht daran, dass unser aller Schicksal ihm plötzlich am Herzen liegt.“ „Was sind die weiteren Pläne?“, bohrte Saif nach. „Ich weiß es nicht. Man hat mir nicht mehr gesagt, als ich unbedingt wissen musste und es war mir in der Situation auch egal.“ In ihrem Rücken räusperte Pyrus sich. Langsam erhob der alte Mann sich von seinem Platz. Einer seiner Männer musste ihn stützen, damit er nicht wieder zurückfiel. Er trat zwischen die drei und sagte: „Mit Verlaub, aber ich denke ich kann hier behilflich sein. Medea hat mich in den letzten Wochen einige Male in Gespräche über die Zukunft von Reich und Adelsrat verwickelt und brachte jedes Mal starke Bedenken zum Ausdruck. Einmal verlangte sie sogar die Fürsten müssten ihre Souveränität zurückerlangen. Ich vermute sie wollte ausloten, ob es möglich wäre mich anzuwerben. Und hier liegt eine Chance.“ Er straffte sich so gut es ging und ein selbstzufriedenes Lächeln blitzte in seinem von tiefen Falten zerfurchten Gesicht auf. „Ich werde auf diese Avancen eingehen. Ruslan und Kyron haben mir dafür heute einen erstklassigen Vorwand geliefert.“

    „Das könnte klappen. Auf diese Weise könnten wir an die benötigten Informationen gelangen und einem Umsturz zuvorkommen,“ pflichtete Nazih bei. Saif nickte. „Wir müssen Ruslan warnen und Lord Anatas an Schiffen versammeln lassen, was er unauffällig irgendwo abziehen kann. Mag sein, dass wir ihre Pläne nicht kennen, aber kann es nicht schaden schnell reagieren zu können. Sobald ihr, Fürst Pyrus, Ort und Zeit eines Treffens habt, begleite ich euch mit einer Einheit Sodaner. Sie werden nicht merken, wie ihnen geschieht.“ Nazih lächelte zufrieden, packte Atanas am Arm und zog ihn wieder auf die Füße. „Nur für alle Fälle: Ich habe da noch ein Stück Kontrolltechnologie, für das ich dringend einen Testkandidaten suche. Was mit ihm passiert soll Dumuzi entscheiden.“ „Ich tue das hier für Gotteslohn“, schaltete Pyrus sich noch einmal ein. „Aber in seiner altmodischen Form.“ Nazih sah über die Schulter zu ihm. „Und an was hattet ihr gedacht?“ „Wenn Besmer mit in diese Angelegenheit verwickelt ist, ist mir das schon halber Lohn. Ich hasse seine Arroganz und würde einen Arm dafür geben ihn auf dem Schafott zu sehen. Aber er hat auch einige Welten in der Nähe zu meinen und ich... Nun, ich habe zwei Töchter und bin alt. Ich fürchte sie könnten sich um mein Erbe streiten. Wenn aber nun auf Besmers Welten ein Platz auf dem Thron frei wird und ihr zu meinen Gunsten, oder besser: Zu den Gunsten meiner Töchter entscheiden könntet...“ Nazih nickte und hielt ihm die Hand hin. „Wir sind im Geschäft, Pyrus Gottschlächter.“



    Am folgenden Tag hatte Medea, Regentin von Erakis, sich bereits früh in ihr Arbeitszimmer begegeben. Die Dinge hatten sich während der letzten Tage entwickelt wie geplant. Der Verlust ihrer Giftmischerin mochte so nicht eingeplant gewesen sein, doch dass Hazen und seine besten Ärzte diesen Morgen gesehen wurden, wie sie sich gemeinsam in Dumuzis Gemächern eingefunden hatten und die Wachen vor den herrschaftlichen Gemächern immer noch in doppelter Stärke standen zeigte, dass sie ihren Zweck erfüllt hatte. Es blieb noch viel Arbeit, doch Erakis und alle ihre Welten würden sicher sein. Der Gedanke ließ sie auch die schier unendlich dröge Neuverhandlung verschiedener Handelsverträge verschmerzen, die an diesem Nachmittag anstanden. Ihr war klar, dass diese Verträge in naher Zukunft nicht mehr das Papier wert sein würden, auf dem sie festgehalten wurden und hätte die Treffen am liebsten abgesagt. Nur die Sorge zu früh Misstrauen zu erregen hielt sie davon ab ihren Terminplan umzuwerfen. Mochten andere sich jetzt noch schnell sie Taschen vollstopfen, sie würde den Plan nicht gefährden.

    Während sie sich eine weitere Empfehlung ihres Außenhandelskanzlers für die bevorstehenden Verhandlungen über Konzessionen für den Naquadaabbau durchlas, öffnete sich die Tür ihres Zimmers auf einmal einen Spalt weit und einer ihrer Diener trat ein. Er eilte an ihren Schreibtisch. „Herrin“, begann er, „Fürst Pyrus ist hier. Er wünscht sie zu sprechen.“ „Pyrus?“ „Ja, edle Herrin. Der Seneschall hat ihn gebeten im Observatorium Platz zu nehmen.“ Ohne zu zögern klappte sie die Mappe mit den Handelsunterlagen zu, erhob sich und sagte: „Teile er ihm mit, dass ich in ein paar Minuten bei ihm sein werde und lasse er Wein bringen.“

    Trotz seines Namens war das Observatorium keine Sternenwarte im eigentlichen Sinne. Medea, die immer von der Schönheit des Sternenhimmels und der Galaxie fasziniert gewesen war, hatte im großen Salon ihres Anwesens einen leistungsstarken Holoprojektor installieren lassen, der ein detailgetreues Abbild der Galaxie unter die Decke projizierte. Sie liebte den Anblick von Milliarden Sternen, Nebeln und kleineren Himmelskörpern und das entfernte Funkeln der Quasare, die aus den äußersten Ecken des Raumes hinüberzuscheinen schienen. Sie konnte Stunden an diesem Ort verbringen und die Sterne studieren. Sie bildete sich mittlerweile ein eine Karte der Galaxie mit allen besonders hellen Sternen aus dem Kopf zeichnen zu können. Zudem hatte der Raum neben seiner Schönheit einen ganz praktischen Zweck: Er war frei von Spionagegeräten und gut abgeschirmt. Als sie eintrat, saß Pyrus auf einem Stuhl, den ein Diener ihn aus einem Nachbarraum gebracht haben musste. Medea schenkte ihm ein freundliches Lächeln, trat vor ihn und knickste. „Ya duru arik kek onac, Fürst Pyrus.“ „Tek'ma'tek, Regentin. Danke, dass ihr mich empfangt.“ Sie lächelte unerschütterlich weiter, legte sich auf einen Divan ihm gegenüber, strich ihr Kleid glatt und fragte: „Wollt ihr es euch nicht auch bequem machen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man wichtige Gespräche am besten entspannt führen kann.“ Ihr Gast schüttelte den Kopf. „Nein danke. Ich traue Liegen und Betten nicht mehr. Wenn ich mich hinlege kann es gut sein, dass ich nicht mehr hoch komme.“ Sie nickte. Einer ihrer Diener kam und brachte Kelche mit süßem erakischen Wein. Sie erhob ihren Kelch, so dass die Lichter der Galaxie sich in seiner goldenen Form und den Edelsteinen brachen und sagte: „Auf eine große Zukunft.“ Er erwiderte den Gruß, nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Während er in seinem Gewand kramte erklärte er: „Eben diese Zukunft ist es, über die ich mit euch sprechen möchte.“

    Er zog einen Flachmann hervor, goss etwas vom Inhalt in den Wein und trank einen zweiten Schluck. „Besser“, bestätigte er mit einem Nicken. Dann reichte er den Becher einem seiner Begleiter, der ihn für ihn hielt, und begann: „Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe und mache mir Sorgen über die Zukunft meiner Töchter.“ „Mir ging es wohl nicht anders. Schließlich leben unsere Taten nur in unseren Kindern wirklich fort, oder?“ „Ihr sagt es. Ich habe nachgedacht. Ihr habt mir in den letzten Wochen immer wieder gesagt die Fürsten müssten ihr Schicksal selbst und ohne Bevormundung bestimmen dürfen. Nach allem was gestern passiert ist muss ich euch zustimmen. Ich will nicht, dass meine Töchter unter der Hegemonie einer Allianz von Ruslan und Kyron aufwachsen. Ruslan ist ein Barbar und dieser Schönling Kyron hat die Hand meiner Shyla abgelehnt. Bei einem Mann der in Begleitung von Jünglingen anstelle von Frauen auf Reisen geht hätte ich wohl auch nichts anderes erwarten dürfen.“ Er gab seinem Diener einen Wink, auf den hin dieser ihm den Kelch hinhielt, so dass er noch einen Schluck nehmen konnte. „Ich traue keinem von beiden und ich will in alle Ewigkeit verdammt sein, wenn ich zulasse, dass sie das Reich an sich reißen.“ „Und weshalb seid ihr zu mir gekommen?“ „Ihr hattet gestern den Mut euch offen gegen sie auszusprechen. Ich hatte gehofft in euch eine Verbündete zu finden.“

    Sie nickte. „Dieser Hoffnung kann ich entsprechen. Aber diese beiden sind nicht das einzige Problem.“ Pyrus sah sie einen Moment lang mürrisch an. Dann sagte er: „Dumuzi und seine Goa'uld.“ „In der Tat. Sie treiben uns zu ihren Kriegen, pressen uns Tribute ab und zwingen uns ihre Gesetze auf. Sie loszuwerden muss der erste Schritt sein den Frieden zu schaffen, den unsere Welten so dringend brauchen.“ „Tribut? Erheben wir nicht auch Steuern von unseren Untertanen?“ „Ich will es nicht bestreiten. Nur handeln wir zum wohl unserer Welten, nicht für unsere eigenen Ziele.“ Der alte lachte schallend, bis er Atemnot bekam und einer seiner Begleiter ihm auf den Rücken klopfen musste. „Sprecht in diesem Punkt für euch selbst“, erklärte er schließlich mit hochrotem Gesicht. „Meine Welten interessieren mich bis meine eigenen Interessen bedient sind. Das die in den letzten Jahren denen meines Volkes entsprachen ist Zufall. Der Pöbel hat seinen Platz zu kennen und ich stelle sicher, dass er ihn nicht verlässt. Aber egal: Solange ihr mich gegen Ruslan unterstützt könnt ihr auch gegen Dumuzi auf mich zählen, egal was kommt.“ „Sehr gut. Ich lasse euch heute Abend Bescheid geben. Ich denke ich sollte euch den anderen vorstellen.“



    Gegen Abend:

    Ein Gleiter setzte Pyrus und seine Ehrengarde aus acht Mann bei einem abgelegenen Anwesen ab. Maß man die Bedeutung des hier residierenden Fürsten an der Entfernung zum herrschaftlichen Palast konnte es kaum einen unbedeutenderen Aristokraten auf An geben. Kilometerweit erstreckte sich in alle Himmelsrichtungen nur lichter Wald und die Lichter der großen Paläste und Heerlager erschienen in der Dämmerung weit entfernt. In einer kleinen Eingangshalle, die kaum zwanzig Leuten Platz geboten hatte, traten ihnen einige Männer in dunklen Tuniken entgegen, die Zats und Stabwaffen trugen. Ihr Anführer verneigte sich vor Pyrus und sagte: „Seid willkommen, edler Herr. Ihr verzeiht, aber eure Männer müssen ihre Waffen abgeben und ich muss euch scannen.“ Er hob einen Scanner und wollte Pyrus damit untersuchen, doch dieser Stieß ihn mit seinem Stoch in die Brust. „Immer langsam, Bürschchen. Ich habe schon über das Schicksal von Welten bestimmt, als deine Urahnen einander noch nicht einmal kennen gelernt haben. Glaubst du ich lasse zu, dass irgendein dahergelaufener Schläger, den jemand angeheuert hat, der am Hof so unbedeutend ist, dass ich seinen Namen im Adelsverzeichnis nachschlagen musste, meinen Leuten ihre Waffen abnimmt?“ „Verzeiht“, erwiderte der Mann mit angemessen unterwürfigem Tonfall, „wir sind im Auftrag unseres erlauchten Fürsten Besmer hier. Er besteht auf dieser Sicherheitsmaßnahme.“ „So sage er seinem Fürsten, dass er mich am Arsche lecken kann.“ Mit diesen Worten umrundete er den Wachmann und verschwand in Richtung des Hofes. Dieser machte im Vorbeigehen seinen Scann und gab seinen Leuten ein Zeichen ihn durchzulassen. „Sie sind sauber“, sagte er, „keine Scanner, keine Symbionten.“

    Pyrus stakste weiter zu einem kleinen Hof, in dem jemand eine üppig gefüllte Tafel aufgebaut hatte. Viele Aristokraten waren bereits eingetroffen. Medea, die mit zwei Männern in reich bestickten Mänteln sprach, prostete ihm mit einem Glas zu und Lord Hector, der ihn bemerkt hatte, kam auf ihn zu. Der Goa'uld Unterlord verbeugte sich nicht, sagte aber: „Ich freue mich euch zu sehen, Fürst Pyrus. Euch für unsere Sache zu gewinnen ist ein großer Vorteil.“ Pyrus presste die Lippen zusammen und sah sich um. „Ich kann sehen warum. Ich hatte mit einem mächtigeren Zirkel gerechnet. Wie wollt ihr mit diesen Jammergestalten bloß erfolgreich sein?“ „Oh, keine Sorgen wir sind... stärker... als sie denken.“ Bei diesen letzten Worten wich sein überhebliches Grinsen und er sah sich um, als habe er etwas unerwartetes gespürt. Für eine Sekunde schien er nachzudenken, dann sagte er: „Entschuldigen sie mich bitte, ich habe noch etwas wichtiges zu erledigen. Sagen sie den anderen nicht auf mich zu warten.“ Mit diesen Worten verschwand er.

    Kurze Zeit später hatten alle sich an der Tafel gesetzt, angefangen zu essen und die zahlreichen Privatgespräche waren abgeflaut. Medea, die offenbar als Wortführerin fungierte, hatte ihm alle Anwesenden vorgestellt, was zwar nicht nötig gewesen wäre, ihm aber doch noch einmal ein gutes Gefühl für die Stärke dieser Fraktion verschaffte. Seine erste Einschätzung war falsch gewesen. Gemeinsam kontrollierten die Anwesenden in ihren Hausgarden und den Armeen ihrer Fürstentümer gut ein Drittel der Adelsstreitkräfte. Bedachte man, dass der restliche Rat die meiste Zeit hoffnungslos zerstritten war und mächtige Männer wie Ruslan oder Kyron sich niemand anderem unterordnen würden, selbst aber nicht konsensfähig waren und dass sich bei einem Tod Dumuzis seine Generäle höchstwahrscheinlich anderen Herren angedient hätten, hätten sie zumindest eine Chance gehabt das Reich so sehr zu destabilisieren, dass es für niemanden von ihnen mehr eine Gefahr darstellte. Nur um tatsächlich zu siegen... ?

    Als sie mit der Vorstellungsrunde fertig war, fragte er: „So eindrucksvoll die Runde ihrer Unterstützer auch sein mag: Ohne einen wirklich mächtigen Verbündeten wie Ruslan werden Dumuzis Kräfte sie wie einen Käfer zerquetschen. Er hat beinahe so viele Männer auf sich eingeschworen, wie alle Sitzenden des Adelsrats zusammen und dabei müsste man noch davon ausgehen, dass eure Männer seinen auf dem Schlachtfeld auch ebenbürtig sind. Aber ein einziger Blick auf die Heerlager der Junayd verrät mir, dass jeder dieser Fanatiker 6 meiner eigenen Soldaten wert wäre.“ „Um Dumuzi haben wir uns bereits gekümmert“, erklärte Medea nicht ohne Stolz. „Wir konnten eine Linvris'taur für unsere Sache gewinnen. Wir wissen, dass das Gift, dass sie ihm verabreicht hat, zu wirken begonnen hat.“ Er nickte. Er hatte von den Linvris'taur gehört, den Menschen der Linvris. Sie waren Nachfahren der Diener einiger Unterlords, die gut dreihundert Jahre lang gegen den Rat der Systemlords unter Ras Führung gekämpft hatten, bis sie unter ungeklärten Umständen verschwanden. Nur die Menschen, die ihnen gedient hatten, waren zurückgeblieben. Erzogen zu fanatischem Hass auf die Systemlords und ausgestattet mit Wissen und Ressourcen ihrer alten Herren hatten sie sich einen Ruf als gefürchtete Assasinen verdient, die was ihnen gegenüber Ashraks an körperlicher Stärke und Widerstandsfähigkeit fehlte mit Gerissenheit und ihrer Fähigkeit als Giftmörder wieder wett machten.

    „Einer unserer Agenten musste sie leider eliminieren, als sie hinter einem von Dumuzis Spionen her war, der zu viele Fragen stellte und entdeckt zu werden drohte, aber wir können sicher sein, dass er im Sterben liegt. Dumuzi kann uns nicht mehr aufhalten. Und in ein paar Tagen haben wir seinen Kopf.“ Pyrus hielt dabei Inne einen Happen von einem Stück Fleisch abzubeißen und frage mit noch gefülltem Mund: „Wie meinen?“ „Wir haben eine Flotte versammelt, die Morgen hier eintreffen wird. Sie wird die planetare Verteidigung zerstören, die hier stationierten Junayd vernichten und Truppen landen. Wir können den Palast binnen zwei Stunden besetzen, Dumuzi hinrichten und abziehen, bevor jemand reagieren könnte.“ Kauend nickte er. „Aber euch sollte klar sein, dass der eigentliche Krieg damit erst beginnen wird. Irgendjemand der nach Rache schreit wird sich finden. Ich habe euch erklärt, dass ich das hier für meine Töchter tue. Ich brauche mehr Sicherheit.“ Medea wägte einen Moment lang das Für und Wider ab ihm noch mehr zu verraten. Dann sagte sie: „Der Angriff wird das Reich ins Chaos stürzen. Dessen was danach übrig bleibt werden sich unsere Verbündeten annehmen.“ „Was für Verbündete?“ Sie deutete auf einen hageren Mann, der in seiner schlichten Kleidung und mit seinem streng zurück gekämmten Haar hervorstach. „Die Aschen-Hegemonie.“ Sein Besteck fiel Pyrus aus der Hand und für einen Moment war er sprachlos.

    „Das ist Mollem, Abgesandter der Hegemonie.“ Als er seine Worte wieder gefunden hatte fragte Pyrus: „Welches Angelegenheiten hat die Hegemonie plötzlich mit dem Reich? Sie haben zwanzig Jahre lang nicht das geringste Interesse an irgendeiner unserer Welten gezeigt.“ „Lasst das unsere Sorge sein“, platzte es sofort aus dem Aschen heraus. „Es sollte euch reichen zu wissen, dass es euer Schaden nicht sein wird mit uns zu kooperieren.“ „Gerade das reicht mir nicht", erwiderte der Alte erbost. Hätte es nicht aller Vernunft widersprochen hätte er glauben konnen der Aschen sei bei seiner Frage zusammengezuckt. Hatte er Angst? „Bitte, Pyrus“, mischte Medea sich ein, „beruhigt euch. Sehr ihr, viele von uns hatten in den letzten Monaten mit den Aschen. Zwei meiner Welten wurden von ihnen mit Blockaden belegt und auf einer dritten haben sie die Bevölkerung zwangsweise umgesiedelt. Meine Flotte hat einen Versuch unternommen ihnen entgegen zu treten und wurde vernichtend geschlagen. Dumuzi hat nichts von sich hören lassen und von An Hilfe zu bekommen war aussichtslos. Dann kam eines Tages Mollem zu mir und unterbreitete mir ein Angebot: Die Offensive wird eingestellt, wenn wir dem hier zustimmen.“ Er wollte etwas sagen, doch sie brachte ihn mit einer ermahnenden Geste zum Schweigen und erklärte: „Selbst wenn das Reich den Aschen vereint sicherlich widerstehen könnte, wäre es zu kurz gedacht das Angebot auszuschlagen. Bedenken sie, dass die Aschen kein kriegerisches Volk sind. Expansiv ja, aber nicht kriegerisch. Aber zur Zeit suchen sie nicht nur die Konfrontation mit uns, sondern auch mit Tau'ri und seinen Verbündeten. Entweder werden sie von einem in ihrer Geschichte einmaligen Anfall von Wahnsinn geritten, oder sie haben ihrerseits einen mächtigen Verbündeten, der mindestens ein Gleichgewicht der Kräfte gewährleisten kann.“ Sie sah zu Mollem, der dazu aber nicht einmal die Mine verzog, sondern einfach nur ruhig dasaß und aß. Also hob sie ihr Glas zu Pyrus und sagte: „Ich will auf der Seite der Sieger stehen. Was ist mit euch?“

    „Ich denke, dass ich genug gehört habe“, antwortete der alte Mann und hob die rechte Hand zu einem vereinbarten Zeichen. Um sie herum enttarnten sich plötzlich zwei Dutzend Krieger der Sodaner. Einige packten die vor ihnen Sitzenden Adeligen sofort, schmetterten sie gegen die Tische und begannen ihnen Fesseln anzulegen, andere schwärmten aus, um das Gebäude von Wachen zu säubern. Saif, der die Gruppe führte, gab über Kommunikator den Befehl durch Lord Hector zu suchen und befahl Drohnen zu ihrem Standort. Er selbst richtete seine Stabwaffe auf den Aschen und befahl mit scharfem Tonfall: „Keine Bewegung.“ Der Aschen aber zog nur die Augenbrauen hoch und antwortete: „Ich glaube nicht.“ Dabei wedelte er mit seiner Rechten über einen Ring am linken Zeigefinger und verschwand einen Sekundenbruchteil später in einem Lichtblitz. Saif fluchte leise und brüllte über die Rufe der in Panik geratenen Adeligen hinweg: „Bringt alle in den Palast. Wer Widerstand leistet wird erschossen. Und findet diesen Aschen!“

    Einige Kilometer entfernt erschien Mollem auf einem in der unberührten Wildnis Ans gelandeten Raumschiff, das unter einem holographischen Schild versteckt lag. Die beiden Raumfahrer und der Offizier, die an Bord die Stellung gehalten hatten, sahen ihn fragend an. „Botschafter?“ „Die Verschwörer sind aufgeflogen“, antwortete dieser mit schnell gehendem Atem. Sein Herz raste und er sah vor seinem inneren Auge immer noch das Aufblitzen der Stabwaffe, die vor seinem Gesicht aktiviert wurde. „Sie werden den Schild bald senken. Wir werden uns dann sofort zurückziehen.“ Er zog einen seiner Ringe, ein getarntes Datenspeichergerät, ab und reichte ihn dem Offizier. „Informieren sie General Keel über alle Vorfälle. Um den Bericht an Legat Octavus werde ich mich persönlich kümmern.“

    Einige Stunden später stand Saif im Ankleidezimmer von Dumuzis Gemächern und ließ sich vom Lo'taur und einem Leibdiener in ein herrschaftliches Gewand einkleiden, das seine abgemagerte Statur verbarg. Ein dritter war dabei eine Maske aufzupolieren, der der gleiche Zweck bei seinen eingefallenen Wangen zukam. Auch Nazih, der an einem Tisch im Nebenraum letzte Feineinstellungen an einem Gerät vornahm, das er in ein Schmuckstück verarbeitet hatte, hatte sich eingefunden. Als die Diener ihn fertig ausstaffiert hatten und er aus dem Zimmer heraustrat, erhob Nazih sich von seinem Platz und legte ihm das Schmuckstück um den Hals. „Solange ihr es über dem Kehlkopf tragt“, erklärte er, „wird es eure Stimme verzerren. Spielt also nicht daran herum.“ Sobald er es justiert hatte, griff er nach einem Injektor, der daneben bereit gelegen hatte. „Hazen bestand darauf, dass ich euch das hier noch gebe. Ein Enzym, dass den Abbau des Giftes in eurer Blutbahn beschleunigen sollte.“ Er setzte ihm das Gerät an eine Schlagader und verabreichte die Arzenei. „Glaubt man ihm hat es Dumuzi das Leben gerettet, dass er dieses Zeug früher bei Tempeldiensten regelmäßig genommen hat. Unsere Körper vergessen nicht so schnell und seiner war daran gewöhnt, soweit man sich an ein derart gefährliches Nervengift gewöhnen kann.“ Saif rieb sich die Injektionsstelle und sagte: „Na toll. Schon mal über die Konsequenzen für mich nachgedacht? Ich hab ihn bald wieder am Hals.“ Seine Stimme klang tief wie die eines Goa'uld. „Spart euch wenigstens einmal eure Kommentare“, gab Nazih zurück. „Ruslan hat den Rat einberufen. Das wird euer Auftritt. Vermasselt es nicht.“

    Aufgeregte Stimmung herrschte im Ratssaal, während Ruslan eine Ansprache hielt, in der er die Fürsten auf die kommenden Konflikte einstimmte. Einige erhoben sich und unterbrachen ihn immer wieder mit anklagenden Worten, während andere auf die vielen leeren Sitze schielten. Als ein Eklat unumgänglich schien, öffnete sich schließlich die Pforte des Raumes und Saif erschien begleitet von einer Garde aus Junayd und Sodanern. Die Stimmen wurden sofort leiser, die Gespräche aber gleichzeitig intensiver. Die Fürsten tuschelten aufgeregt miteinander, während Saif an Ruslan vorbei ging, der ihm freundlich zunickte. Die Warnung, die Nazih ihm im Namen Dumuzis hatte zukommen lassen, hatte den Samartenfürst mit einer Klinge schlafen lassen, so dass er sich seiner Haut hatte erwehren können, als Verräter nachts in seine Kammer eingedrungen waren. Saif nahm auf dem Thron an der Stirnseite des Raumes Platz und sagte: „Fürsten des Reiches! Für Wochen habe kein Wort an euch gerichtet, weil ich einem schwerwiegenden Gerücht nachgehen musste: Dem des Verrats in den Reihen dieses erlauchten Hauses.“

    Er gab ein Zeichen, auf das hin mehrere Soldaten die in Ketten gelegten Verräter vorführten. „Diese Nobelmänner werden des Verrates am Reich und der Krone angeklagt.“ Er hob die Hand und aktivierte mit einer Geste seiner Finger einen Holoprojektor, der Aufnahmen von Medeas gestrigen Worten an Pyrus und die konspirativen Runde zeigte. Als das Video abgespielt war, fragte er: „Gibt es in diesem Kreis jemanden, der sich für die Anklage verbürgt?“ „Ich“, rief Pyrus, der sich von seinem Platz erhob, „denn ich habe es gesehen!“ „Ich“, fiel Ruslan mit ein, „denn ich habe das Wort meiner Leibwache, dass diese Leute sie bestochen hat mich zu töten.“ Als niemand sonst etwas sagte, fragte er: „Gibt es in dieser Runde jemanden, der für die Angeklagten sprechen will?“ Nach einigem Zögern erhob sich ein Fürst, der in den Sitzreihen zu Saifs Linker saß. „Ich, denn auch meine Welten werden bedroht. Ich sehe keine schwere der Schuld.“ Er nickte und...

    Dumuzi erlangte aus ewig erscheinender Agonie wieder die Herrschaft über die Sinne seines Wirts, seine Sinne. Überrascht stellte er fest, dass er sich vor den versammelten Reichsständen im Ratssaal befand, auf dessen Boden in Ketten gelegte Fürsten umgeben von einem Spalier aus Junayd standen. Verwirrt und ohne jedes Wissen wie er hier her gelangt war, oder was dies bedeutete, durchsuchte er die Erinnerungen seines Wirts. Die letzten Tage liefen wie ein schneller Film vor seinem Auge ab, in dem er alle Empfindungen des Helden teilte. Er sah, wie dieser Tau'ri, der ihm bei ihrem ersten Treffen nur offen seinen Hass ins Gesicht geschrien hatte, zu seinen Gunsten gehandelt hatte. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Zufriedenheit, die selbst den Schmerz zu überspielen vermochte erfasste seinen Geist und ließ ihn sich noch etwas gerader auf dem Thron aufrichten. „Dann hört das Urteil der Krone und des höchsten Sitzes des Reichs.“ „Halt“, unterbrach ihn eine Stimme von der Pforte her. „Auch ich will gegen die Angeklagten sprechen, denn ich habe ihren Planungen Wochen lang beigewohnt.“ Einige Wachen traten zur Seite und gaben Lord Hector den Weg frei, der auf den Stufen des Ratssaales stand. Er durchquerte den Saal, kniete vor Dumuzi nieder und sagte: „Mein Lord, ich trete vor euch als euer untertänigster Diener.“ „Was sagt ihr zum Vorwurf mit den Verrätern paktiert zu haben?“ „Das ich es nicht leugne. Doch in intensiver Überlegung kam ich zu dem Schluss falsch gehandelt zu haben und habe Dinge in die Wege geleitet, von denen ich hoffe, dass sie mir eure Vergebung einbringen werden.“

    Dumuzi lächelte. Dieser widerliche Geselle hatte nur im letzten Moment die Anwesenheit der Sodaner gespürt, die Pyrus getarnt auf dem Fuß gefolgt waren, und eingesehen, dass ihre kleine Verschwörung aufgeflogen war. Nun versuchte er sein Fähnchen nach dem Winde zu drehen. Er dachte über die angeklagten Fürsten nach, dann nickte er und sagte: „Hört das Urteil der Krone und des höchsten Sitzes dieses Reichs: Beweise und gegen sie vorgebrachte Eide lassen nichts anderes zu als die Angeklagten des Verrats für schuldig zu erklären. Doch...“ Er erhob sich, ging zu den knieenden Fürsten und nahm einige heraus. „Medea von Erakis, Sharna von Dendred, U'kin von Xia, eure Welten liegen in unmittelbarer Nähe der Hegemonie der Aschen. Ihr hattet viel zu verlieren. Ich bin großzügig und bereit zu vergeben, euch euer Leben zu lassen, wenn ihr neue Eide schwört.“ U'kin, ein fülliger Mann, dessen in Ehren ergrautes Haar von einem für viele Welten des Reiches noch sehr hohen alter Kündeten, fiel vor ihm auf die Knie, verbeugte sich bis seine Stirn den Boden berührte und sagte: „Was ich tat, tat ich meine Welt zu schützen. Ich bitte euch: Vergebt mir Herr.“ Medea tat es ihm gleich. Die dritte Fürstin hingegen reckte stolz das Kinn, trat zurück in die Reihe der anderen und sagte: „Auch eure Tyrannei wird enden. Eines Tages wird Dendred wieder frei sein.“

    Dumuzi nickte. „Wie ihr wünscht. Das Urteil lautet Tod und wird sofort vollstreckt. Junayd!“ Die Soldaten reagierten sofort, richteten ihre Stabwaffen auf die Verurteilten und aktivierten sie. „Feuer!“ Jeden trafen zwei Schüsse aus nächster Nähe gegen Kopf und Herz. Sie alle starben, bevor ihre Leichen den Boden berührten. Schockierte Stille machte sich breit. Davon unbeeindruckt sethte Dumuzi sich wieder auf seinen Thron und sah Medea, U'kin und Hector. Aufordernd hielt er ihnen die Hand hin, an der er das Reichssiegel trug. Hector war der erste, der die Hand ergriff und sagte: „König des Reiches, Herr des Sternenthrons! Eure Feinde sollen meine Feinde sein, eure Feunde meine Freunde. Ich will euch allzeit treu und gewärtig sein.“ Medea und U'kin wiederholten den Schwur. Dumuzi hob die Hand und sagte: „Ich akzeptiere eure Eide. Eure Domänen werden euch genommen von Magistraten der Krone verwaltet werden, bis ihr euch durch Dienst am Reich von eurer Schuld rein gewaschen habt.“ Er erhob sich und sah in Richtung des Fürsten, der für die Angeklagten gesprochen und es ihm so unmöglich gemacht hatte alle gemeinsam hinzurichten. „Die Feinde des Reiches haben versucht einen Keil zwischen uns zu treiben. Es ist die Pflicht der Krone alle ihre Untertanen zu schützen. Und das werden wir tun. Wir werden ihnen mit aller Macht begegnen. Fürst Ruslan!“ Der Samart trat mit raschen Schritten vor ihn und verbeugte sich. „Brecht noch heute auf und zieht mit euren Streitkräften gegen die Aschen. Zehn Brigaden der Junayd werden auf Erakis zu euch stoßen. Treibt sie von den Welten des Reiches und holt die verlorenen Territorien zurück. Ich selbst werde eine zweite Streichtmacht nach Xia führen.“ Die Starre, in die der Anblick der Hinrichtung von fast dreißig aus ihren Reihen die Fürsten gezwungen hatte, brach und lauter Jubel brandete auf. Sie würden kämpfen. Das Reich würde nicht kampflos vor neu erwachtem Expansionsdrang fremder Völker weichen.

    Einige Stunden später saß Dumuzi in seinem Arbeitsraum über Plänen für Feldzüge gegen die Aschen und Luzianer. Das erste Mal in seiner jungen Geschichte würde das Reich die volle Stärke seiner Kriegerelite aufbieten. Eine fast unmögliche Aufgabe Die logistische Herausforderung war gewaltig. Nach Stunden anstrengender Arbeit legte er seine Schreibfeder beiseite, stützte das Kinn auf eine Hand und sah den Vogel an, der nun schon seit einer halben Stunde geduldig vor ihm saß und immer wieder zwischen ihm und dem auf einem silbernen Teller liegenden Mandelgebäck, einer der reichhaltigsten Speisen, deren Rezepturen sein Diener kannte, die ihm auf Anweisung des Arztes in großen Mengen gebracht worden war. Er brach etwas ab und legte des dem Vogel hin, der hüpfend darauf zu steuerte und sich darüber her machte. Sein Blick fiel hinaus durch den Innenhof und auf den Sternenhimmel. Warum kämpfte er weiter? Für dieses Reich? Aus Rache für den Verrat? Aus Rache für... Sein Wirt hatte sich des Namens eines fast vergessenen Lebens bedient. Saif-ul-Ahura, der Schwertmeister, der eine Horde Bauern zu einer Armee geformt und zum Sieg über die Jaffa Morrigans und Sokars geführt hatte, hätte nie zugelassen, dass Verzweiflung sein Handeln bestimmt. Saif der Eroberer hätte nach dem Tod seiner Geliebten die Galaxie mit Feuer überzogen, bis er die Schuldigen zur Strecke gebracht hatte. Er hätte diese Feldzüge viel früher begonnen. Er war kein Systemlord. Er war ein Goa'uld.

    Seine Hand berührte Saifs Schwert, das vor ihm auf dem Tisch lag. In Jahrtausenden, in denen er vor Mächtigeren den Bückling hatte machen müssen, ihr Untergebener gewesen war um zu überleben, hatte er mehr und mehr verraten was ihm einmal wichtig gewesen war. Am Ende hatte er sogar zugelassen, dass auf manchen Welten Priester seinen Namen als den eines Gottes anpriesen. Er war zu einem von zahllosen Unterlords in all ihrer Unwichtigkeit geworden. Und als die Chance sich geboten hatte, hatte er sich zum Systemlord machen wollen.

    Er zog das Schwert und schwang es ein paar Mal. Die Klinge lag noch immer sicher in der Hand. Es war ein gutes, vertrautes Gefühl. Die Zeit der Systemlords war vorbei. Dieses Reich brauchte einen Goa'uld, einen Führer der sich nicht darum scherte wo andere Grenzen oder Unmögliches sahen, sondern der Wirklichkeit seinen Willen aufdrückte. Hectors Schiffe hatten sich im Orbit von An gegen die seiner Mitverschwörer gewandt und sie zusammen mit Lord Anatas Flotte zur Kapitulation gezwungen. Im Reich würde bald wieder etwas wie Ruhe herrschen und ihm erlauben wieder Systemlord zu sein. Eine trügerische Ruhe. Selbstzufriedenheit und Apathie waren Verbrechen an der eigenen Seele. Daran hatte er einmal geglaubt, daran glaubte er in den finsteren Tiefen seiner Seele immer noch. Die Zeit schrie nach einem Feldherren, das Reich nach einem Beschützer, die Seelen der Völker nach jemandem, der sie prüfte um sie zu erhöhen. Diese Galaxie würde Saif wiedersehen. Langsam, in einer fast rituellen Geste steckte er das Schwert wieder weg. Er wusste dass sich hinter auf den ersten Blick kleinlichen Konflikten, die sie zur Zeit erlebten, eine größere Bedrohung verbarg. Ihr würde er nicht ohne weiteres gegenüber treten können. Aber wie Saif gesagt hätte: „Wenn dein Gegner eine Haut aus Eisen zu haben scheint, kämpfe mit ihm, bis diese Last ihm das Herz zerreißt, oder suche dir eine Klinge, die Eisen schneidet.“ Lass einen starken Feind ins Leere laufen, bis er sich selbst erschöpft, oder mach dir eine überlegene Technologie oder Taktik zu nutze.

    Er legte das Schwert zurück und griff nach seinem Kommunikationsgerät, um mit Nazih zu sprechen. „Was würde es deiner Forschung bringen, würde ich die die Augen – die Augen des Ra, Tiamat, Osiris, Apophis, Ba'al und Balor – beschaffen?“ „Was willst du auslöschen?“ „Ihre Mörder...“



    Was mich wirklich noch interessieren würde: Ich war die gesamten ersten 2/3 der Geschichte auf Irreführung des Lesers bedacht oder wollte ihn doch zumindest im Unklaren lassen. Unser allseits bewunderter Mitbegründer von TGE, Atlan, behauptete nun als ich ihm die erst bis zum Treffen der Adeligen bei Ruslan fertige Geschichte zum Lesen gab, um zu sehen, ob ich dieses Ziel erreicht hatte, nicht erkannt zu haben, dass Saif Dumuzis Wirt ist. Meine Frage an die Leserschaft wäre deshalb: Habt ihr es vor der Auflösung erkannt und wenn ja an welcher Stelle und woran?
    Geändert von Protheus (22.10.2010 um 22:03 Uhr)
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  22. Danke sagten:


  23. #55
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    Man was für ein Kapittel! Auch wen du immer ein wenig (länger) brauchst um was neues zu posten so hat man dan jedes mal ne ganze weile daran zu lesen. Leider sind einige Sätze so miteinander verschachtelt das man sehr genau lesen muß um den Inhalt zu verstehen.
    Aber ansonsten wie immer ein super Kapittel. Das warten lohn sich jedes mal. Und so komplexe Handlungsstränge sollte man auch nicht trennen. Es ist jedes mal fast so als ob man nen eigenständiges Buch lesen würde.

    Und zu deiner Frage:
    Es hat eine weile gedauert bis ich gemerkt habe das irgendwas an dem Typen nicht stimmt. Er kann Dinge die er nie gelernt hat, Kann sich an Namen und Sachen erinnern die Jahrtausende her sind und ist doch ein "einfacher" Mensch. Aber das es sein Wirt sein könnte habe ich mir auch erst gegen ende der Maskerade gedacht.
    Hast du echt super gemacht!!!

    Hoffe mal du lässt uns alle nicht wieder ganz so lange auf was neues warten auch wen es sich lohn. Wünsche noch nen schönes Wochende.
    LG Heiko

  24. #56
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    Um deine Frage am Schluß vorweg zu nehmen... Ja du hast mich sehr verwirrt, denn ich wusste bis zur Auflösung nicht, dass es Duzumis Wirt war.
    Das hast du wunderbar verschachtelt...

    Und als jemand, der die Arabische Kultur auch nur aus Artikeln und Wikipedia kennt, kann ich die sagen dass du sie zumindest in meinen Augen gut getroffen hast.
    Sowohl die Charaktäre als auch die Umgebung hatten einen Hauch des Orients in sich, auch wenn ich persönlich immer ein Fan des Antiken Roms und Griechenlands bleibe.

    Besonderst die Intrigen und die Handungsweisen der Adligen kamen gut rüber und ihre Charakterzüge ließen die Arroganz, Selbstzufriedenheit und den Stolz der Orientalen erkennen lassen.
    Nette Idee übrigens, mit Pyros einen alten SG 1 Gegner wieder zubringen und dann auch einen Unas zu zeigen, dass hat mir besondert gefallen.

    Zudem fand ich es gut, wie die Antiker der 9. Legion die Aschen vorschicken und im Hintergrund die Fäden ziehen. Da kommt wieder das alte Rom durch...

    Allerdings wird Duzumi jetzt übermütig, wenn er denkt, dass er die Erde auslöschen kann... da wird er auf mehr als nur Granit beißen...

    Und natürlich freue ich mich auf Jules im nächsten Kapitel.

    Bis dann.
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    http://www.stargate-project.de/starg...ad.php?t=11836




  25. #57
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    Ach, was waren das noch für Zeiten, in denen ich mehr als zwei Leser hatte. Etwas deprimierend ^^. Aber es bringt wohl nichts darüber zu lamentieren. Immerhin bekomme ich Antworten.

    @Heiko_M: Besten Dank für die wohlmeinende Einschätzung. Besonders erfreut hat mich natürlich, dass meine Absichten aufgegangen zu sein scheinen.

    Zitat Zitat von Heiko_M Beitrag anzeigen
    Es hat eine weile gedauert bis ich gemerkt habe das irgendwas an dem Typen nicht stimmt. Er kann Dinge die er nie gelernt hat, Kann sich an Namen und Sachen erinnern die Jahrtausende her sind und ist doch ein "einfacher" Mensch. Aber das es sein Wirt sein könnte habe ich mir auch erst gegen ende der Maskerade gedacht.
    Es erweckt natürlich den Eindruck, dass er deus-ex-machina Dinge beherrscht, die er nie gelernt hat, was aber täuscht. Saifs zentrales Problem war, dass er mit einer Menge an Erinnerungen konfrontiert war, die er, ähnlich O'Neill als er die Antiker-Datenbank in seinem Kopf hatte, nicht bewältigen konnte. Er konnte seine eigenen Erinnerungen und die Dumuzis nicht auseinanderhalten. In bestimmten Situationen brach dieses Wissen aber durch, als es notwendig war oder sogar um Leben und Tod ging. Das ganze war vor allem instinktgesteuert und hatte viel mit Konditionierung, also 'erlerntem Instinkt', zu tun. Im Kampf mit der Giftmörderin beispielsweise, hat er sich einer Kampfdisziplin namens Krav Maga bedient, die er in seiner Ausbildung auf der Erde gelernt hat. Weil Krav Maga sehr viele Bewegungen nutzt, denen man sich für gewöhnlich schon aus reinem Instinkt heraus bedient, ist es fast unmöglich zu vergessen und sehr einfach zu konditionieren. Aus einem ähnlichem Grund hat ein verwirrter irdischer Soldat auch die Identität des Saif-ul-Ahura angenommen, die eine unglaublich starke Persönlichkeit hat. Es war der beste Weg zu überleben.


    @Colonel Maybourne: Auch hier Danke für die freundlichen Worte. Gut zu sehen, dass ich einen Leser immer noch im Dunklen lassen kann, wenn ich es darauf anlege. Und dann ist da ja noch deine Meinung zum Setting:

    Zitat Zitat von Colonel Maybourne Beitrag anzeigen
    Und als jemand, der die Arabische Kultur auch nur aus Artikeln und Wikipedia kennt, kann ich die sagen dass du sie zumindest in meinen Augen gut getroffen hast.
    Sowohl die Charaktäre als auch die Umgebung hatten einen Hauch des Orients in sich, auch wenn ich persönlich immer ein Fan des Antiken Roms und Griechenlands bleibe.

    Besonderst die Intrigen und die Handungsweisen der Adligen kamen gut rüber und ihre Charakterzüge ließen die Arroganz, Selbstzufriedenheit und den Stolz der Orientalen erkennen lassen.
    Nette Idee übrigens, mit Pyros einen alten SG 1 Gegner wieder zubringen und dann auch einen Unas zu zeigen, dass hat mir besondert gefallen.

    Zudem fand ich es gut, wie die Antiker der 9. Legion die Aschen vorschicken und im Hintergrund die Fäden ziehen. Da kommt wieder das alte Rom durch...
    Logisch, dass die Antiker das alte Rom SIND . Sie wurden schon in den ursprünglichen Fernsehserien so konzipiert. In ihrem Rationalismus, ihrer Effizienz und Selbstzufriedenheit sind sie definitiv ein Spiegel der alten Lateiner. Da konnte auch der buddhistische Schlag, den man ihnen immer wieder in einigen Folgen geben wollte, nichts kaputt machen. Für mich ist die römische Republik in all ihrer Glorie aber auch mit all ihren Schattenseiten das Vorbild der 9. Legion. Folglich sind meine Antiker auch nicht annähernd so nett, wie man sie zum Schluss in den Serien machen wollte.

    Nur dreht sich dieses Kapitel ja vor allem um das Sternenreich von An. Ich habe hier viele Anleihen bei den Osmanen gemacht. Für mich sind die arabische und die osmanische Kultur nur schwer auseinander zu halten. Ich vermute meine Vorstellungen sind vor allem von Geschichten aus 1001 Nacht geprägt. Ich hatte nur einige Bilder, vor allem in Sachen Architektur, Fernsehdokumentationen über die Türkei, die auf Arte liefen (sehr zu empfehlende Filmreihe, deren Namen ich leider vergessen habe^^), einige populärwissenschaftliche Bücher und Zeitungsartikel. Weil ich eine Zeit lang mit einem Libanesen, mit dem ich sehr ausgiebige Gespräche geführt habe, in einer WG lebte, waren Bilder aus dem Libanon Vorbild für die Landschaft, in der Dumuzis Palast liegt. Insgesamt bin ich recht zufrieden mit dem, was in dieser Geschichte heraus kam.

    Was außerdem positiv auffällt ist, dass du die Figur des Pyrus erkannt hast. Leider hatte er nur einen einzigen Auftritt bei SG1, aber ich fand ihn so gut, dass ich ihn unbedingt in irgendeiner Episode bringen musste. Mein Pyrus ist gealtert, körperlich verfallen und abhängig von anderer Leute Hilfe, aber im Geiste immer noch despotisch und selbstverliebt wie eh. Und Unas haben einfach, um es mit O'Neill zu sagen, eine so überwältigende Coolness (vor allem mit Schlangenbeilage), dass die Natur von Nazihs Wirt für mich von Anfang an fest stand. Die Ähnlichkeit zwischen Serrakin und Unas hat mich zur Überlegung veranlasst sie könnten gemeinsame Vorfahren teilen. Zusammen damit, dass ich mir nicht vorstellen konnte wie ein Haufen wie die Systemlords eine Galaxie unter dem Schutz der Asgard und der letzten der Antiker unter ihre Kontrolle hätten bringen sollen, hat zum Aspekt der Überwesenphilosophie der alten Goa'uld geführt und mich auf den Gedanken gebracht in den Unas einen durch eugenische Auswahl möglicher Wirte von den Goas erzeugten Nebenstamm der Serrakin zu sehen.

    Aber es gab noch ein paar andere Anspielungen auf die frühen Folgen von SG1, wie zum Beispiel die Linvris, die in der dritten Staffel erwähnt werden, Dendred, die Heimatwelt des tödlichen Genius Ma'chello, oder Floskeln in der Sprache der Goa'uld - an dieser Stelle sei allen Dank gesagt, die sich die Mühe gemacht haben diese Phrasen in Stargate-Onlineenzyklopädien zu sammeln.

    Einen Zahn muss ich dir allerdings ziehen:

    Zitat Zitat von Colonel Maybourne Beitrag anzeigen
    Allerdings wird Duzumi jetzt übermütig, wenn er denkt, dass er die Erde auslöschen kann... da wird er auf mehr als nur Granit beißen...
    Sicher, man kann Dumuzis Schlussworte "Ihre Mörder..." nach dem Satzbau auf die zuvor erwähnten Ra, Tiamat, Osiris, Apophis, Ba'al und Balor beziehen, aber selbst wenn er einen Grund hätte diese glücklicherweise verblichenen Systemlords zu rächen, wäre dabei die Erde nicht sein Ziel, die für den Tod von Tiamat, Osiris, Balor und Ba'al gar nicht verantwortlich ist. Erstgenannte drei hatten die Kontakt mit dem STK (Tiamat wurde vor Jahrhunderten von Marduk getötet, Osiris liegt immer noch in irgendeiner Kanope im ägyptischen Wüstensand und Balor ist gestorben lange bevor auf der Erde das Sternentor wieder ausgebuddelt wurde) und Ba'al starb in meiner FF durch Dumuzis Hand. "Ihre Mörder..." bezieht sich hier also auf jemand anderes.
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  26. #58
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    Wie schauts aus? Können wir uns auf ein ein Weihnachtsgeschenk von dir freuen oder braucht das Kapitel noch etwas länger?

  27. #59
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    Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich ursprünglich ein Weihnachtsgeschenk im Sinn hatte, aber nicht rechtzeitig fertig geworden bin. Streng genommen bin ich das immer noch nicht, da ich mir wohl zu viel vorgenommen habe. Meine Planung sah zwei Handlungsstränge vor: Eine Haupthandlung, in der man mehr über Cyrus Glick erfährt und eine Nebenhandlung, die sich mit Jules Erlebnissen nach Kyoto und ihrem Umgang mit dem Erlebten befasst. Durch und durch eine Charakterfolge. Da ich nun mit dem Part über Glick fertig geworden bin, der bei Leibe lang genug ist, habe ich beschlossen beide Handlungsstränge separat zu veröffentlichen.

    Den Charakter Cyrus Glick mit einer Geschichte zu füllen stellte sich überraschend schwierig dar und zeigte mir auf wunderbare Art und Weise was passieren kann, wenn man Figuren aus Filmen - sagen wir beispielsweise einen Kardinal aus dem Kevin-Smith-Film 'Dogma' *hüstel* - namentlich übernimmt, ohne sie wirklich an ihre neue Geschichte anzupassen. Nach dem TGE-Kanon, den ich nur verletzen will, wenn es für meine eigene Story unerlässlich ist, ist Cyrus gebürtiger Schotte. Leider ist der Name Glick nur unter Menoniten aus dem Badischen und der nördlichen Schweiz üblich. Wie also macht man aus einem Baden einen Schotten und bindet das ganze auch noch in eine Geschichte ein, die sein schwieriges Verhältnis mit den Umständen seiner Gegenwart erklärt? Lasst euch überraschen.

    Noch das Übliche: Länge 46 Seiten. Bleiben sie uns treu, empfehlen sie uns weiter. Wer Rechtschreibfehler findet darf sie behalten und wer Zeit hat das hier zu lesen hat auch Zeit wenigstens eine Zeile zur Antwort zu schreiben. Viel Spaß beim Lesen.


    Episode 11: Wer du bist, dem du dienst, wem du vertrauen schenkst

    „... dauern die politischen Unruhen auf Langara weiterhin an.“ Cyrus Glick achtete nur am Rand auf die Berichte, die aus den Lautsprechern des bis zu einem leisen Hintergrundmurmeln abgedrehten Radios drangen. Während er mit einem Ohr lauschte, fixierte er in Denkerpose erstarrt die Formeln und auf der Tafel vor ihm. An drei Wänden des Raumes hingen schwere Tafeln, vollgeschrieben mit einem chaotisch erscheinenden Wirrwar mathematischer Gleichungen. Er drehte den kaum daumennagelgroßen Stummel, der ihm von einem frischen Stück Kreide, das er an diesem Morgen genommen hatte, übrig geblieben war, zwischen den Fingern und knetete seine Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger der Hand, auf die er sein Kinn gestützt hatte. Nachdem sie es geschafft hatten die Datenspeicher von Dagona zu bergen, hatte er noch einmal erleben können, was es bedeutete für eine jenseits des Verständnisses jeglichen Normalbürgers finanzstarke Organisation zu arbeiten. Die Kurie hatte binnen weniger Tage alles in die Wege geleitet, um alle Ausrüstung, die er und Bruder Alain für nötig gehalten hatten, nebst einiger der fähigsten Köpfe, die zu treffen er bisher das Vergnügen gehabt hatte, an einen sicheren Ort zu schaffen. Verdammt, hätte er nach 100 kg waffenfähigem Uran verlangt, man hätte es ihm beschafft.

    Nur zwangen die Umstände sie unglücklicherweise in den entlegensten Winkel des terranischen Raums. Es war eine Welt, die von ihren Bewohnern bei so vielen Namen genannt wurde, dass man sich nur auf Santiago, eigentlich der Name ihres 'Entdeckers', hatte einigen können. Santiago Reyes, ein Mann von legendärer Sturheit und Hingabe, war einer der Missionare gewesen, die die Kirche während des Goa'uld-Krieges hatte auf fremde Welten schicken können, bevor ihr Tun aufgeflogen war und das Militär ihr Raumschiff beschlagnahmt hatte. Von jedem Kontakt zur Heimat abgeschnitten hatte Reyes seine Mission fortgesetzt und unter Sklaven, Kriegsflüchtlingen und freien Jaffa gepredigt. Als der Konflikt sich verschärfte und immer häufiger Unbeteiligte zwischen die Fronten rivalisierender Systemlords und der Erde gerieten, hörte er schließlich von einem Raumfahrer von einem nahen Planeten, der unbesiedelt und ohne Sternentor wohl nie zum Kriegsschauplatz werden würde und sah eine Chance seine Herde in Sicherheit zu bringen. Drei Tage und Nächte, so ging die Erzählung, soll er auf dem verschneiten Landefeld eines kleinen Raumhafens ausgeharrt haben, nachdem der Pilot, ein Jaffa, der nach dem Tod seines vormaligen Herrn ein Schiff in seinen Besitz hatte bringen können, ihm die Hilfe verweigert hatte und gebetet haben, bis der hartherzige Mann nachgab.

    Mittlerweile lebten hier einige zehntausend Menschen, viele davon Flüchtlinge, die Reyes und seine Freunde während des heiligen Krieges der Ori gerettet und in Sicherheit gebracht hatten, oder deren Nachkommen und Santiago beherbergte die größte katholische Gemeinde außerhalb des Sonnensystems. Der Anblick der aus Ziegeln, oder Holz um eine einzelne Schrotholzkirche herum erbauten Häuser, aus denen die größte Siedlung dieser Welt sich zusammensetzte, hatten Glick zuerst an Aufträge denken lassen, die ihn im Auftrag des Rates der Antiker im Russland der letzten Jahre des Zarenreiches geführt hatten – Ereignisse, an die er nur sehr ungern zurückdachte – bis er sich an diese Welt gewöhnt hatte. Aber auch das Leben in der hiesigen Gemeinschaft, die seinen Vorstellungen urchristlicher Kirchen recht nahe kam, noch die langen Wanderungen, die er oft in die umgebenden Wälder unternahm, oder die klösterliche Umgebung verhalfen ihm zu einer Lösung ihrer Probleme. Er vermochte aus der Einsamkeit seiner Ausflüge mehr Kontemplation zu ziehen, als aus dem Leben unter Betbrüdern und hatte gemeinsam mit den anderen Wissenschaftlern schon einige Probleme lösen können, lief bei diesem Problem aber immer wieder ins Leere.

    Sie hatten sich bereits eine theoretische Grundlage in der Wurmlochphysik erarbeitet, was angesichts der Vorbildung, die zumindest die führenden Köpfe des Teams mitgebracht hatten, der einfachste Teil gewesen war, und eine einfaches Funktionsschema für ihre eigenen Sternentore erstellt. Was fehlte war eine Möglichkeit die Energieeinspeisung exakt und schnell genug zu regulieren, um ein aktives Wurmloch zu erhalten. Es waren diffizile Phänomene, deren Verhalten von zahllosen Faktoren abhing und die die Gesetze der Quantenphysik, die fatalerweise keine Kausalität kannten, auf eine Ebene brachten, auf der eigentlich die vermeintlich einfachen und vorhersehbaren Gesetze der relativistischen Physik galten. Sternentore der Antiker enthielten eine ausgeklügelte Technik, die auf plötzliche Änderungen im Zustand des Wurmloches oder davon ausgehende Energieausstöße reagieren und gegensteuern konnte. Die Menschen hingegen kannten nicht nur diese Technologie nicht, sondern auch die ihr zu Grunde liegenden Zusammenhänge. Das Verständnis irdischer Wissenschaftler vom Zusammenspiel der physikalischen Grundkräfte war bestenfalls rudimentär. Glick war sich nicht einmal sicher, ob Geistesgrößen wie Rodney McKay, der mittlerweile verschiedene Nicolas Rush oder Professor Eli Wallace, der, obschon mit beispielloser Faulheit geschlagen, einen Lehrstuhl am MIT erworben hatte und als größter Mathematiker seit John Forbes Nash galt, sie wirklich verstanden, oder einfach nur mit Rezepten aus außerirdischen Kochbüchern hantierten. Und hier auf Santiago blieb es an ihm, der in Naturwissenschaften immer von seinen Lehrern gescholten worden war, hängen für die Menschen die Weltformel herzuleiten, die einfach nur zu kennen nicht reichte, wenn sie das Verhalten von Wurmlöchern tatsächlich verstehen wollten.

    Er hatte nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen, während er verschiedene Lösungswege durchrechnete, die er für möglich gehalten hatte, nur um sich immer wieder in mathematischen Fehlern oder mangelhafter Logik zu verfangen. Als er schließlich voller Frustration einen weiteren fruchtlosen Gedankengang auswischte, der zuerst viel versprochen hatte, bis ihm nach fast einer Stunde aufgefallen war, dass seine Überlegungen den Energieerhaltungssatz verletzten, erhaschte er einen Blick aus dem Fenster und merkte, dass die Sonne schon beinahe hinter dem nächsten Bergrücken versunken war. Es wurde früh dunkel zu dieser Zeit des Jahres. Er schüttelte den Kopf, warf Schwamm und Kreide von sich, setzte sich an einen der von Papieren und Büchern bedeckten Tische und drehte das Radio lauter.

    „In der Hauptstadt Kelownas kam es am zweiundzwanzigsten Tag in Folge zu schweren Ausschreitungen, als Demonstranten und Sicherheitskräfte auf der großen Magistrale aufeinanderprallten. Nach offiziellen Angaben gab es dreißig Tote und über hundert Verletzte. In Antwort auf die Drohung der Regierung das Militär in alle größeren Städte einrücken und die Ordnung wieder herstellen zu lassen wird der erste Sprecher des von den Aufständischen eingesetzten 'Übergangsparlaments nationaler Erneuerung' mit den Worten „Wenn sie ihre Hände in noch mehr Blut baden wollen sollen sie kommen, wir werden sie erwarten“ zitiert. Bisher unbestätigten Berichten zu Folge soll Revolutionsparlament allein in der Hauptstadt mehrere tausend Mann starke Milizen aus Veteranen des letzten Krieges hinter sich haben. Die Unruhen brachen nach der Veröffentlichung zahlreicher Dokumente aus, die die Regierungen der letzten zwanzig Jahre mutmaßlich zahlreicher Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen, der Verletzung grundlegender demokratischer Prinzipien und der Täuschung des Volkes überführen sollen. Die Aufständischen streben aufgrund dessen die vollständige Auflösung des bisherigen Regierungsapparats und die Einsetzung einer neuen Verfassung an.

    Bisher hat es noch keine offizielle Untersuchung der Vorwürfe gegeben. Statt dessen beschuldigte der erste Minister heute in einer Stellungnahme konkurrierende Nationen die Unruhen lanciert zu haben und forderte seine Landsleute auf geschlossen gegen Bedrohungen von außerhalb zu stehen. In der Nachbarnation Andaria traten Regierung und Parlament, die seit Kriegsende eine Politik der Beschwichtigung Kelownas betrieben hatten, geschlossen zurück. Der Staatschef bat sein Volk in einer öffentlichen Erklärung um Entschuldigung für die, wie er es ausdrückte, Blauäugigkeit und das fehlgeleitete Verhalten seiner Regierung. Aus dem ganzen Land gibt es Berichte über die Mobilisierung paramilitärischer Einheiten. Der als Staatschef bis zu Neuwahlen geschäftsführend eingesetzte Dekan des diplomatischen Corps versucht die Situation zu deeskalieren, äußerte sich aber gegenüber unserem Korrespondenten auf Langara dahingehend, dass nur eine politische Wende in Kelowna den Volkszorn auf Dauer beruhigen könne.

    Sowohl der Rat der stellaren Union, als auch die Regierungen sämtlicher Mitgliedsnationen lehnten unter Hinweis auf Regelungen im Bündnisvertrag, die eine Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Mitglieder untersagen, sowie eine anhängige Prüfung der gegen Kelowna erhobenen Vorwürfe durch den Rat eine militärische Intervention gegen Andaria ab, boten aber Vermittlungen an. Eine Lösung des Konflikts ist dennoch nicht in Sicht. Das war unser Blickpunkt zur außerplanetaren Politik im Europafunk. Am Mikrophon war Boleslav Lachnit, angeschlossen sind der Staatsrundfunkt der russischen Föderation und Radio Freies Kyoto. Die Uhrzeit...“ Die Stimme des Sprechers wurde ausgeblendet und eine abgehackt und mechanisch klingende Computerstimme gab die Ortszeit auf Santiago durch. 17.30Uhr. Es wurde Zeit für die allabendliche Vesper.

    Er verließ seinen Arbeitsraum, verschloss die Tür gründlich hinter sich – nicht das er sich Sorgen um Diebstahl gemacht hätte, ihm missfiel lediglich der Gedanke jemand könne diesen Raum, der für ihn auch einen Rückzugsort darstellte, ungefragt betreten – und machte sich auf den Weg zur Kirche. Man hatte sie vorläufig in einem Kloster einige Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt untergebracht, in dem aller Tagesablauf einer jahrhunderte alten Regula unterworfen war, der sich auch die Forscher zu fügen hatten, die obschon in päpstlichem Auftrag unterwegs nur Gäste in diesen Gemäuern waren, bis ihre eigenen Behausungen und die geplanten Laboratorien fertig waren. Sieben Gebetszeiten, gemeinsame Mahlzeiten und die karge Einrichtung der Zellen hatten auch für Glick, der das recht komfortable Leben in Rom gewohnt war, eine Umstellung bedeutet. Nie zuvor hatte er eine so starke Gemeinschaft erlebt, die man zwar zuweilen als einengend, ja regelrecht erdrückend empfinden konnte, die aber auch stützte und half. Er begann langsam zu verstehen, warum die Menschen sich strengen Gemeinschaften wie Klöstern oder Armeen so bereitwillig anschlossen. Es war der Halt den feste Strukturen gaben und die Genugtuung, die es bringen konnte sein Schaffen in den Dienst einer Gruppe zu stellen.

    Er verließ das Nebengebäude, in dem sein Arbeitsraum lag, und suchte sich auf dem Hof einen Platz im Schatten eines großen, mit reichen Schnitzereien bedeckten Holzkreuzes, wo er sich jeden Abend auf einen Stein setzte, um zu beobachten, wie die Sonne hinter den Bergen verschwand. Er wischte den ersten Schnee, der heute gefallen war, beiseite, setzte sich, zog die Knie unter das Kinn und starrte in die Ferne, während die Mönche und viele Angehörige der Forschungsgruppe sich in der Kirche versammelten. Nur die wenigsten trugen die braunen Habite der hier lebenden Ordensgemeinschaft, einer kleinen Splittergruppe, die sich vor langer Zeit von den Karmelitern abgespalten hatte. Weit zahlreicher vertreten war eine große Zahl von Laien, sowie Jesuiten und Zisterzienser. Da der hier lebende Orden aber dem Gesang als konzentrierter, bewusster Form des Sprechens einen hohen Stellenwert in Liturgie und Gebet einräumte, war die Kirche mit Blick auf akustische Eigenschaften errichtet worden und großzügig dimensioniert, so das alle Platz fanden.

    Glick wartete noch etwas, bis die schweren Kirchenportale geschlossen wurden und die Gesänge des Introitus erklangen. Dann erhob er sich und ging auf das Gotteshaus zu. Weder hatte er seine lang gehegte Aversion gegen die ablegen können, die den Menschen befehlen wollten an etwas zu glauben, noch verspürte er irgendeinen Drang dazu. Nichtsdestotrotz kam er nicht umhin den hier lebenden Mönchen Respekt zu zollen. Sie hatten das überfallartige Auftauchen der fast hundert Mann starken Forschungsgruppe klaglos akzeptiert, sie in ihren Häusern aufgenommen und in ihr Leben eingebunden. Vor allem aber nahmen sie keinen Anstoß an seinem zuweilen schrulligen oder aggressiven Verhalten, kochten gut und er hatte Gefallen an ihrem Gesang gefunden. So stahl er sich nun jeden Abend in die Messe, blieb in einer Nische am Eingang stehen und hörte zu. Er sprach oder sang keines der Gebete mit, hatte sich aber schon einige Male dabei ertappt leise die Melodien mitzusummen.

    Als er die in das Portal eingelassene kleine Tür öffnen wollte, um hineinzuschlüpfen, hörte er laute Rufe hinter sich. Er sah sich um und erspähte eine Gruppe von Bauern mit Fackeln, einige auch mit Äxten und Mistgabeln, die von der Siedlung her kamen. Für einen Augenblick starrte er den seltsamen Zug nur aus ungläubig aufgerissenen Augen an, dann erkannte er, dass sie eine Frau mit sich schleiften und einer von ihnen in Richtung der Kirche deutete. Hastig tippte er eine Forscherin an, die auf einer der hinteren Kirchenbänke saß, und sagte ihr die anderen zu alarmieren. Dann eilte er dem Mob entgegen. Er fing sie einige Meter vor dem Kirchenportal auf dem Platz ab, hob die Hände und versuchte die aufgebrachten Gestalten zu beruhigen.

    Die Traube schloss sich um ihn und man schleifte die Frau vor ihn. Ihre Kleidung war zerschunden, sie hatte Blessuren am ganzen Körper und ihre Augen rot vor Tränen. Sie schien Schmerzen zu leiden und als sie sich auf die Knie aufrichten wollte, schlug ein Mann ihr mit einem Dreschflegel auf den Rücken, so dass sie wieder in den Dreck geworfen wurde. Glick hätte beinahe vor Schreck einen Schritt zurück getan, nahm dann aber all seinen begrenzten Mut zusammen und stellte sich schützend über sie. Einige Minuten lang redeten sie aufgeregt durcheinander. Es gelang ihm nicht die Menge zu beruhigen. Dann aber drängelten sich zwei Männer zu ihm durch. Es waren Alain und der Abt. Als Alain die Frau sah, hockte er sich neben sie, nahm sie in den Arm und half ihr wieder auf die Füße, während der Abt, ein hagerer Mann mit humorlosen Zügen, dessen eindringlicher Blick selbst in einem unbescholtenen Zeitgenossen noch Schuldgefühle aus den tiefsten Winkeln der Seele hervorzulocken vermochte, sich dem Mob entgegen stellte und lautstark fragte: „Was hat dieser Aufhur zu bedeuten? Was habt ihr dieser Frau angetan?“

    „Wir haben sie dabei ertappt, wie sie sich bei Nacht in den Wald stahl, um an einem Felsen Tiere zu schlachten, ihr Blut zu opfern und Geister anzurufen“, rief ein Mann aus der Menge, „sie ist eine Götzendienerin und Hexe. Sie muss sterben.“ Der Abt schüttelte den Kopf und fuhr den Sprecher mit schneidender Stimme an: „Zeig uns dein Gesicht und verstecke dich nicht hinter anderen, wenn du solche Anschuldigungen erhebst.“ Für einige Minuten störte nur das Weinen der misshandelten Frau das betretene Schweigen, das von den Anwesenden Besitz ergriffen hatte. Niemand schien den Mut zu haben sich dem sichtlich erzürnten Mönch zu stellen, der für gottes- und kirchenfürchtige Menschen wie sie eine Respektsperson sein musste. Schließlich trat ein niedrig gewachsener Mann vor, dessen schwarzer Fellmantel und Filzhut einen gewissen Wohlstand verrieten. Er sah die ganze Zeit zu Boden, als suche er dort nach Antworten oder Ausflüchten. Als der Abt ihm sagte „Schau mir ins Gesicht“, hob er den Blick und Glick erkannte ihn als den Holzhändler der nahen Stadt.

    Der Abt schmunzelte grimmig. Es lag nicht eine Winzigkeit Belustigung darin. „Waren wir euch so schlechte Lehrer, Yahron“, wollte er wissen, „dass ihr euch als wütender Haufen so an einer einzelnen Frau vergeht und dass du dich vor deine Leute stellen musst, weil der, der das Maul so weit aufgetan hat, nicht den Mut hat sich vor einem Diener Gottes zu verantworten?“ Als der Händler antwortete, fiel auch Glick auf, dass er nicht der sein konnte, der sich als Amateurinquisitor hatte versuchen wollen. „Ich bin ein gottesfürchtiger Mann“, erwiderte er, „und lebe nach den Geboten des Herrn.“ „Das weiß ich. Umso mehr erschrickt mich das hier.“ „Steht nicht geschrieben, Vater: Daß nicht jemand unter dir gefunden werde, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lasse, oder ein Weissager oder Tagewähler oder der auf Vogelgeschrei achte oder ein Zauberer oder Beschwörer oder Wahrsager oder Zeichendeuter oder der die Toten frage. Denn wer solches tut, der ist dem Herrn ein Greuel, und um solcher Greuel willen vertreibt sie der Herr, dein Gott, vor dir her. Du aber sollst rechtschaffen sein mit dem Herrn, deinem Gott.“

    Der Abt neigte das Haupt zu Alain und Glick. „18. Kapitel des Buches Exodus, Vers 10-14.“ „Dem Wort treu wie die Protestanten“, murmelte Alain, während er der Frau tröstend im Arm hielt und sich nach zwei seiner Ordensbrüder umsah, die er geschickt hatte Verbandsmaterial aus dem Sanitätszimmer zu holen. „Wir hätten die Bibel nicht sofort in ihre Mundarten übersetzen dürfen.“ „Was habt ihr erwartet?“, warf Glick zu beider Überraschung ein. „Egal was man rechtfertigen will, man wird eine passende Passage darin finden. Und nun retten wir diese Frau, bevor diese frommen Leute Holz für den Scheiterhaufen suchen.“ Alain befand lediglich „Ihr seid ein Zyniker, Cyrus Glick“, während der Abt ihn für einen Moment vorwurfsvoll ansah, dann aber nickte und sagte: „Wie ihr wünscht, Monsignore.“

    Er wandte sich wieder dem Mob zu. „Ich werde nicht zulassen, dass ihr dieser Frau mehr Leid zufügt.“ „Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen!“, rief wieder jemand aus den hinteren Reihen. „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“, hielt der Geistliche dagegen. „Unser Herr Jesus Christus wird am jüngsten Tag über ihre Sünden befinden, wie über die aller Wesen der Schöpfung.“ „Sie ist eine Wahrsagerin und Hexe. Sie hat sich vor Gott versündigt und muss sterben.“ Ein heftiger Wortwechsel zwischen dem Abt und dem verborgenen Zurufer entbrannte und drohte in wütendes Geschrei auszuarten, als bei Glick der Groschen fiel. „Genug“, brüllte er laut genug, um beide zu übertönen. „Woher wollt ihr wissen, was sie tat? Nur weil sie Blut auf Steine schmierte oder Tiere ins Feuer warf? Wir machen das selbe in jeder feierlichen Messe mit Öl und Weihrauch. Woher wollt ihr wissen, ob sie eine Sünde beging?“

    Seine Sinne verrieten ihm mehr, als selbst die beste Menschenkenntnis. Die Gedanken der Menge zu erfassen lag weit jenseits seiner Fähigkeiten, doch er konnte ihre Gefühle wie das Tanzen diffuser Lichter im Nebel spüren und Angst stach wie ein Fannal daraus hervor. Er konzentrierte seine Sinne auf drei dicht beieinander stehende Gestalten, denen trotz ihrer eisernen Mimik bei seinen Worten der Arsch auf Grundeis gegangen war, und konnte einige flüchtige und oberflächliche Gedankenfetzen aufschnappen. Menschen, die an ihnen heiligen Orten Opfer darbrachten und höhere Mächte anriefen, die ihnen Weisheit und Macht schenken sollten, so wie Menschen auf fast allen Welten und zu allen Zeiten Blut über ihre Altäre gegossen und in heiligen Ritualen getrunken hatten, das ihnen zur Essenz der Göttlichkeit und Unsterblichkeit werden sollte. Nur hatten diese hier es nicht bei symbolischen Handlungen oder der Opferung von Tieren belassen. Er sah auch einen Menschen auf dem Opferstein, gemeinsam getötet, gemeinsam alten Göttern geopfert. Er lachte in sich hinein. Konvertiten waren immer die größten Eiferer, insbesondere wenn ihr alter Glaube Dinge gelehrt hatte, die dem neuen zuwider liefen.

    „Jemand unter euch ist mit diesen Ritualen vertraut. Wie sonst hätte er oder sie erkennen können, was diese arme Seele hier tat? Glaubt ihr etwas beweisen zu können, wenn ihr sie über die Klinge springen lasst?“ Er trat einen Schritt näher an die Frau heran. Sie war vielleicht 35 Jahre, zu jung „Hast du die christliche Taufe empfangen?“ Sie zögerte einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf. Er ging in die Hocke und sah ihr tief in die Augen. „Und wie kommst du dann hier her?“ „Pater Santiago...“, murmelte sie mit einem unterdrückten Schluchzen in der Stimme. „Was war mit ihm?“ „Er hat meine Familie vor den Ori gerettet.“ „Und er hat nicht auf eurer Taufe bestanden?“ Sie schüttelte abermals den Kopf. „Mein Vater wollte seinen Glauben annehmen, wenn er dafür seine Familie in Sicherheit bringt, aber er hat uns auch so mitgenommen.“ Glicks Blick wanderte in Richtung des Lynchmobs und erhob sich. „Er hat sie auch so mitgenommen! Er wollte von niemandem verlangen seinen Glauben anzunehmen, der es nicht aus ganzem Herzen tat und hat trotzdem keine Unterschiede zwischen Hilfsbedürftigen gemacht. Er hat als echter Christ aus Nächstenliebe gehandelt. Und ihr, ihr tretet sein Andenken mit dem was ihr tut mit Füßen! Diese Frau hat niemandem etwas getan. Also nehmt euch ein Beispiel an dem, der euch alle gerettet hat und überlasst es jemandem, dem es zusteht, über ihren Glauben zu urteilen.“

    Die Bauern starrten ihn für einen Moment an, bis er mit einer energischen Geste brüllte: „Haut ab! Packt euch!“ Die ersten Männer und Frauen wandten sich mit eingeschüchtertem Blick zu gehen. Langsam löste die Gruppe sich auf und wanderte den Feldweg zurück, über den sie gekommen war. Glick sah ihnen noch einen Moment wütend hinterher, dann drehte er sich dem Abt zu. Mittlerweile waren die Mönche mit einer Bahre und Verbandsmaterial gekommen und kümmerten sich um die mutmaßliche Wahrsagerin. „Ich will nichts über Gebote und Regeln der Bibel hören. Diese Frau hat es genauso verdient zu leben, wie jeder andere.“ „Das werdet ihr auch nicht, Monsigniore. Die Anklage war gegenüber jemanden, der weiß, dass es keine andere Magie als Gottes Wirken gibt, absolut lächerlich. Ich werde mich darum Kümmern, dass sie versorgt wird und werde für sie eine Arbeit im Kloster finden. Wenn jemand auf diesem Planeten der Seelsorge bedarf, dann sie und ich werde sie nicht einfach an heidnische Vorstellungen verloren geben, ohne nicht für sie getan zu haben, was ich kann.“ Während die Frau von einem Arzt ins Konvent gebracht wurde und der Abt seinen Brüdern bedeutete sich wieder in der Kirche einzufinden, blieb Alain noch einen Moment bei Glick stehen und sah hinter den abziehenden Eiferern her. „Ein gefährliches Spiel, Cyrus. Die Stimmung hätte sich leicht gegen euch wenden können.“ Glick verneinte: „Wenn ihr etwas gutes bei diesen Leuten erreicht habt, dann dass sie nie die Hand gegen einen Priester erheben würden. Es ist eine fromme Gemeinde.“

    Er sprach seinen letzten Satz mit unüberhörbar spöttischem Unterton aus, so dass Alain eine graue Augenbraue hochzog und sagte: „Was keineswegs negativ zu sehen ist. Aber verratet mir eines: Wen hieltet ihr für würdig über ihren Glauben zu urteilen?“ „Niemanden.“ Der Zisterzienser lachte leise und amüsiert und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Immerhin steht ihr zu dem was ihr sagt. Wenn ihr nach dem Essen noch nicht sofort zu Bett gehen wollt, sagt mir bescheid. Ich habe mir vor unserem Aufbruch noch ein paar Flaschen Wein aus einem unserer italienischen Klöster schicken lassen und konnte sie bisher vor strengen Blicken verstecken.“ Er machte sich auf zur Vesper zu erscheinen. Glick schmunzelte und rief ihm hinterher: „Alter Pharisäer!“ Alain bekreuzigte sich, lachte zugleich aber laut und verschwand durch das Kirchenportal.

    Später saßen beide Männer in Glicks Arbeitsraum zusammen und tranken süffigen Rotwein aus einfachen Kaffeetassen. Alain hatte zwar noch zwei Gläser aus der Küche requirieren wollen, war mit diesem Vorhaben aber an einer verschlossenen Tür gescheitert. Sie versuchten über ungelöste Probleme des Sternentorprojekts, Unwägbarkeiten der Wurmlochphysik und der höheren Mathematik, mit denen sie sich abmühen mussten zu sprechen, kamen aber immer wieder auf die Ereignisse dieses Abends zu sprechen. „Selbst wenn die Bibel mich nicht zur Vergebung ermahnen würde könnte ich diesen Leuten nur schlecht einen Vorwurf machen“, meinte Alain. „Sie haben aus Unwissenheit und archaischem Glaubensverständnis heraus gehandelt. Auf der Erde mag unser Heiliger Vater versuchen die Kirche durch die Verschmelzung von Aufklärung und Glauben in die Lebenswirklichkeit der Menschen zurück zu führen, aber hier haben wir es mit einem anderen Menschenschlag zu tun. Sie sind Kinder schlichtester Geister. Das zu ändern wird viele Jahre in Anspruch nehmen.“

    Glick, der die wahren Hintergründe der beinahe-Hexenverbrennung kannte, warf Alain über den Rand seiner Tasse einen fragenden Blick zu. Seine in die Tasse hinein gesprochenen Worte klangen dumpf und leise, als er fragte: „Glaubt ihr das?“ Alain nickte. „Ich bin Physiker und kein Biologe, aber ich glaube, dass wir unsere Talente – so wir denn welche haben – der Vererbung zu verdanken haben. Unser Verhalten, unser Denken, alles spiegelt Einflüsse aus unserem Stammbaum wieder.“ Glick lachte. „Das halte ich für recht abwegig.“ „Ich denke nicht. Unser Verständnis der Wechselwirkungen von Verhalten, erworbenem Wissen und unserem Genom steht erst ganz am Anfang. Sicher ist nur, dass es eine tatsächliche Wechselwirkung ist. Unsere Gene beeinflussen unser Verhalten und unser Verhalten unsere Gene. Warum sollte es dann nicht möglich sein aus einem Haufen befreiter Sklaven und schlichter Bergbauern eine Gemeinschaft von Denkern und Pazifisten zu machen?“ Glick trank noch einen Schluck und starrte nachdenklich auf den Grund seines Bechers. „Die richtige Frage sollte nicht sein ob es möglich ist, sondern nötig. Ich weiß wie viel von unseren bewussten Entscheidungen und unserer Erziehung abhängt.“ „Woher die Gewissheit?“

    Glick seufzte, schenkte sich nach und sah eine Zeit lang aus dem Fenster, wo sich in der Dunkelheit der Nacht dichtes Schneetreiben schemenhaft erahnen ließ. „Ich selbst bin der lebende Beweis“, antwortete er schließlich. „Ich habe immer nur Facetten im Wesen meiner Mutter kennen gelernt, so dass ich nicht wirklich weiß wie viel von ihr in mir steckt, aber meinen Vater kann ich schon lange nicht mehr in mir erkennen.“ Alain beugte sich vor. In seinen Augen funkelte die Neugierde. „Erzählt.“ Glick schüttelte den Kopf. „Da gibt es nicht viel zu erzählen.“ „Versucht es.“ Der Ausdruck des Mönchs verriet ihm, dass es keinen Sinn hätte sich zu weigern, so dass er sich zurücklehnte und tief durchatmete. Seine Vergangenheit schien im Wein verschwommen vor ihm vorüber zu ziehen. „Mein Vater... Ich kann kein Wort finden, das für sich seinen Charakter schon ausreichend beschreiben würde. Das spricht wohl für ihn. Er war ein Seefahrer aus Edinburgh, ein guter Christ, ein guter Koch, konnte Süßholz raspeln wie ein Engel, schimpfen wie ein Kesselflicker, war starrsinnig und fürchtete weder Tod noch Teufel. Aber letztlich lebten wir in unterschiedlichen Welten.“

    Er leerte seinen Becher in einem Zug, knallte ihn energisch auf einen Stapel fruchtloser Berechnungen und legte den Kopf in den Nacken, bevor er weiter erzählte: „Sie kennen Cyrus Glick aus Glasgow, Schottland, der in den Diensten der Kirche vom jüngsten Kardinal seit mehreren Jahrhunderten zum geehrten Methusalem des Konklave wurde. Heute wäre er gut neunzig Jahre alt. Nur gab es auch von 1936 bis 1945 einen Cyrus Glick im Dienste des Secret Service seiner Majestät King George VI. Gut dreißig Jahre davor gab es einen britischen Naturforscher des selben Namens, der durch das Reich der russischen Zaren reiste. 1863 findet sich dieser Name auch als der eines schmächtigen 24-Jährigen, den man einige Jahre vorher wohl ausgemustert hätte, in den Büchern eines New-Yorker Freiwilligenregiments, das bei Gettysburg in der Reserve stand, aber sich dem Feind im ganzen Krieg nur ein einziges auf Schussweite näherte.“

    Alain sah ihn entgeistert an. „Wollen sie sagen, dass sie 1839...“ Glick schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Ich wurde am 15.10. im Frühsommer des schönen Jahres 1809 am südlichen Ufer des Río de la Plata in Buenos Aires geboren.“ „Argentinien?“ Er nickte. „Es waren bewegte Zeiten und viel von dem was passiert ist klingt für mich immer noch nach schwer fassbaren Zufällen. So wie es mir erzählt wurde, fing es 1804 in Edinburgh an...“




    Obwohl die Sperrstunde an diesem Abend schon nahe gerückt war, herrschte ein geradezu klaustrophobisches Gedränge im Schankraum des kleinen Pub am Hafen. Seeleute, Hafenarbeiter, Fischer und vereinzelte Reisende drängten sich an den Tischen, billiger Gin floss in Strömen und aus rauen Kehlen hatten dutzende Männer in den Refrain von 'My heart is in the highlands' eingestimmt, das eine Sängerin in blauem Kleid mit eng geschnürter Korsage, das tiefer ausgeschnitten war, als manch einer in feinerer Gesellschaft es schicklich gefunden hätte, zum Klang einer Gitarre vortrug. Schwerer Körpergeruch, der sich in den stinkenden Qualm billigen Tabaks mischte, hing in der Luft und schien sich über alles zu legen, sich in allen Poren festzusetzen. Würden nicht bald die Gendarmen kommen, um dem bunten Treiben ein Ende zu machen, die Gäste würden wohl die Nacht durchzechen.

    Es mochte ein Abend wie jeder andere sein, doch etwas hatte das Auge des Wirts gefangen. Eine einsame Frau saß am Tresen, den Kopf auf eine Hand aufgestützt, vor sich ein Glas Gin, und starrte mit glasigem Blick ins Leere. Nur ab und zu schaute sie in das milchig angelaufene und nicht absolut saubere Glas auf dem speckigen Holz des Tresen und nahm einen Schluck des scheußlichen Gesöffs darin, dessen genaue Rezeptur sie wohlwissend nicht hinterfragte. Dass es stark alkoholisch und billig war schien ihr genug zu sein. Jedes mal wenn sie leerte, bedeutete sie dem Wirt mit einer wortlosen Geste nachzuschenken. Als sie den Twopence für das vierte Glas auf den Tresen legte, wollte er sie zuerst fragen, was sie hier her verschlagen hatte, doch ihr Blick erstickte die Frage im Keim. Sie gehörte nicht hier her. Ihre bleiche Haut, ihre sorgfältig frisierten blonden Haare und ihre zarten, gepflegten Hände verrieten, dass sie von höherem Stand war und nicht körperlich arbeiten musste und die wenigen Worte, die ihr über die Lippen gekommen waren, waren geschliffen und klar, frei von jedem Akzent gewesen. Zwar sollte ihre Kleidung sie einfacher wirken lassen, als sie war, aber einem Menschenkenner musste sofort klar sein, dass sie von den leichten Mädchen, die unter den Gästen nach Freiern suchten, Welten trennten.

    Trotzdem hatte sie sich einiger plumper Avancen angetrunkener Männer erwehren müssen, die auf ein neues Gesicht unter den Freudenmädchen gehofft hatten. Keine ehrbare Frau wagte sich nachts auf die Straßen von Schottlands Hauptstadt; erst recht nicht allein. Folglich, so schienen manche zu denken, konnte sie keine ehrbare Frau sein. Doch bisher hatte sie mit Ausnahme des Wirts wenn er nachschenkte jeden verscheucht, der sich ihr auf weniger als zwei Armeslängen genähert hätte.

    Kurz nachdem draußen die Nachtwache die zehnte Stunde ausgerufen hatte, hörte sie wieder das Rascheln von Stoff, das verriet, dass jemand sich neben sie gesetzt hatte. Ein flüchtig aus dem Augenwinkel zur Seite geworfener Blick fiel auf einen Mann, der mit einem Krug Bier in der Hand Platz genommen hatte und sie ansah. „Hauen sie ab“, murmelte sie ihm zu, „hier gibt es genug Mädchen.“ Er gluckste. „Nein.“ Nun sah sie ihm mit dem Anflug eines wütenden Funkeln in den Augen direkt ins Gesicht. Seine Haut war wettergegerbt, sein offenbar seit einiger Zeit nicht mehr gekämmtes Haar zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengebunden, und der schlichte Gehrock konnte seine kräftigen Arme und Schultern nicht verbergen. „Ihr seid schlecht rasiert“, meinte sie, nachdem sie ihn gemustert hatte, „seid dreckig und“ - sie deutete auf das Gelenk seiner um den Griff des Bierkruges geschlossenen rechten Hand, wo unter der nicht verschnürten Manschette der Rand einer Tätowierung zu erkennen war - „ganz offensichtlich ein Seemann.“

    Überzeugt genug Beweise für seine Schlechtigkeit gesammelt zu haben, um ihn zum Gehen zu veranlassen, wandte sie sich immer wieder ihrem Glas zu. Doch er ging nicht. Er ließ ihr einige Minuten und sagte dann: „Die Meisten, die hierher kommen, kommen wegen des billigen Fusels oder der Leute. Aber sie trinken nicht schnell genug, um nur hier zu sein weil der Wirt den Gin nicht verschneidet. Außerdem meiden sie Blicke und versuchen sich um Gespräche zu drücken. Ich denke sie verstecken sich in diesem Loch, für das sie eigentlich viel zu gut sind, um irgendwem oder irgendetwas auszuweichen.“ „Wenn dem so wäre, was ginge es einen Fremden an?“ „Gerade mit Fremden kann man über viele Dinge sprechen. Ich habe manchmal interessantere Gespräche mit völlig Fremden, deren Namen ich nicht einmal kenne, führen können, als mit Freunden seit Kindertagen.“ Sie musste unfreiwillig lächeln und hob den Kopf ein wenig. „Dann dürfte ich euch aber nie kennen lernen.“ Er schmunzelte und zuckte mit den Schultern. „So genau würde ich das nicht nehmen. Wenn euch etwas auf der Seele brennt, sprecht es einfach aus. Für alles andere wird sich die passende Zeit schon finden.“

    Sie nickte. „Wie ist euer Name?“ „Coinneach.“ Ihr Lächeln wurde etwas breiter. „Freut mich, Kenneth.“ Er verzog das Gesicht. „Es tut im Herzen weh, wenn mein Name so verunstaltet wird. Ich bin Schotte, geboren als MacArthur auf der Eilean a' Cheò, kein Schoßhündchen der Engländer.“ „Also gut.“ Sie prostete ihm zu. „Coinneach. Ich bin Valeria Glick.“ „Und was belastet euch, Valeria?“ Sie senkte den Blick wieder etwas und seufzte. „Zu viel zu hören, zu viel zu sehen. Ich erledige... die Schreibarbeit für einen Unternehmer, der nicht ohne Einfluss ist. Er und einige seiner Partner hoffen vom Krieg gegen Frankreich profitieren zu können. Sie scheren sich nicht darum was auf dem Kontinent passiert, sondern hoffen nur darauf ihren persönlichen Einfluss zu erweitern. Sollen tausend Leute sterben, es ist ihnen egal.“ „Wenn ihr mich fragt, wird nur selten wohlhabend und einflussreich wer nicht über Leichen geht.“ antwortete er nach kurzem Nachdenken. „Aber das bedeutet nicht dass ihr euch dem unterwerfen müsst. Es gibt zwei Mächte auf dieser Welt, denen ihr tatsächlich verpflichtet seid: Eurem Gewissen und Gott im Himmel. Und das euer Gewissen euch keine Ruhe lässt wenn ihr an die Absichten dieser Gentlemen denkt zeigt, dass ihr eine gute Seele habt.“ „Und was sollte ich der Meinung eines Fremden nach tun?“ Er beugte sich etwas vor, so dass ihre Gesichter nur eine Handspanne voneinander entfernt waren, lächelte aufmunternd und raunte ihr zu: „Nie etwas, das ihr nicht vor euch selbst verantworten könntet. Nichts anderes wäre menschlich.“

    Sie verbrachten noch den restlichen Abend miteinander, tranken im Pub noch das eine oder andere Glas und sprachen über die verschiedensten Dinge. Als der Wirt die letzte Runde ausrief verließen sie die Gaststätte und wanderten gemeinsam durch die Straßen. Trotz aller Geheimnisse, die sie auch ihm gegenüber wahren musste, genoss Valeria es jenem ihr tatsächlich völlig fremden gegenüber, der selbst nur wenige Fragen stellte und die meiste Zeit zuhörte, offener sein zu können, als gegenüber jedem anderen. Im Laufe der folgenden Woche trafen sie sich jeden Tag. Am achten Tag erklärte er ihr, dass der Walfänger, auf dem er als Harpunier mitfuhr, wieder auslaufen würde. Am Tag der Abreise erschien sie am Hafen.

    Der salzige Geruch der See mischte sich in den modrigen Duft von Tang, Räuchereien, und dem des Hafenwassers, das der halben Stadt als Kloake diente. Wer konnte mied diese Gegend für gewöhnlich, so dass sie in ihrem feinen Kleid, mit Handschuhen und verziertem Hut aus der Menge hervorstach wie eine weiße Löwin aus einer Herde Hochlandschafe. An den Docks angekommen ging sie die Reihe der hier vertäuten Schiffe entlang, in Händen einen Notizzettel mit einem Namen darauf drehend, bis sie ihn entdeckte. Gemeinsam mit einigen anderen Männern schleppte er unter den strengen Blicken des ersten Maats schwere Kisten, wahrscheinlich Proviant, die Gangway der 'Ayeasha', eines gänzlich unscheinbaren und bauchigen Zweimasters von wahrscheinlich niederländischer Bauart, hinauf. Als er sie bemerkte, stellte er die Kiste, die auf seinen Schultern ruhte, achtlos aufs Deck und drängte sich an seinen Schiffskameraden vorbei zurück auf festen Boden. Sie lächelte und machte ihm noch ein paar Schritte entgegen. Als er vor ihr stand schloss sie ihn in die Arme und hielt einen Moment inne, als könne sie den Augenblick festhalten. Es dauerte keine Minute, da kam der Maat schon wütend schreiend zu ihnen gelaufen. „Zurück an die Arbeit, du fauler Tagedieb“, herrschte er seinen von seiner Pflicht abgängigen Harpunier an und packte ihn unsanft an der Schulter. Valeria schmunzelte. Dann küsste sie ihren Mann und murmelte: „Komm zurück, Coinneach.“ Dabei steckte sie ihm ein Dufttuch zu, um anschließend wieder zu verschwinden, wie sie gekommen war. Er sah ihr noch einen Moment hinterher und grinste unwillkürlich wie ein Idiot – wenn auch ein glücklicher Idiot – und roch einmal am süßen Aroma des Tuchs. Dann erst realisierte er, dass der Maat schon zu einem Prügel greifen wollte und machte sich eilends zurück an die Arbeit.

    Fast vier Jahre waren seit dem Auslaufen der 'Ayeasha' aus dem Firth of Forth vergangen. Obwohl die Erinnerung an ihn Trost gespendet hatte, ertappte Valeria sich dabei immer seltener an ihn zu denken. Es war durchaus auch ihr klar, dass die Fahrten der Wahlfänger selbst die der Indienfahrer wie einen kurzen Segelausflug wirken ließen, doch für sie an Land waren diese drei Jahre eine lange Zeit gewesen. Es war im Spätherbst 1808, als eines Morgens früh energisch an ihre Tür geklopft wurde. Widerwillig schlug sie erst das eine, dann das andere Auge auf. Dem Dämmerlicht in der Gasse vor ihrem Fenster nach zu urteilen durfte die Sonne gerade erst als Dünner streifen über den Fluten der Nordsee erschienen sein.. Wer immer auch vor der Tür stand raubte ihr gut eine Stunde ihres knappen Schlafs. Vorsichtig schob sie einen Fuß unter den Decken hervor und zog ihn sofort wieder zurück. Es war bitterkalt. Die Nächte brachten schon den ersten Frost, der die Fenster mit Eisblumen verzierte und die ganze Stadt die Zähne zusammenbeißen und nach einem Platz in einer warmen Stube suchen ließ. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken sich einfach wieder auf die Seite zu drehen und weiter zu schlafen. Sollte der Störenfried später wieder kommen.

    Als er jedoch hartnäckig blieb und sich erneut bemerkbar machte, setzte sie sich mit einem Stöhnen auf der Bettkante auf und rieb sich die Augen. Sie tappte zum Spiegel, der über einer Kommode hing und ordnete hastig ihr Haar. Dann warf sie sich einen Morgenmantel über und trat an die Tür. Draußen stand ein Mann von ungelenker, derber Gestalt, dessen von weißen Kotletten und einem Haarkranz umrahmtes Gesicht eine Bräune zeigte, wie er sie in diesen Gefilden nie hätte bekommen können. Zuerst glaubte Valeria einen Landstreicher vor sich zu haben. Doch als sie die Tür öffnete nahm er seine abgewetzte Mütze ab und verbeugte sich ungeschickt. „Guten Morgen, Lady“, sagte er, wobei er eine unvollständige Reihe schadhafter Zähne zeigte. „Man sagte mir, dass hier eine Lady Valeria Glick wohnt.“ Sie raffte ihren Mantel noch etwas enger um sich und nickte. „Sie steht vor ihnen.“ Er lächelte und zog einen zerknitterten Umschlag aus in feuchter Luft wellig gewordenem Papier aus einer Hosentasche. „Verzeihen sie bitte die frühe Stunde, aber ich will lieber nicht unterwegs sein, wenn die Häscher der Krone die Straße unsicher machen. Sie haben einen Hang selbst einen Seebären aus Boston zu einem Bürger ihrer Majestät zu erklären und an seine 'Pflichten' im Kampf gegen Frankreich zu erinnern.“ Er hielt ihr den Brief hin. „Jemand in Buenos Aires hat mich angeheuert das hier bei euch abzuliefern. Es schien ihm sehr wichtig zu sein.“ Sie runzelte die Stirn. „Buenos Aires?“ „Aye“, antwortete er und deutete auf den in grober Handschrift auf das Kuvert geschriebenen Namen. „Va-le-ri-a... Glick, Edin-bur-gh“, laß er langsam und mit einigen Schwierigkeiten vor. „Jeder, der den Namen kannte, hat mich hierher geschickt.“ Sie nickte erneut und nahm den Brief entgegen. „Ich danke ihnen.“

    Als sie die Tür wieder schließen wollte, hob er hastig die Hände und meinte durch den Türspalt hindurch: „Ähm Lady... Lady, es hat die ganze Nacht gedauert euch zu finden. Habt ihr vielleicht etwas für eine trockene Kehle?“ Sie murmelte missmutig vor sich hin und entschwand schnell, und verschloss die Tür, um ihm einen Sixpence aus dem Fenster zu reichen. Dann ging sie in ihr Arbeitszimmer, wo sie den Brief zunächst auf ihren Schreibtisch legte und einige Scheite Holz in den Kamin legte. Als Feldagentin genoss sie anders als die meisten Antiker nicht den Luxus ständig umsorgt von automatisierten oder lebendigen Dienern in zentralgeheizten Häusern und verborgenen Refugien zu leben und Wind, Kälte und Schmutz nur ertragen zu müssen, wenn man sich bewusst dafür entschied. Unwillig sich mit Zunder oder Anmachholz abzumühen, zwei Dinge gegen die sie einen persönlichen Groll hegte, der eingedenk der fortwährenden Weigerung dieser einfachen Hilfsmittel in ihren Händen zu funktionieren auf Gegenseitigkeit beruhen musste, öffnete sie ein Geheimfach in der hölzernen Täfelung der Wand, langte nach dem darin liegenden Thermostrahler und entfachte das Feuer mit einem kurzen Feuerstoß.

    Dann setzte sie sich an den Tisch und nahm den Brief in die Hand. Buenos Aires... Eine Stadt, die seit Jahren im Zentrum einer Serie von Kriegen um die Selbstbestimmung Lateinamerikas von Spaniens Kolonialherrschaft und britischen Ambitionen stand. José de San Martín und Simon Bolivar hatten sich an beiden Enden des Kontinents auf die Seite der Aufständischen geschlagen und die Dinge begannen sich gegen die Spanier zu wenden. Praktisch alle Antiker hatten den Kontinent verlassen und sich in die relative Sicherheit Britannien oder Indiens geflüchtet, die von den großen Kriegen dieser Zeit nicht direkt berührt wurden. Wer aus Buenos Aires sollte ihr also einen Brief schreiben? Sie öffnete das Kuvert und entfaltete den Brief. Das Papier war ebenso mitgenommen wie der Umschlag und die Schrift teilweise etwas verwaschen, ließ sich aber noch gut entziffern. Was sie las ließ ihr Herz schneller schlagen.


    „Meine geliebte Valeria,

    Ich hoffe, dass du den anmaßenden Fremden nicht vergessen hast, der damals im 'Lions Inn' nicht von deiner Seite weichen wollte. Es ist zwei Jahre her, dass du mich auffordertest zu dir zurück zu kommen. Ich gebe diesem Brief einem amerikanischen Seemann mit, der bald nach England segeln will. Wenn er dich erreicht kann noch einige Zeit mehr vergangen sein.

    Herr im Himmel, ich wollte dich wieder sehen. In den anderthalb Jahren bis zum Sommer Anno '05, in denen wir im arktischen Meer waren habe ich jeden Tag an dich gedacht. Deine engelsgleiche Stimme hat mich ständig in Gedanken begleitet und die Erinnerung an deine wunderschöne Erscheinung hat mich jede Nacht wach liegen lassen. Als wir in den Hafen von Liverpool einliefen, um unseren Fang zu entladen, bevor wir nach Edinburgh zurück in See gehen konnten, geriet ich mit einigen Männern der Besatzung unter die Soldaten.

    Ich will dir die Einzelheiten ersparen. Du sollst aber wissen, dass ich mich am nächsten Morgen auf einem Kriegsschiff mit Kurs auf Spanisch-Amerika wiederfand. Unser Kapitän war ein scharfer Hund, der jeden kielholen ließ, der auch nur offen darüber sprach sich davon zu machen, egal ob man freiwillig an Bord war oder nicht. Wir fuhren an den Río de la Plata, wo Soldaten die Städte zu beiden Ufern besetzen und den Spaniern die Kontrolle über ihre Kolonien entreißen sollte. Aber das Volk dort leistete mehr widerstand als erwartet. Als unser Schiff unter Kanonenfeuer geriet sah ich meine Chance und suchte das Weite.

    Als ich das Ufer erreichte, nahm man mich gefangen. Mit Glück fand sich jemand, der Englisch sprach und dem ich klar machen konnte, dass ich nie für die britische Krone hatte kämpfen wollen. Man gab mir eine Chance und ich schloss mich den Verteidigern an. Das ist nun fast drei Monate her. Ich habe mich Admiral William Brown angeschlossen und unterstütze den Freiheitskampf gegen Spanien. Ich hoffe hier eine neue Heimat finden zu können. Aber ohne dich kann ich auch hier nicht glücklich werden

    Ich habe nicht vergessen wie besorgt, ja unglücklich du gewirkt hast, als du mir von dem erzähltest was in Edinburgh von dir verlangt wird. Hier böte sich die Gelegenheit von alledem loszukommen. Argentinien ist ein wunderbares Land, in dem wir gemeinsam eine Zukunft in Würde und Freiheit finden können. Ich bitte dich zu kommen und mich zum glücklichsten Mann auf Gottes Erde zu machen.

    In Liebe,
    Coinneach“

    Sie zögerte, bevor sie den Brief wieder weg legte. Tausende Gedanken rasten ihr durch den Kopf. Ein Leben an seiner Seite in Argentinien? Der Brief hatte zwei Jahre gebraucht sie zu erreichen. Wie konnte sie wissen ob er noch lebte? Wie könnte sie sich aus all ihrer Verantwortung hier stehlen, wie wie ein dummes Mädchen durchbrennen? Würde sie in ein selbstauferlegtes Exil gehen, oder nur eine Auszeit nehmen? Was sollte sie tun wenn der unweigerliche Tag seines Todes käme? Sie kannte ihn doch kaum mehr als eine Woche gekannt, diese eine Woche in der sie zum ersten Mal seit sehr sehr langer Zeit wieder eine gewisse Leichtigkeit des Lebens gespürt hatte, in der ihre Sorgen so weit weg schienen... Sie stützte die Stirn auf die Hände und versuchte ihrer widersprüchlichen Gefühle Herrin zu werden. Wie konnte sie auch nur daran denken es nicht wenigstens zu versuchen?

    Vier Wochen später stand sie auf einem Hügel, von dem aus man den Silberstrom viele Meilen weit überblicken konnte, an der Küste vor der Hauptstadt der vereinigten Provinzen und sah auf das Meer hinaus. Auch andere Frauen hatten sich eingefunden, warteten auf die Rückkehr der Schiffe und schütteten den anderen ihre Herzen aus, um einander die Sorgen zu nehmen. Die Leute nannten diesen Ort el montículo de las mujeres marinieros, den Hügel der Frauen der Seeleute. Allerdings hatte sie vom Kutscher, der sie die letzten Tage jeden Morgen hier heraus gefahren hatte, auch den Namen Wittwenhügel aufgeschnappt. Knapp drei Wochen war es her, dass sie ihre Angelegenheiten in Edinburgh geregelt und sich von einem befreundeten Piloten in einem Jumper unweit der Stadt hatte abliefern lassen. Hier hatte sie erfahren müssen, dass Admiral Browns Schiffe einige Wochen zuvor ausgelaufen waren, um ein spanisches Geschwader zu stellen, dass Kurs auf Montevideo, Spaniens verbliebene Hochburg am Nordufer der Bucht, gesetzt hatte. Niemand hatte sagen können wann sie zurück kommen würden.

    Und heute sollte das Bangen und Warten ein Ende finden. Am Horizont tauchten weiße Segel auf. Valeria hob die Hand über die Augen, um nicht von der im Südosten stehenden Sonne geblendet zu werden und erkannte mehrere Schiffe, die über die tiefblauen Fluten glitten. Eine Frau in einer nahe stehenden Gruppe entdeckte sie ebenfalls und rief aufgeregt etwas auf Spanisch, das Valeria nicht verstand, die Frauen aber veranlasste ihre Röcke zu raffen und den Hügel hinab zu laufen. Binnen weniger Augenblicke setzte die gesamte Gruppe sich in Bewegung und lief zurück in Richtung der Stadt. Auf halbem Wege kamen die Schiffe zogen die Schiffe auf dem la Plata an ihnen vorbei. Fregatten, bewaffnete Handelsschiffe, sie alle trugen die blau-weiß-blaue Flagge der vereinigten Provinzen mit dem goldenen Sonnenemblem am Großmasttop. An der Spitze stand die 'Hercules', Browns Flaggschiff. Einige Frauen blieben stehen, begrüßten die Schiffe aus vollem Halse und winkten den Männern auf den Decks zu. Ein Paar winkten zurück, doch die meisten erklommen die Masten, um die Segel einzuholen. Valeria lief unbeirrt weiter zum Hafen. Dort war bereits eine große Menge zusammengekommen, um die Matrosen zu begrüßen. Die patriotische Begeisterung in der jungen Nation war groß und der Admiral war einer der großen Helden der Unabhängigkeit.

    Sie richtete ihre Blicke zuerst auf ein zum Kanonenboot umgebautes Walfangschiff, auf dem sie ihn einem Bauchgefühl folgend vermutete, das an einer der äußeren Molen anlegte. Sie beobachtete wie die Besatzung von Bord ging, wie Männer ihre Familien begrüßten oder sich einfach nur freuten wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Dann hörte sie auf einmal ihren Namen. Erschrocken drehte sie sich um und sah Coinneach, der vom Vordeck der 'Hercules' in ihre Richtung sah. Er war wie erstarrt, völlig überrumpelt davon sie zu sehen. Dann zögerte er nicht weiter, sondern schwang sich über die Reling und sprang auf die gut vier Meter tiefer liegende Mole hinunter. Wenige Sekunden später lagen sie einander in den Armen. Im ersten Moment glaubte sie in einem Schraubstock erdrückt zu werden. Als er seinen Griff etwas lockerte und sie nach Luft schnappen und ihm ins Gesicht sehen konnte schwieg er zuerst und sah sie an, als könne er immer noch nicht fassen, dass sie wirklich gekommen war. Als sie einander küssten wussten sie beide, dass sie nie mehr anderswo sein wollten.

    „Hat euer Vater nie gemerkt, dass an seiner Angebeteten etwas ungewöhnlich war?“, erkundigte sich Alain, der Glicks Schilderungen aufmerksam gefolgt war. Der lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, aber damals wahrscheinlich noch nicht. Das änderte sich erst nach meiner Geburt.“ „Was änderte sich?“ „Man könnte sagen, dass ich ihre wahre Natur verraten habe. Die beiden heirateten – vor allem auf sein Drängen hin – einen Monat später. Der Admiral persönlich soll sie auf seinem Schiff getraut haben. Und acht Monate nach der Hochzeit kam ich auf die Welt. So etwas passiert eben auch in den besten Familien...“

    Cyrus Glick war ein ungewöhnliches Kind, das seinem Vater viele Rätsel aufgab. Er wuchs nur langsam und schien für alles das er lernen musste doppelt oder dreimal solang zu brauchen. Erst nach fast einem halben Jahr konnte er seinen Kopf selbst halten, erst mit elf Monaten versuchte er sich in seiner Wiege zu drehen. Noch auffälliger aber als dass er mit einem halben Jahr kaum 4 Kilo wog war seine Neugierde. Vom ersten Tag an wanderten seine großen Augen im Raum umher, begierig jedes noch so kleine Detail zu erfassen. Kaum das er genug Kontrolle über seine Finger besaß, um Dinge greifen zu können, betrachtete er alles was man ihm in die Hand gab von allen Seiten. Stunden konnte er sich damit beschäftigen Gegenstände zu mustern oder abzutasten. Und wenn man mit ihm Sprach begann er über Pointen und Wortwitze zu lachen, die manche Kinder in der Schule noch nicht begriffen, lange bevor er sprechen konnte. Ärzte untersuchten ihn, konnten aber trotz seiner abnormal langsamen Entwicklung keine Krankheiten feststellen. Sorge und Zweifel begleiteten seinen Vater noch Jahre nach seiner Geburt. Valeria, die sich voller Geduld um Cyrus kümmerte, als sei er völlig normal, half ihm mit der Angst zu Leben. Eines sonntäglichen Morgens dann, als er von der Messe nach Hause kam, in der er jede Sekunde für seinen Sohn gebetet hatte, kam sein Junge ihm plötzlich mit unsicheren Trippelschritten zur Tür entgegen und brabbelte aufgeregt: „Papa ist wieder da.“ Als er seine erste Überraschung überwunden hatte, hob er ihn vom Boden hoch, wirbelte ihn herum und lachte. Er würde nie wieder Fragen stellen.


    Buenos Aires, Anno 1821:

    „... und so schaute er zu dem Land zurück, das er verloren hatte und wusste in seinem Herzen, dass sein Volk ihn ebensowenig vergessen würde wie er sie. Denn obwohl ihre Feinde triumphiert hatten waren ihrer aller Herzen ungebrochen und das Feuer, das er in ihnen entfacht hatte, würde auch in zehn, auch in hundert, auch in tausend Jahren noch brennen. Und als er seinen Fuß auf Skye setzte schwor er, dass er zurückkehren würde, wenn sein die Glut zu erlöschen drohte und sein Land ihn wieder brauchen würde. Seitdem berichten Fischer und Wanderer, dass sie wenn Abends der Nebel fällt eine Gestalt hoch erhoben auf den Klippen stehen und auf Schottland schauen sahen. Denn dort stand Charles Stuart und sah in die Herzen seiner Leute. Und dort steht er heute noch.“

    Cyrus Glick öffnete noch einmal die Augen und wälzte sich in seinem Bett herum, um seinem Vater, der die letzte halbe Stunde auf der Bettkante gesessen und eine Geschichte erzählt hatte, anschauen zu können. Die geradezu atheistischen Zweifel an der Erzählung seines alten Herrn waren nicht zu übersehen. „Du hast gesagt der Prinz sei vor hundert Jahren in seine Heimat zurückgekommen. Er muss über 150 sein. Wie kann ein Mensch so lange leben?“ Coinneach lachte amüsiert und gutmütig. „Zwischen Himmel und Erde ist alles möglich. Es ist nur eine Frage des Glaubens und des Willens. Ein starkes Herz kann möglich machen, was alle für unmöglich hielten.“ Cyrus schaute missmutig drein. „Das Herz ist ein Muskel in der Brust, der das Blut durch den Körper pumpt. Es ist so stark, dass das Blut zwei Meter in die Höhe schießt, wenn man eine große Schlagader öffnet.“ Coinneach seufzte und beugte sich zu seinem Sohn hinunter, um ihm die Decke aus hellem Leinenstoff wieder über die Schultern zu ziehen und etwas festzustopfen. „Nicht dass ich mit etwas Morbidität nicht umgehen könnte, aber du gibst eindeutig zu viel auf diese Bücher, die deine Mutter dir gibt. Das Herz“ - er legte ihm eine Hand auf die Brust, so dass man seinen Herzschlag dagegen spüren konnte - „ist mehr als das was diese Forscher sagen. Herz und Atem sind Spiegel unserer Lebendigkeit und Seele. Warum sonst lehnen wir uns an jemanden an den wir lieben, um seinem Herzen zu lauschen?“

    Durch den Spalt der angelehnten Tür hörte man gleichzeitig mit einem lauten Scheppern ein schmerzerfülltes aufjaulen, gefolgt von wütendem Geschrei: „Damnatus! Perdo te, dolorem exsistentiae mei!“ Der Vater musste wieder schmunzeln. Er wuschelte seinem Sohn, der dabei mit einem protestierenden Laut den Kopf unter die Decke zu ziehen versuchte, durch die Haare und sagte: „Schlaf jetzt. Ich sollte zu deiner Mutter, bevor sie das Haus in Brand setzt.“ Er verließ den Raum und schloss die Tür vorsichtig hinter sich. Über knarzende Dielen huschte er so leise wie möglich in die Küche, wo Valeria am Herd stand, zwei Finger der rechten Hand zwischen den Lippen und den wütenden Blick auf die Pfanne gerichtet, an der sie sich verbrannt hatte. Er schlang die Arme um ihre Taille, küsste sie und meinte: „Lass mich das machen. Du weckst sonst noch die Kinder auf.“ Sie nickte und trat beiseite, um sich an den Küchentisch zu setzen. Sie war nie eine gute Köchin gewesen und verließ sich in den Monaten, in denen er auf See war, vor allem auf die Dienste einer Köchin, einer in die Jahre gekommenen und fröhlichen Frau, deren Schürze sich über ihren fülligen Hüften und ihrem Bauch spannte und die es verstand ihr langes, schwarzes und stets fettig wirkendes Haar mit wenigen Handgriffen zu einem kunstvollen Turm hochzustecken, wenn immer sie an den Herd trat. Sie kochte einfach, doch wie sie es schaffte ihren Gemüseeintopf so zuzubereiten, dass er nach Stunden noch heiß blieb, stellte Valerias Verständnis der Thermodynamik auf eine harte Probe.

    Coinneach hingegen hatte auf langen Reisen notgedrungen zu kochen gelernt, wenn er gemeinsam mit anderen Männern bei arktischer Kälte um Lagerfeuer an den Felsstränden Svalbards oder Grönlands gesessen und der Smutje krank in der Koje lag oder von schlechter Laune nach einem Wortwechsel mit dem Kapitän getrieben seine Wut am Essen der Mannschaft ausgelassen hatte. Zu Kochen bedeutete für ihn etwas wie weiße Magie, wenn er für seinen Sohn und seine beiden einige Jahre jüngeren Töchter gute und reichhaltige Nahrung zubereitete. Gefestigt in der Überzeugung, dass sie irgendwann genauso groß und kräftig werden würden, wie ihre Altersgenossen, wenn er ihnen genug gesundes Essen auftischte, nahm er unerschrocken den Kampf mit Töpfen und Pfannen auf, während andere Väter diese Aufgabe an ihre Frauen delegierten.

    Während in der Pfanne Fisch vor sich hin schmorte und ihr Mann Kräuter zugab, die er von an einer Schnur von der Decke hängenden Büscheln abriss, meinte Valeria: „Bonnie Prince Charlie? Die Geschichte hast du ihm doch schon mal erzählt, oder?“ Er schmunzelte und wendete den Fisch. „Wahrscheinlich. Er kann sich meist besser daran erinnern als ich.“ Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. „Dabei starb der letzte Stuart ein Jahr bevor er geboren wurde.“ „Was die Geschichte nicht weniger wahr macht. Es geht nicht darum, ob jemand von Skye aus über das Hochland wacht, sondern darum sich seinen Mut zu bewahren.“ Er schwieg für einen Augenblick, bis er hinzufügte: „Außerdem hat meine Großmutter mir die Geschichte immer so erzählt.“

    Er füllte den Fisch auf zwei Teller und setzte sich zu ihr. Nachdem sie einige Bissen gegessen hatten sprach er etwas an, das ihm den ganzen Abend auf der Zunge gebrannt hatte: „Valeria, ich glaube wir sollten Cyrus auf eine Schule schicken.“ Sie hielt inne und sah ihn an, als habe er etwas zur Sprache gebracht wovor er sich gefürchtet habe. „Warum?“, fragte sie schließlich. „Ich glaube nicht, dass ein dahergelaufener Lehrer ihm etwas beibringen könnte, was er nicht schon bei mir gelernt hätte.“ Coinneach nickte. Nie hatte er jemand mit ähnlich scharfem Verstand oder umfassenden Wissen kennen gelernt wie seine Frau. Das ihr Herd nie ohne Feuer und ihre Familie nie ohne Brot gewesen war war nicht nur dem Sold eines ersten Maats geschuldet, den er für seinen Dienst in der Marine nach Hause brachte, sondern auch ihrer Arbeit als Schriftstellerin und Dozentin. Sie schrieb unter mehreren Pseudonymen Artikel für große Zeitungen von Patagonien bis hinauf nach Porto Alegre, korrespondierte mit den klügsten Köpfen Lateinamerikas und gab als einzige Frau Kurse an der staatlichen Universität. Ihre Kinder hatten diesen Scharfsinn eindeutig geerbt und eigneten sich immer neues Wissen mit spielerischer Leichtigkeit an. Valeria hatte Cyrus schon Dinge beibringen können, mit denen einige ihrer weniger begabten Studenten an der Universität sich schwer taten und ihre ältere Tochter hatte schon mit vier Jahren angefangen die Rechtschreibfehler ihres Bruders zu korrigieren. Und trotzdem war Coinneach von der Richtigkeit und Notwendigkeit seines Vorschlags überzeugt.

    „Doch“, beharrte er, „ich denke das können sie. Es gibt Dinge die man nicht aus Büchern lernen kann. Schon so etwas grundlegendes wie mit anderen Menschen als nur uns umzugehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er ist nicht soweit. Und es wird noch sehr viel Zeit dafür bleiben.“ Er streckte die Hand über den Tisch aus und ergriff ihre. Als sie von ihrem Teller auf und ihm in die Augen sah erwiderte er: „Er ist zwölf Jahre alt. Wie lang willst du noch warten?“ Er entzog sich seinem Verständnis welche Ziele Valeria mit ihrer Erziehung verfolgte, doch er hatte eine klare Vorstellung von den Pflichten eines Vaters bei der Erziehung eines Sohnes. Es galt ihm mitzugeben was er zur Erfüllung aller Pflichten brauchte, die das Leben ihm auferlegen mochte: Seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, Kinder zu zeugen, seine Familie zu ernähren und Feinde zu erschießen. Und er wusste dass dabei unweigerlich der Tag kommen würde, an dem er seinen Sohn einer gierigen und grausamen Welt überlassen musste, damit er auf seinen eigenen Füßen stand.

    Valeria starrte für einen Moment wieder auf die Tischplatte. „Hast du Angst ihm könnte etwas passieren?“ Sie verneinte: „Ich halte es einfach nicht für nötig. Außerdem... ist er anders als andere Jungen. Er ist kleiner und schwächer als andere in seinem Alter und gleichzeitig so viel klüger. Hast du diese Jungen einmal auf der Straße gesehen? Wie sie im Dreck wühlen, sich prügeln und nichts als Unsinn anstellen? Er würde nicht dazugehören.“ „Dann wird er es lernen. Sich in eine Mannschaft einzufügen muss man genauso lernen wie Höflichkeitsregeln oder Mathematik.“ „I...“ sie zögerte, sah ihn an und wiegte den Kopf leicht zur Seite. „Es ist dir wichtig, oder?“ „Ja. Weil ich glaube dass es wichtig für unseren Sohn ist.“ Sie seufzte. „Man kann ihn nicht einfach mit Gleichaltrigen in eine Schule schicken. Aber es ließe sich sicherlich eine Lösung finden.“ Er lächelte, nahm seine Hand von ihrer und strich ihr sanft über die Wange. „Es wird gut gehen. Hab Vertrauen.“ Keiner von beiden bemerkte Cyrus, der auf dem Flur gestanden und alles mitgehört hatte. Seine Hände waren so fest zu Fäusten geballt, dass seine Fingernägel sich in das Fleisch seiner Handballen bohrten. Die Vorstellung eine Schule besuchen zu sollen machte ihm Angst. Nicht weil er die Lehrer gefürchtet hätte oder lernfaul gewesen wäre, sondern schlicht und ergreifend wegen der Mitschüler. Er war nie unter vielen Menschen gewesen und hatte nur mit den Bediensteten, Gästen seiner Eltern oder deren Freunden und Kollegen zu tun gehabt. In der Kirche drängte er seinen Vater immer einen Platz am Rand der Menge zu suchen und große Feste hatte er bisher erfolgreich gemieden. Es war Angst, die ihn lähmte.

    Drei Wochen später stand er eines frühen Morgens mit seiner Mutter vor dem Gebäude einer der besten Knabenschulen der Stadt. Er verstand dass sie einen ihrer Kollegen an der Universität hatte bemühen müssen, der mit dem Direktor der Schule bekannt war, um einen der wenigen Plätze zu bekommen, die manche Männer, die zu den reichsten Großgrundbesitzern und Schifffahrtsmagnaten Lateinamerikas, ein Vermögen zahlten, um ihre Söhne hier her schicken zu können. Trotzdem wurden seine Schritte mit jedem Zoll, dass sie sich dem Gebäude näherten, kürzer. Die Schuluniform schien ihm die Luft abzuschnüren und das Gebäude, ein ehemaliges Kloster aus den Gründungstagen der Stadt, das noch von einer mehrere Meter hohen Mauer umgeben schien ihm finster und bedrohlich. Die Glocke im Torbogen, der den Blick auf den Hof freigab, wurde in seinen Geist zu einem Fallbeil, das auf ihn niedersausen würde, sobald er einen Schritt darunter her tat. Doch seine Mutter kannte kein Erbarmen. Als er Anstalten machte vor dem Bogen stehen zu bleiben warf sie ihm jenen Blick zu von dem er wusste dass er die letzte Warnung vor einer Straflektion und einem Donnerwetter war, nach dem er sich ihr eine Gefühlte Ewigkeit – wenn auch in der Realität meist nur einen Nachmittag – nicht mehr unter die Augen trauen würde. Also folgte er ihr.

    An der Tür des Hauptgebäudes übergab sie ihn an einen Lehrer, der gütig zu ihm herunter lächelte und sich als sein künftiger Sprachlehrer vorstellte. Und ihm erklärte was ihn erwarten würde. Die Schule erschien ihm überfrachtet mit Vorschriften, die alles angefangen mit der Hast in der man sich durch die Gänge bewegen durfte bis hin dazu wie man die Lehrer anzusprechen hatte regelten. Dann wurde er durch sich allmählich leerende lange Flure zu einem Klassenzimmer geführt. Die spartanisch gestalteten Gänge, die einzig durch Heiligenbilder geschmückt waren, die von jeder Ecke aus auf die Schüler herab sahen, als behielten sie jeden ihrer Schritte und jede Schandtat im Auge, trugen nichts dazu bei seine Ängste abzubauen. Er versuchte auf dem ganzen Weg den größtmöglichen Abstand zu anderen Schülern zu halten, versuchte geradezu panisch niemanden zu berühren. Der Sprachlehrer blieb schließlich vor einer hölzernen Tür stehen, klopfte zweimal an und trat ein. „Professor de Landa“, sagte er zu jemandem, den der Junge nicht sehen konnte, „ich bringe ihren neuen Schüler.“ Dann signalisierte er Cyrus mit einer Geste einzutreten.

    An einem hölzernen Lesepult stand ein hoch aufgeschossener Mann mit ergrautem Haar und vernarbten Wangen. Er lächelte ohne das irgendwelche Freundlichkeit darin zu erkennen gewesen wäre und deutete auf Cyrus, der sich nun auch schlagartig der etwa zwanzig Jungen bewusst wurde, die von ihren Bänken aufgesprungen waren, als die Tür sich geöffnet hatte und ihn anstarrten. Man hatte ihn in eine Klasse mit 8-jährigen gesteckt, so dass keiner viel größer gewesen wäre oder älter ausgesehen hätte. Trotzdem war er unter den schmächtigeren im Raum. „Jungs, das ist euer neuer Mitschüler, Cyrus MacArthur-Glick. Er wird von heute an am Unterricht teilnehmen.“ Der Lehrer deutete auf die Klasse. „Erzähl den anderen ein paar Worte über dich, Cyrus.“ „I...“ Die Worte blieben ihm im Halse stecken. Er hatte das Gefühl einem wütenden Mob gegenüber zu stehen, der sich jede Sekunde auf ihn stürzen konnte. Es bedurfte einer weiteren Aufforderung des Lehrers seine Zunge zu lösen. „Nun?“ „Ich weiß nicht was zu sagen wäre, Herr Professor.“ „Wie wäre es für den Anfang mit Dingen wie deinem Alter und wo du bisher zur Schule gegangen bist?“ Er nickte. „Ich bin Cyrus. 12 Jahre alt.“ Gelächter brandete ihm Raum auf und Cyrus wurde schlagartig klar, dass er sein eigentliches Alter, das nicht einmal dem Rektor bekannt war, nicht hätte erwähnen sollen. Der Lehrer zog fragend die Augenbrauen hoch und Cyrus sagte mit hochrotem Kopf: „Verzeihung, ich meinte 7. Ich...“ „Du scheinst mir etwas nervös. Wir beginnen erst einmal mit dem Unterricht. Ramon rücke einen Platz auf. Cyrus, setze dich dort neben ihn. Er tat wie ihm geheißen und setzte sich neben einen anderen Jungen, der breit grinste, ihm die Hand reichte und murmelte: „Ramon de Aguila.“

    Sein erster Schultag wurde für Cyrus zu einer wahren Hölle. Er glaubte jede Sekunde die Blicke anderer Schüler auf sich zu spüren, die miteinander tuschelten und ihn taxierten wie eine Katze, die mit ihrer angeschlagenen und wehrlosen Beute spielte. Zu alledem kam, dass sie Lehrer in ihm regelrecht nostalgische Erinnerungen an die härtesten Lektionen, die seine Mutter ihm abverlangt hatte, weckten. Zwar wusste er ausnahmslos alles was sie ihren Schülern beizubringen versuchte, doch es gab immer noch genug Gründe ihn herunterzuputzen. Vor allem de Landa, der die Klasse in Latein unterrichtete, machte schon für einfachste Dinge, wie unsaubere Handschrift, jede Störung seines Unterrichts oder auch nur mit krummem Rücken dazusitzen vom Rohrstock Gebrauch. Als er wieder nach Hause kam warf er sich in seinem Zimmer nur aufs Bett und wollte den Raum nie wieder verlassen. Aber die eigentliche Marter erlebte er erst am Ende des elften Schultages.

    Er hatte den Torbogen gerade durchschritten und war auf die Straße herausgetreten, als er die Stimme eines seiner Mitschüler hinter sich hörte. Er sah über die Schulter und sah vier Jungen aus seiner Klasse. Ihm wurde sofort klar, dass sie ihn hier abgepasst haben mussten. Seine Kehle schnürte sich zu und böse Vorahnungen überfielen ihn. Die drei kamen schnell näher und drängten ihn gegen die alte Klostermauer. „Ich mag dich nicht“, stellte einer, der offenbar der Sprachführer dieses Halbstarkenrudels war, fest. „Du willst immer alles besser wissen und bist eigentlich blöd. Kannst dir nicht mal dein eigenes Alter merken.“ Ihm schwante, dass es nicht die glücklichste Wendung gewesen war, dass ihr Naturkundelehrer eine für ihn völlig triviale Berechnung einer ballistischen Flutbahn, an der diese drei zuvor mit Schimpf und Schande gescheitert waren, an ihn weiter gereicht und die Klasse nachdem er sie binnen weniger Augenblicke gelöst hatte aufgefordert hatte sich ein Beispiel an ihm zu nehmen. Nun auf Rache für ihre Schmach aus hatten sie sich in ihrem zweifelhaften Verständnis von Gerechtigkeit den Vorgenommen, durch dessen Leistung sie vorgeführt worden waren.

    „Du bist ein Blödmann“, griff ein anderer die Anklage auf. „Du sitzt immer nur in der Ecke und liest in diesen Büchern.“ Er packte sich Cyrus Schultasche und entriss sie ihm mit einem kräftigen Ruck. Drei Hefte flogen in den Staub, als er sie unter Protesten ihres Besitzers ausschüttelte. Dann fiel ein Buch heraus. Er sammelte es auf und starrte auf die goldenen Lettern, mit denen der Titel in den Einband geprägt war. „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“, las er offensichtlich ohne zu wissen was er in der Hand hielt vor, um das Buch dann aufzuschlagen und unvorsichtig darin zu blättern. „Gib mir das zurück“, forderte Cyrus ihn auf, was seinen Peinigern aber nur ein hämisches Grinsen entlockte. „Hol's dir doch. Oder bist du zu feige.“ Cyrus blieb wie angewurzelt stehen, während auch die anderen beiden ihn Feigling riefen. Offensichtlich enttäuscht und ermutigt davon, dass ihr auserkorenes Opfer nicht Versuchte sich zu wehren machte einer einen Schritt vor und schuppste ihn. Er fiel zu Boden und die drei stürzten sich auf ihn. In seiner Verzweiflung versuchte Cyrus nach ihnen zu treten, doch gegen drei Kontrahenten waren seine Chancen vorhersehbar. Dann zog auf einmal jemand einen der drei von hinten weg und Ramon war bei ihm. Er schrie die beiden anderen an, trat einen vor das Schienbein und verschaffte Cyrus genug Raum, dass er wieder aufstehen konnte. Mehr hinter seinem Helfer in Deckung als neben ihm sah er die drei Raufbolde an und sagte unter Aufbietung all seines Mutes: „Lasst mich in Ruhe.“

    „Oder was?“, fragte der Anführer der Drei. „Mein Papa ist...“ Er wurde in seinen Worten unterbrochen, als eine gewaltige Pranke auf seiner Schulter landete. Er drehte sich erschrocken um, sah nach oben und blickte in das Gesicht von Cyrus Vater, der sich unbemerkt von den Jungen hinter ihnen aufgetaucht war. „Wenn dein Vater auch nur einen Funken Anstand besitzt“, sagte er, „wird er euch dafür, dass ihr so feige wart dass ihr einen schwächeren nur zu dritt angegriffen habt, die Ärsche derart versohlen, dass ihr eine Woche nicht mehr sitzen könnt.“ Die Drei brauchten keine gesonderte Aufforderung, um das Weite zu suchen. Im Angesicht eines Erwachsenen, der für ihre Gegner Partei ergriff, traten sie auch ohne zu wissen wen sie vor sich hatten sofort die Flucht an. Cyrus warf sich gegen seinen Vater, schlang die Arme um seine Taille und begann zu schluchzen. Coinneach hielt ihn für einen Moment fest, dann kniete er sich neben ihm hin, um ihm zu helfen die Hefte aufzusammeln.

    Mit einem Blick zu Ramon meinte er: „Danke dass du ihm geholfen hast, Junge. Du hast das Herz am rechten Fleck.“ Ramon strahlte bis über beide Ohren und sagte: „Danke, Señor. Alfonso und seine Freunde machen immer Ärger. Er sagt er darf das alles, weil sein Vater so reich ist.“ Coinneach lachte laut auf. Er wechselte noch ein paar Worte mit Ramon. Nachdem auch Cyrus, der sich mittlerweile wieder etwas beruhigt hatte, sich bedankt hatte, gingen sie für den Tag getrennte Wege. Während Cyrus seinem Vater nach Hause folgte wirkte der zuerst etwas nachdenklich. Dann sagte er: „Glaubst du dieses Gerede, dass Reichtum einem alles erlaubt?“ Cyrus dachte nach. Nach einigen Minuten sagte er: „Wenn manche Leute mit allem durchkommen muss es irgendwie stimmen.“ „Und genau das darfst du nie glauben, mein Sohn. So haben auch die Spanier gedacht, als sie sich hier als Herren aufgespielt haben. Aber als sich ihre niederen Diener eines Tages geweigert haben ihnen weiter zu Diensten zu sein, hat sich gezeigt, dass sie größer waren als die von denen sie unterdrückt wurden. Keine Seele ist größer als die dessen, der sich nie unterworfen hat, des Unfreien, der sich seine Freiheit erkämpft, keine andere ist heiliger, größer, stärker und reiner. Keine Seele als die dessen, der sich nur vor seinem Schöpfer beugt, Gott, der nie vergisst, des gütigen Gottes, der die Menschen liebt, für die er nackt und in Schande am Kreuz starb. Deshalb hat die Freiheit gesiegt. Deshalb haben wir die Ketten unserer Herren abgeworfen. Deshalb kann dich ein Alfonso auch nicht in Ketten legen, wenn du deine Freiheit mit Stolz und Ehre verteidigst.“ Cyrus sah seinen Vater einen Moment lang an. Der wusste, dass sein Sohn ihn verstanden hatte. Dann nickte er, fragte aber gleichzeitig: „Sag mal: Wenn dieses Land seinen Freiheitskampf gewonnen hat, warum leben die Indios im Norden dann immer noch wie Sklaven?“ „A-haha... Das wird noch. Warte einfach bis zur nächsten Revolution.“

    Cyrus und Ramon wurden in den kommenden Jahren gute Freunde, die kaum etwas zu trennen vermochte und die alle Schandtaten gemeinsam begingen. Normalerweise fiel Cyrus dabei eine Rolle als Ramons Gewissen und gesunder Menschenverstand zu, wenn er seinem Freund manche seiner lebensgefährlichen Pläne ausreden oder ihnen die schlimmsten Kanten nehmen konnte oder seine Pläne die Grenzen von Erwachsenen gestellter Regeln zu sehr zu strapazieren drohten – sei es die Zeit gewesen, in der sie gemeinsam fortlaufen wollten, um in der Pampa ein Leben als Gauchos zu führen, sich während des Gottesdienstes aus dem Auditorium der Gläubigen zu stehlen, um den Kirchturm zu erkunden, Professor de Landas Brille zu verstecken, ohne die dieser auf seine alten Tage zusehends kurzsichtiger wurde, so dass er den Rektor einmal als Fräulein titulierte – überhaupt war der Lateinlehrer eines ihrer beliebteren Ziele, was seine natürliche Verachtung für seine glaubte man ihm ausnahmslos unfähigen und mit Faulheit geschlagenen Schüler noch weiter verstärkte – sei es bei der Suche nach Kuchen und Marmelade im Vorratsraum des Aguila-Anwesens oder bei der Akquisition einiger von Valeria MacArthur-Glicks Büchern, die sie als „für junge Männer in ihrem Alter“ ungeeignet vor ihnen verschlossen halten wollte.

    Manchmal war er aber auch Anstifter, wie als er beispielsweise die in anstrengenden Lehrstunden von seiner Mutter vermittelten Kenntnisse in Chemie zu praktischem Nutzen zu bringen, indem sie die morschen und verfallenen Überreste eines alten Lagerschuppens auf dem Land der de Aguilas mit einem Sprengstoffgemisch beseitigten, dessen Zutaten sie in einem Dutzend über die Stadt verteilten Apotheken erwarben. Mit Gestalten wie Alfonso hatten sie nur noch selten Probleme, seit sie auf das Angebot des alten MacArthur ihnen einige Kniffe für Raufereien beizubringen eingegangen waren. Im Prinzip waren seine Lehren denkbar simpel, enthielten sie doch vor allem verschiedene Formen von Tritten. Auf einem Schiff, das in rauer See stampfte und schlingerte, hatte man, wie er während ihrer ersten Trainingsstunde ausgiebig erklärte, nur selten seine Hände zur Verfügung, die zu oft gebraucht wurden um sich an irgendwelchen Tauen und Wanten festzuhalten, was die Füße zum Werkzeug des Schlages machte. Anfangs ließ er sie noch immer wieder auf Säcke von der Größe einer Wassermelone eintreten, die er zwischen anderthalb und zwei Meter über dem Boden aufhängte. Mit der Zeit wurden die Bewegungen komplizierter, schwungvoller und akrobatischer, was auch Cyrus zu Gute kam, der seine relative Schwäche ausgleichen konnte, indem er aus dem ganzen Körper Schwung holte. Ramon ergötzte sich an der Wirkung, die die Kraftübungen und das manchmal stundenlange Sparring unter Coinneachs Aufsicht auf seinen Körper hatten, genoss die Kraft und Geschmeidigkeit, die er dadurch erlangte. Cyrus blieb die athletische Physis seines Freundes verwehrt, doch in dem Maße, in dem Ramon sich schneller entwickelte als er, hatte er in ihm auch einen großen Bruder, dem Rabauken Respekt zollten, der auch auf seinen Begleiter abstrahlte und der die Schuld für viele ihrer gemeinsamen Streiche auf sich nahm.

    „Es waren vielleicht die besten Jahre meines Lebens.“ Die Erinnerung ließ Glick selig lächeln. „Auf jeden Fall waren es die sorglosesten und freisten. Nur wurde dadurch das Ende umso radikaler.“
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

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    Buenos Aires, Anno 1842:

    Der August des Jahres 1842 hatte das innig herbeigesehnte Ende der bitteren Kälte des Vormonats gebracht, die das südliche Ufer des la Plata mehrere Wochen lang in ihrem eisigen Griff gehalten hatte, bis vor wenigen Tagen die Sonne durch die in diesen Wochen unbewegte Wolkendecke gebrochen war. Er hatte in all diesen Tagen allen Behauptungen seiner Mutter die Witterung komme kaum einem frischen schottischen Frühlingsmorgen gleich nach einer Ausrede gesucht in den warmen Norden zu reisen, nicht ahnend, das einer seiner Freunde sich bald dort wiederfinden würde. Ramons Vater, Hernán de Aguila, hatte seinem Sohn die Pflicht auferlegt für sein Vaterland, das seit drei Jahren auf Seiten der Blancos in den uruguayanischen Bürgerkrieg verwickelt war, zum Schwert zu greifen. Beflügelt von den dummen Phantasien zweier junger Burschen, die noch an eine Süße und Ehre im Tod für das Vaterland glaubten, hatten sie sich gemeinsam verpflichten wollen. Nur war Cyrus auch mit 33 Lebensjahren ein halbes Hemd geblieben. Weniger muskulös als sein Freund und von eher drahtigem Körperbau glich seine Erscheinung am ehesten der eines schneidigen 18-Jährigen. Bei der Musterung hatte man ihn geradeheraus zurückgestuft und der Reserve zugewiesen. Ramon hingegen sollte in wenigen Tagen zur Ausbildung den Dienst in einem Husarenregiment antreten.

    Wohl wissend, dass ihr Freund nicht zurückkommen könnte, hatten sie gemeinsam mit ihren Saufkumpanen von der Universität den Abend hindurch gezecht und voll patriotischer Begeisterung auf kommende Siege getrunken, bis die ersten sogar auf dem Fußboden ausgestreckt das Gefühl gehabt hatten sich festhalten zu müssen. Sie hatten die Anderen schließlich im Wirtshaus zurückgelassen und sich auf dem Heimweg gemacht. Unter den Einflüsterungen verschlagener Wesenheiten, die ihrer auf dem Grund von Weinflaschen geharrt hatten, hatten sie sich allerdings verlaufen und waren in einem Park an einem Baum gelehnt eingeschlafen. Als Cyrus am folgenden Morgen von den ersten Sonnenstrahlen geweckt wurde, plagten ihn rasende Kopfschmerzen, die durch das Rascheln des Windes in den Blättern nur noch verschlimmert wurden. Er hielt sich den Kopf, blinzelte und sah sich um. Ramon lag in seinen Mantel gewickelt einige Meter neben ihm und hielt den Kalpak der Húsares de Pueyrredón, den er ihren Kumpanen stolz vorgeführt hatte, wie ein Plüschtier fest umarmt und schlummerte noch selig. Sie hatten am Vorabend bis zu einem Garten am unteren Ende jener Straße gefunden, in der das Haus seiner Familie lag. Es musste noch früh am Morgen sein. Sein Mantel war vom Tau durchtränkt und er fror wie ein Schneider. Mühsam rappelte er sich auf und stieß Ramon sacht an. Dann hörte er plötzlich lautes Hufgetrappel auf Pflastersteinen. Er blickte sich um und sah einen Reiter, dessen Pferd in raschem Tölt über die Straße huschte. Cyrus blinzelte zuerst verwirrt, dann realisierte er, dass der Mann die Uniform eines Marineoffiziers getragen hatte und in Richtung ihres Hauses unterwegs war. Nicht nur die Eile des Mannes, sondern auch dass sich nur selten ein Offizier im Haus MacArthur blicken ließ, wenn sein Vater ausgelaufen war, machte ihn stutzig und ließ ihm Übles schwanen. Energisch und unsanft rüttelte er Ramon wach und lief hinterher.

    Schon von weitem sah er das Pferd vor ihrem Haus stehen. Ein Dienstbote hielt die Zügel und streichelte es. Als er Cyrus angerannt kommen sah rief er: „Guten Morgen, junger Herr. Jemand ist gekommen, um mit Señora Valeria und euch zu sprechen. Wir haben uns schon gefragt, wo ihr die Nacht über gew...“ Er ließ dem Burschen keine Gelegenheit auszusprechen, sondern hastete dicht gefolgt von seinem Freund an ihm vorbei. Auf dem Flur vor dem Salon, wo seine Mutter Gäste für gewöhnlich empfing, stieß er beinahe mit einer seiner Schwestern zusammen, die an der nur angelehnten Tür stand und lauschte. Strauchelnd kam er nur eine Handspanne von ihr entfernt zum stehen. Durch den Türspalt konnte er die betretene Stimme eines Mannes hören, der in gedämpftem Ton mit ihrer Mutter sprach, während seine Schwester ihn mit Tränen in den Augen ansah und meinte: „Papa. Er wurde...“ Sie schluchzte. „Er ist...“ Für einen Moment seiner Fassung beraubt starrte er sie an. Dann nahm er sie in den Arm, drückte sie fest an sich und lauschte über ihr Schluchzen hinweg dem Gespräch hinter der Tür. Nur gab es nicht mehr viel zu hören. Es vergingen kaum zwei Minuten, da verabschiedete der Fremde sich und erschien vor ihnen in der Tür. Er sah Cyrus kurz an, senkte dann aber den Blick und knetete unschlüssig den Filz seines Zweispitzes. „Mein Vater... ?“ „Schrapnell nach einem Kanonentreffer auf dem Schiff“, antwortete der Offizier. „Es grenzt an ein Wunder dass er überhaupt noch lebt. Die Ärzte geben ihm nur noch ein paar Tage.“ Er legte Cyrus eine Hand auf die Schulter und drückte sie. „Tut mir Leid, Junge.“

    Der Fremde setzte sich seinen Hut wieder auf und verließ das Haus mit schnellen Schritten, als sei er froh nach getaner unangenehmer Pflicht entfliehen zu können. Cyrus hielt seine Schwester weiter in den Armen und sah zu seiner Mutter, die regungslos in ihrem Sessel gesessen hatte. Als ihre Blicke sich trafen glaubte er erkennen zu können, wie angestrengt sie nachdachte. Es war jener Gesichtsausdruck, den sie trug, wenn sie sich völlig auf ein Problem fokussierte, das es zu lösen galt – unerschütterlich im Glauben an sich selbst ruhender Verstand, für den die Wirklichkeit nicht mehr war als eine intellektuelle Herausforderung, die es zu bewältigen galt. Er konnte sich nichts vorstellen was sie noch hätte tun können. Also strich er seiner immer noch in Tränen aufgelösten Schwester nur beruhigend über den Kopf und murmelte ein stummes Stoßgebet. Dann stand seine Mutter auf, lief an ihnen vorbei und verschwand in ihrem Arbeitszimmer.

    Valeria warf einen flüchtigen Blick in den Raum voran, um zu überprüfen, ob sich entgegen ihrer wiederholten Anweisung doch jemand über die Schwelle gewagt hatte. Dann verschloss sie die Tür hinter sich und durchquerte den Raum mit drei schnellen Schritten hin zu einem Tisch. Sie warf ihn um und raffte den darunter ausgelegten Seidenteppich zusammen, um ihn achtlos beiseite zu schieben. Sie kniete nieder, schob die Fingernägel vorsichtig in einen dünnen Spalt zwischen zwei Dielen des Parketts und hob einige lose Bretter an, die ein Fach verdeckten, das sie insgeheim bei ihrem Einzug – der höhere Sold, der mit Coinneachs Beförderung vom ersten Maat zum Offizier einher gegangen war, hatte ihnen vor einigen Jahren den Umzug in ein neues, größeren Haus möglich gemacht – hatte anlegen lassen. Als ihre Hände sich um den in Stoff gewickelten Stein schlossen, der darin lag, zögerte sie für einen Augenblick. Ein zweites Mal stand sie vor der Wahl zwischen dem Leben in das sie geboren worden war und dem für das sie sich entschieden hatte. Sie wusste, dass sie im Begriff war alte Geister zu wecken, die sie nicht einfach wieder würde abschütteln können. Aber nichts zu tun bedeutete ihren Mann zum Tod zu verurteilen. Es war eine Wahl bei der ihr alle grausamen Mächte dieser Welt mit hässlicher Fratze über die Schulter sahen und hämisch lachten. Sie atmete noch einmal tief durch. Dann wickelte sie den Kommunikationsstein aus und aktivierte ihn.

    Während seine Mutter sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, hatten Cyrus und Ramon den Wagen angespannt. Als Valeria blass als habe sie ein Gespenst gesehen zu ihnen zurück kam, setzten sie sie gemeinsam mit seinen Schwestern – Alexis, die ältere der beiden, war zu Hause gewesen, ihre jüngere Schwester Sophia mussten sie aus der Schule holen – in den Wagen und machten sich auf den Weg zum Marinehospital. Weil das einzelne Pferd, das den leichten Wagen zog, schon unter dem Gewicht der drei zierlichen Frauen auf dem Kutschbock und dem raschen Tempo, in dem sie es führten, angestrengt zu schnauben begann, liefen die beiden Männer nebenher. Argentinien hatte die politischen Unruhen der frühen Jahre seit seiner Unabhängigkeit nicht überwinden können und war wiederholt in Konflikte mit seinen Nachbarn gezogen worden, so dass das Spital obwohl nur wenige dieser Konflikte die Hauptstadt selbst erreicht hatten in den letzten dreißig Jahren wohl nie leer gestanden hatte. Doch nachdem am frühen Morgen zwei Schiffe mit Verwundeten, sowohl aus Admiral Browns Geschwadern auf dem Paraná, als auch Männern von Einheiten, die sie auf dem Weg aufgenommen hatten, eingelaufen waren, war es überfüllt und regelrecht chaotisch. Cyrus brauchte einen Moment sich durchzufragen, bis er jemanden fand, der sie zu seinem Vater bringen konnte.

    Eine Ordensschwester führte sie durch den großen Krankensaal zu den Räumen, in denen Offiziere lagen. Einige abgekämpft wirkende, blutverschmierte Wundärzte eilten zwischen den Versehrten hin und her, um Verbände anzulegen oder mit durch den Anblick zu großen menschlichen Leids verhärmten Blicken Diagnosen zu stellen, die für zu viele Männer unter der Knochensäge oder mit genug Alkohol, um ihnen in den letzten Stunden den Schmerz zu nehmen enden würden. Schwestern bemühten sich den Anweisungen der Ärzte gerecht zu werden, Verbände zu wechseln oder den Männern einfach nur Mut zuzureden. Es stank nach Blut, Chirurgenspiritus und menschlichen Ausscheidungen. Die Schmerzenslaute oder das unverschämte Weinen einiger Männer ließen Cyrus das Blut in den Adern gefrieren. Zu wissen welche Wunden Musketen und blanker Stahl anrichten konnten und des Leids tatsächlich angesichtig zu werden waren zwei völlig verschiedene Dinge. Die Schwester führte sie durch einen Hinterausgang aus dem Saal heraus in einen deutlich ruhigeren Flur, von dem mehrere kleinere Räume abgingen und deutete auf den letzten auf der linken Seite. In einem der drei Betten dort lag Coinneach MacArthur Sein Torso war bandagiert. Ein blassroter Blutfleck schimmerte rechts nur wenige Finger breit unter seinen Rippen durch den Verband hindurch und sein Gesicht war durch den Blutverlust blass geworden. Nur sein flacher aber regelmäßiger Atem verriet, dass er noch am Leben war.

    Valeria trat an sein Bett und nahm seine Hand. Als er ihre Hände spürte, die sich seit sie ihn das erste Mal berührt hatte, nicht verändert zu haben schienen, schloss er seine Finger um sie, so er sie zu fassen bekam, und öffnete die Augen. „Valeria“, kam es ihm wie ein Flüstern über die Lippen. Sie lächelte, beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn sacht auf die Stirn. Dann winkte sie ihre Kinder heran. Coinneach lächelte Cyrus zu und versuchte einen Arm zu heben, um seine Töchter zu umarmen, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu. Er wollte etwas sagen, doch seine Frau legte ihm den linken Zeigefinger auf die Lippen und sagte: „Pssst. Spare dir deine Kraft. Es wird wieder in Ordnung.“ In ihrer Stimme schwang eine Überzeugung mit, als sei sie sich dieses Versprechens völlig sicher. Cyrus warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, den sie beflissentlich ignorierte. Ehrlichkeit war Sterbenden erst recht in der eigenen Familie gegenüber eine Frage des Anstands. Davon ungerührt sagte Valeria: „Halt nur noch etwas durch. Ich habe Hilfe gerufen.“ Sie blieben bis zum späten Abend im Spital. Valeria wich ihrem Mann nicht eine Sekunde von der Seite und ließ seine Hand nicht los. Cyrus hatte sich einen einfachen Hocker aus einem Nebenraum geholt, sich einen Platz an der Wand gesucht und den Hut ins Gesicht gezogen, um den wenig erholsamen Schlaf der letzten Nacht nachzuholen. Das Geräusch beschlagener Stiefel weckte ihn schließlich. Er schlug die Augen auf, schob den Hut aus der Stirn und sah einen Mann, der in der Tür erschienen war. Von kleinem Wuchs, schmächtiger Statur und mit Allerweltsgesicht hätte man ihn wohl wenige Augenblicke nachdem man ihn kennen lernte wieder vergessen, hätte er nicht einen imposanten, gewachsten und aufwändig gezwirbelten Schnurrbart getragen und feine, eindeutig fremdländische Kleidung getragen.

    Als sein Blick auf Valeria fiel wich sein ernster Blick einem Ausdruck der Freude und Erleichterung. Er machte Anstalten zu ihr zu gehen, doch bevor er seinen zweiten Schritt durch den Raum beenden konnte war Cyrus aufgesprungen und hatte sich ihm in den Weg gestellt. Der Mann sah zu ihm hoch, schürzte die Lippen und sagte: „Machen sie mir bitte Platz junger Mann. Valeria... Ihre Mutter wie ich vermute, hat mich gebeten zu kommen.“ Sehr zu Cyrus Überraschung sprach er Italienisch, eine der vielen Sprachen die seine Mutter ihm beigebracht hatte. Er sah über die Schulter zu seiner Mutter, die ihm nur mit einem harschen Nicken bedeutete den Weg frei zu machen und tat wie ihm geheißen. Der Mann drückte sich an ihm vorbei zu Valeria, die ihn mit den Worten „Gut das du da bist, Asklepaides“ begrüßte. Sie steckten die Köpfe zusammen, flüsterten einander etwas zu. Dann legte der Fremde seinen Gehrock ab, krempelte die Ärmel hoch und sagte: „Ich brauche heißes Wasser. Würden sie sich darum kümmern, junger Mann?“

    Als Cyrus gemeinsam mit einer Schwester, die ihm etwas Wasser aus der Küche gebracht hatte, wieder am Krankenlager seines Vaters ankam, hatte der Fremde begonnen mit konzentriertem Blick die Verbände Lage für Lage aufzuschneiden. Beim Anblick der unteren Verbände, die tiefrot von Blut durchtränkt waren, wollte er sich abwenden, zwang sich aber den Blick auf seinen Vater gerichtet zu halten. Die Ordensschwester sah nur überrascht zuerst ihren Patienten und dann den Mann, der sich seiner angenommen hatte, an und verschwand, wahrscheinlich um einen Arzt zu holen. Asklepaides entfernte indessen den untersten Verband. Ein schwacher Verwesungsgeruch breitete sich im Raum aus. Cyrus hätte die Schale beinahe fallen lassen. Im Unterleib seines Vaters klaffte eine nässende, eitrige Wunde, umgeben von Ödemen. Das Fleisch in der Wunde selbst war bereits schwarz.“ „Gangraena emphysematosa im fortgeschrittenen Stadium“, diagnostizierte der Fremde und fügte mit einem Blick in Cyrus Richtung hinzu: „Stell das Wasser bitte dort auf den Tisch.“ Er examinierte die Wunde kurz und zog dann eine feine Pinzette aus der Ledertasche, die er bei seiner Ankunft mit sich geführt hatte, um etwas aus der Wunde heraus zu ziehen. Dabei sah er zu seinem Patienten, der nicht die geringste Regung zeigte. „Völlige Gewebsnekrose in der Wunde. Es muss gut eine Woche her sein.“ Er zog etwas kleines, weißes aus der Wunde heraus. Erst im zweiten Augenblick wurde Cyrus klar dass es sich bewegte. „Der Arzt im Feld muss es mit einer Madentherapie versucht haben. Kein Erfolg.“ Er legte die Pinzette in eine polierte Metallschale und begann in der Tasche zu kramen. „Keine beschleunigte Atmung... Wie ist seine Körpertemperatur?“ „Normal“, antwortete Valeria. „Gut. Dann stehen die Chancen gut dass er keine Blutvergiftung erlitten hat. Dass er überhaupt noch lebt... Ich gebe ihm etwas um das Blut zu reinigen und ein Schmerzmittel. Für alles weitere muss ich ihn in eine vernünftige Praxis bringen.“

    Er zog eine Spritze, ein Instrument das sich immer noch nur wenige Ärzte leisten konnten, nebst eines kleinen Fläschchens mit einer klaren Flüssigkeit darin hervor und zog das Injektionsgerät damit auf. Als er die Nadel an eine Ader am Arm des Patienten ansetzen wollte erschien auf einmal einer der hiesigen Ärzte gemeinsam mit der Ordensschwester, die Cyrus das Wasser gebracht hatte. „Halt“, rief er laut aus. „Was machen sie mit dem Mann?“ Asklepaides sah den Medicus kurz und ungerührt an und setzte die Injektion. Dann fragte er, dieses Mal in sauberem Spanisch: „Wie lange hätten sie einem Patienten in diesem Zustand noch gegeben, Herr Doktor?“ Es folgte ein Moment des Schweigens. Dann sagte der Arzt: „Ich hätte erwartet dass er nicht einmal diesen Abend noch erlebt.“ „Sehen sie und deshalb bin ich hier.“ Er legte die Spritze bei Seite und zog eine andere mit einem zweiten Mittel auf. „Die Ehefrau dieses Vaterlandsverteidigers hat ihn in meine Obhut übergeben, da sie offenbar nichts mehr für ihn tun können.“ „Und was ha...“ Der Fremde hob beschwichtigend die Hände. „Bitte, bitte. Sind sie mit krankheitserregenden Mikroorganismen vertraut?“ „Natürlich“, kam die erboste Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Ich bin schließlich Mediziner.“ „Dann wissen sie wohl auch dass einige Arten des Wundbrands durch diese Organismen verursacht werden.“ „Ähm... Nein.“

    „Und deshalb bin ich hier. Ich korrespondiere regelmäßig mit einem Mediziner in Paris. Wissenschaftler haben dort einen Organismus entdeckt, der für diese Krankheit verantwortlich ist und suchen nach einer Arzenei um sie zu bekämpfen. Mein Freund schickte mir kürzlich eine Probe eines viel versprechenden Mittels. Es ist noch nicht sicher ob es wirklich wirkt oder vielleicht schlimmere Schäden anrichtet, aber Señora MacArthur-Glick ist bereit es mich damit versuchen zu lassen.“ „Sie haben eine Arzenei gegen Wundbrand?!?“ Wieder hob er die Hände. „Nein, nein. Wie ich ihnen sagte habe ich keine Ahnung ob es tatsächlich wirkt. Ich habe es bisher noch nicht zu testen gewagt. Außerdem habe ich kaum genug für einen Patienten.“ „Aber wenn...“ „Dann lasse ich es sie wissen.“ Der Wundarzt nickte. „Gracias. Ich habe heute schon drei Leute an den Brand verloren. Ein Mittel dagegen wäre ein Geschenk des Himmels. Wollen sie den Patienten hier behandeln?“ „Nein. Ich verlege ihn in meine Praxis.“ „Nun gut. Ich kümmere mich um die Papiere.“ Der Arzt und die Schwester verschwanden. Asklepaides atmete erleichtert aus. Valeria stieß ihn in die Seite und fragte: „Ein Freund in Paris?“ „Etwas besseres fiel mir auf Anhieb nicht ein.“

    Nach jener seltsamen nächtlichen Szene im Spital wurde sein Vater am nächsten Morgen verlegt. So unglaublich es klang schienen die Medikamente des Fremden seinen Zustand tatsächlich zu verbessern. Cyrus wusste aus diversen Lehrstunden unter der Anleitung seiner Mutter, wie lebendige Körper funktionierten. Aberwitzige Ideen zeitgenössischer Ärzte, wie die Vorstellung alle Adern führten vom Herzen in den Körper, wo sie endeten und das Blut im Gewebe versickere, oder die vermeintlich heilende Wirkung des – tatsächlich hochgradig toxischen – Quecksilbers bei einigen Krankheiten, deren Erwähnung in Gesellschaft als unschicklich galt, ordnete er jenen Märchen bei zu denen sie gehörten. Ihm war klar, dass es für die meisten Leiden, die letztlich nur von einer Störung im natürlichen Zusammenspiel von Körperchemie und Mikroorganismen herrührten, theoretisch Medikamente geben musste. Doch woher der Fremde sein Wissen und seine Mittel gegen Leiden nahm, an denen jedes Jahr tausende elendig zu Grunde gingen, war ihm ein Rätsel. Auch seine Behauptung ein ansässiger Arzt zu sein war denkbar plump, da er schon im nächsten Atemzug laut über die nötigen Vorbereitungen nachdachte, um einen Raum für eine Operation vorzubereiten, was sich für einen Arzt mit eigener Praxis erübrigt hätte. Cyrus versuchte seiner Mutter einige Fragen über diesen seltsamen Gesellen zu stellen, doch sie verweigerte mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete, jede Antwort.

    Der Fremde verbrachte den nächsten Tag mit weiteren vorbereitenden Behandlungen für einen Eingriff, in dem er das abgestorbene Gewebe entfernen wollte, ein Vorhaben das maßgeblich dadurch verkompliziert wurde, dass es bedeutete dem Patienten einen großen Teil der Muskulatur der Bauchdecke und Teile der darunter liegenden Organe herauszuschneiden. Wie immer er auch Coinneach MacArthur danach am Leben zu halten gedachte, es erforderte die Behandlung mit einer ganzen Reihe von Medikamenten. Schließlich machte er sich mit einem Dienstmädchen auf den Weg einige Laken und Spiritus zu besorgen – seine Ortskenntnis war praktisch nicht vorhanden und sein Orientierungssinn so miserabel, dass es Cyrus nicht überrascht hätte, hätte er sich nach der zweiten Straßenecke verlaufen, wäre er allein losgezogen.

    Fest entschlossen einige Antworten auf seine Fragen zu erhalten hatte Cyrus sich einen Platz vor dem Haus gesucht, um die beiden bei ihrer Rückkehr abzupassen. Doch etwas anderes zog seine Aufmerksamkeit vorher auf sich. Ein Mann kam die Straße herunter. Immer wieder warf er einen Blick auf etwas, das er in seiner Hand verbarg, um sich danach suchend umzusehen. Schließlich blieb er nur wenige Schritte von ihm entfernt stehen. Beide musterten einander. Er war klein, schmal, regelrecht hager. Sein Gesicht war von einer Farbe, die es unter der milden Sonne dieser Breiten nie hätte annehmen können, und obwohl seine Kleidung in geradezu ungebührlicher Weise Reichtum zur Schau stellte, hatte er nicht die Haltung oder den Gang eines Dons oder Finanzmagnaten. „Wo finde ich Valeria?“, erkundigte er sich nach einigen Augenblicken. Der Klang seiner Stimme machte klar dass er weder eine Frage noch eine Bitte geäußert hatte, sondern erwartete zu ihr gebracht zu werden, befehlsgewohnt und bar jeden Humors. Cyrus stieß sich vom Baum ab, an dem er gelehnt hatte, und verbeugte sich leicht, wobei er mit der Andeutung eines spöttischen Grinsen auf dem Gesicht antwortete: „Cyrus MacArthur-Glick, sehr erfreut die Bekanntschaft eines weiteren Bekannten meiner Mutter zu machen. Ich muss meine Überraschung gestehen: Was führt sie alle auf einmal hier her, nachdem sie seit ich Denken kann nie ein Wort über sie verloren hat? Ich bezweifle, dass sie alte Verehrer sind, die nun ihre Chance wittern.“ Der neue Fremde sah ihn nur für ein, zwei Sekunden mit zusammengekniffenen Lippen an. Dann erwiderte er: „Hör auf zu schwätzen und bring mich zu ihr.“

    Nach kurzem nachdenklichen Zögern führte Cyrus den Neuankömmling ins Haus, wo seine Mutter seinem Vater immer noch nicht von der Seite gewichen war. Auf dem Flur vor ihrem Schlafzimmer blieb er noch einmal stehen und sah misstrauisch zu diesem völlig Fremden, an dem er noch mehr nicht einordnen konnte, als an jenem geheimnisvollen Arzt. Dann trat er vor die Tür und wollte anklopfen. Doch der Fremde war unwillig noch weiter zu warten. Mit einem schnellen Schritt war er an der Tür, stieß sie auf und war im Raum verschwunden. „He“, stieß Cyrus erbost aus und machte einen Satz hinterher. Er packte den Fremden am Kragen, zog ihn zurück und stieß ihn, zugegebenermaßen etwas unsanft, gegen die nächste Wand. „Wer gibt ihnen das Reicht hier einfach so einzudringen, mein Herr?“ Hinter sich hörte er einen erstickten Schreckenslaut. Er sah sich um und bemerkte seine Mutter. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und sie starrte den Fremden an. Der riss mit einer energischen Bewegung Cyrus Hand von seinem Rock weg, strich sich die Haare glatt und machte ein paar Schritte weiter in den Raum hinein, wo er stehen blieb und zuerst den schlafenden Verwundeten im Bett, dann die Frau an seiner Seite ansah. An Valeria gerichtet sagte er einige Worte in der seltsamen Sprache, in der Cyrus sie einige Male vor sich hin hatte reden hören, als sie sich allein gewähnt hatte. Ihm war schon früh aufgefallen wie ähnlich sie dem Lateinischen war, so dass er das Gesagte grob verstehen konnte, als der Fremde seinen Vater als stattlichen Mann bezeichnete.

    Valeria starrte ihn noch einen Sekundenbruchteil an, dann stand sie auf und hastete dicht gefolgt von ihrem kryptischen Gast aus dem Raum. Sie verschwanden in ihrem Arbeitszimmer und schlugen Cyrus die Tür vor der Nase zu. Als er das Klicken des Schlüssels im Schloss hörte rannte er ins Herrenzimmer zwei Räume weiter, ging dort auf den Balkon und kletterte auf den Sims, der im ersten Stock um das Gebäude herum lief. Er hatte sich schon seit einigen Jahren nicht mehr auf den schmalen Vorsprung gewagt – zuletzt im Alter von 20, als er sich eines Abends aus seinem Zimmer gestohlen hatte, um sich mit Ramon die Freudenhäuser am Hafen anzusehen, ein denkbar kurzer Ausflug, der endete, als sie schon auf halbem Wege einem von Ramons älteren Brüdern in die Arme liefen, der sie zurück nach Hause brachte – und war etwas unsicher, doch die Neugierde war stärker. Er schob sie vorsichtig an eines der Fenster des Zimmers vor und spähte hinein. Leise konnte er die Stimmen der beiden hören.

    „Was hast du hier zu suchen, Tercio?“ „Dich“, antwortete der Mann nach einigem Schweigen. Er ging mit bedächtigen Schritten im Raum auf und ab. „Ich hatte gehofft eine Antwort auf eine Frage zu finden, die mich seit Jahren umtreibt: Was hat eine meiner besten Agentinnen geritten, dass sie einfach alles hingeworfen und sich aus dem Staub gemacht hat? Aber ich bin noch so ratlos wie zuvor.“ „Du bist ein Idiot.“ Die Anschuldigung ignorierend drehte der Fremde noch einige Runden. Dann meinte er: „Hättest du dir nur einen menschlichen Liebhaber gesucht, hätte es mich nicht interessiert. Ich konnte mich selbst schon davon überzeugen wie saft- und kraftlos Unsereins neben diesen animalischen Wesen wirken kann.“ Valeria lachte auf. Kurz, hämisch und trocken. „Was ist los? Packt dich die Sehnsucht nach Theben?“ Der Fremde seufzte. „Nimmst du etwa ihre engstirnige Moral an?“ Wieder schwiegen beide einander für einen Augenblick an. Dann warf der Fremde in einer abschätzigen Geste eine Hand in die Luft, als werfe er etwas von sich fort und sagte: „Wie auch immer: Ich kann nichts mehr daran ändern, dass du dich mit ihm in dieser Jauchegrube von einer Stadt niedergelassen und entgegen aller Regeln der Vernunft Kinder mit ihm in die Welt gesetzt hast. Es muss dir sehr ernst gewesen sein, wenn du dich dreimal freiwillig mit Medikamenten vollgepumpt hast. Oder hast du dutzende Fehlgeburten in Kauf genommen?“

    Sie schüttelte den Kopf. „Du verstehst gar nichts. Ihr wart der Grund warum ich gegangen bin. Ich habe euch gesehen und begriffen was ich nie werden wollte. Gefühle oder Moral stellen für dich genau wie für die anderen keine Hindernisse mehr dar. Alles was ihr tut tut ihr als Rädchen im Getriebe einer Sache. Ihr habt Kriege für euch instrumentalisiert und angefacht. Hätte Napoléon Wurmlochwaffen besessen, ihr hättet ihn ermuntert sie einzusetzen, wenn es euch dienlich gewesen wäre. Coinneach hat mir die Chance auf ein anderes Leben geboten und ich liebe ihn dafür.“ „Wir alle haben Verpflichtungen unserem Volk gegenüber, Valeria Glick. Und du hast eine sehr große Lücke hinterlassen.“ „Ist es das?“, fragte sie ungläubig. „Willst du mich überreden zurückzukommen?“ „Ganz richtig. Aber sieh es nicht als Überredung, sieh es als Angebot.“ „Du hast ni...“ Er hob die Hand und unterbrach sie. „Nicht so vorschnell. Warum denkst du hat Asklepaides nichts als ein paar Sachen aus der Hausapotheke mitgebracht?“ „Weil er...“ Sie stutzte, als ihr dämmerte was er andeuten wollte. „Ich habe ihn im Hangar abgepasst und ihm alles abgenommen, was er aus den Beständen der Klinik hatte. Seine eigenen Sachen musste ich ihm natürlich lassen, aber mit öffentlichem Eigentum konnte ich ihn unmöglich gehen lassen.“

    Valeria ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass ihre langen Fingernägel sich in das Fleisch ihrer Handballen bohrten und blutende Wunden hinterließen. „Bastard“, spuckte sie ihm zornig entgegen. Er überging die Beleidigung und sagte weiter: „Ein kurzes Gespräch mit einem Quacksalber in diesem Schlachthaus am Hafen gab mir die nötigen Hinweise was passiert war und wo ich dich finden konnte. Der Geruch in eurem Schlafzimmer hat es nur bestätigt. Wundbrand oder Gewebsfäule, wie ich vermute. Primitive Probleme, aber ohne die richtigen Mittel bleibt Asklepaides nur ein sehr riskanter Eingriff, der deinen Mann wahrscheinlicher umbringen als retten wird. Aber anders als du mir vorwirfst bin ich nicht herzlos. Ich biete ihm Leben, wenn du mein Angebot annimmst. Ich kann ihn bis heute Abend nach Rom oder auf die Akropolis schaffen lassen. Morgen um diese Zeit wird er die letzten Tage für einen schlechten Traum halten und wieder vor Leben strotzen.“ „Und was willst du dafür?“ Der Fremde lächelte und trat ans Fenster. Cyrus musste den Kopf hastig zurückziehen und hätte beinahe den Halt auf dem Sims verloren, konnte sich aber an einer Weinranke festhalten, die sich am Haus hochrankte. „Dich, deinen Sohn, deine Töchter“, hörte er Tercio antworten.

    „Die Lage in Europa hat sich in unserem Sinne entwickelt. Die Restauration der Monarchien auf dem Kontinent ist zwar ein Rückschlag, der aber nur temporärer Natur sein dürfte. Außerdem: Solange Metternich und seine Spießgesellen den Pöbel in Schach halten und für Ruhe und Stabilität sorgen soll es mir recht sein, wenn sie es mit gezogener Waffe tun. Vor allem aber konnten wir unseren Teil beitragen Englands Vormachtstellung auf dem Globus zu stärken und gleichzeitg die Unabhängigkeit Nordamerikas zu sichern. Wir konnten auf diese Weise neue Interessensgebiete in den Vereinigten Staaten und Indien erschließen. Außerdem versprechen die jüngeren Ereignisse in China, dass wir auch dort unseren Einfluss ausbauen können. Ich brauche jemanden mit deinen Fähigkeiten in Nordamerika. Deine Aufgaben wären die gleichen wie damals: Die Ansiedlung unserer Leute überwachen, sie unterstützen und Ressourcen und Einfluss für uns zu sichern. Außerdem hat dein Sohn mich positiv überrascht. Er ist reaktionsschnell, stark und hat eine Erziehung genossen, die jahrelange Vorbereitungen auf ein Leben in menschlichen Gesellschaften überflüssig machen dürfte. Wir haben eine Schule in New York aufgebaut, wo wir ihm den letzten Schliff verpassen können, um ihn zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft zu machen.“ Valeria ließ den Kopf hängen. Ihre Hände rieben und kneteten den Stoff ihres Kleids und hinterließen kleine blutige Spuren. Schließlich nickte sie und sagte: „Wenn es das ist was du verlangst...“

    „Ihr habt also für diesen Tercio gearbeitet?“ Cyrus nickte. „Ich habe nie jemand anderen getroffen, der innerlich so kaputt war. Er hat als kleines Kind miterlebt, wie das was von der alten Größe der Antiker geblieben war den Bach hinunter ging, wie die Goa'uld sogar die Erde besetzten und die letzten Antiker sich mit eingekniffenem Schwanz verstecken mussten. Es hat irgendetwas tief in ihm zerbrochen. Mittlerweile geht es ihm nur noch um das Überleben der Antiker. Dieser Zweck heiligt ihm beinahe jedes Mittel. Ihr weiß dass ich dazu neige ihn schlecht zu machen, aber er ist eine starke Persönlichkeit und hat auf seine Weise eherne Ziele. Und als Halbblut bot ich ihm neue Möglichkeiten.“ „Bei allem Respekt: Er müsste doch fähigere Leute gehabt haben.“ „Keine Frage. Aber der Isolationismus, den die Antiker so ernst genommen hatten, seit der Plünderung Roms durch die Westgoten so ernst genommen hatten, bekam vermehrt Risse. Für Tercio war vorhersehbar, dass die Verflechtungen zwischen menschlichen Gesellschaften und unserem Volk immer Enger werden würden. Als einer, der unter Menschen aufgewachsen war und ihre Denkweise teilte war ich für ihn ein brauchbarer Agent. Obwohl er mich damals nicht in sein Netzwerk einbinden wollte. Einige meiner Aufträge waren heikel, aber man hat mir nie echte Einblicke in wichtige Operationen gewährt. Ich denke die Causa MacArthur-Glick war damals ein Testfall für ihn. Den Einfluss meines menschlichen Erbes auf meine Fähigkeiten einschätzen, mögliche Probleme bei der Zusammenarbeit mit Antikern ausmachen, et cetera, et cetera.“

    „Hatte er keine älteren Erfahrungen, auf die er hätte zurückgreifen können?“ „Nur bedingt. Ihr müsst euch klar machen wie groß die Unterschiede zwischen Menschen und Antikern trotz ihrer äußerlichen Ähnlichkeit sind. Die Evolution der Antiker hat sich schon vor Jahrmillionen von natürlichen Prozessen gelöst und wurde durch ihre kulturellen Umstände bestimmt. Der Stoffwechsel der Antiker ist nach hunderttausenden Jahren im Überfluss ohne echte Hungersnöte absolut ineffizient geworden. Die meisten werden von Rohkost sogar krank. Ihr Hormonhaushalt funktioniert anders, ihr Genom enthält beispielsweise keine Erbanlagen für erhöhtes Krebsrisiko oder Hämophilie mehr und ihr Gehirn ist anders Strukturiert. Sie haben sogar einige Organe, die Menschen völlig fehlen. Sie haben die körperliche Anpassungsfähigkeit und Zähigkeit der Menschen der Entsklavung von Zivilisationskrankheiten und der Anpassung an die Bedürfnisse einer raumfahrenden Zivilisation geopfert. Das beide Spezies überhaupt kompatibel sind liegt nur in den Ursprüngen der Menschheit begründet.“ Alain runzelte die Stirn. „Wie darf man das verstehen?“ Glick zögerte einen Moment. Dann murmelte er: „Himmel Arsch und Zwirn, heiliger Herrgott der Wahrheit, warum soll ich es nicht auch erzählen? Erinnert ihr euch noch an die Asgard?“ Der Mönch nickte. „Tatsache ist, dass euer Herrgott die Menschheit nicht allein geschaffen hat. Die Antiker hatten ihren Anteil daran. Als sie in die Milchstraße einwanderten, hatten sie die ersten Schritte in eine evolutionäre Sackgasse getan. Ihnen drohte, was mit allen Systemen nach langer Stabilität geschieht: Ein finaler Evolutionskollaps, die totale Zerstörung des Systems. Aber wo die Asgard zu lange darauf gesetzt hatten die Entwicklung kontrollieren und den Kollaps vermeiden zu können, haben die Antiker früh einen Ausweg erkannt: Einfach zurück zu gehen. Die Entdeckung der Erde war für sie ein Milliardentreffer: Ein Ökosystem, das dem ihrer alten Heimat ähnelte und auf Aminosäuren basierte, die exakt auf die selbe Weise funktionierten wie ihre eigenen. Um ihre eigene Evolutionsgeschichte zu verstehen und eine primitivere Version ihres eigenen Erbguts zu erhalten manipulierten sie die Evolution baumbewohnender Säugetiere, die kaum von Lemuren unserer Tage zu unterscheiden waren, um erste Menschenaffen zu kreieren.“

    Alain war sprachlos. Glick sah, die Hände wie um Vergebung für seine frevlerischen Worte betend vor dem Kinn gefaltet, um sein breites Grinsen zu verbergen, zu Boden. Egal wie rational Alains Verstand sein mochte: Er hatte vor Jahren beschlossen sich nicht länger durch seinen Verstand, sondern durch sein Herz führen zu lassen. Er sah in den Menschen wunderbare Geschöpfe, die, ob nun von göttlichem Wort geschaffen oder nicht, eine edle Seele besaßen. Der Gedanke sie könnten einmal Versuchstiere in einem großen Freiluftexperiment der Antiker gewesen sein, war nur schwer zu akzeptieren. „Eingedenk dessen könnt ihr euch vielleicht vorstellen, wie viele Antiker über mich dachten. Vor allem weil es in über tausend Jahren nur eine Hand voll Halbblüter gegeben hat. Die Spezies sind nur eingeschränkt kompatibel. Ohne die Verabreichung starker Medikamente ist ist nur eine von zwanzig Schwangerschaften erfolgreich. Der Rest... Tot- oder Fehlgeburten. Er hatte also keinen Präzedenzfall, auf den er sich hätte stützen können und hat sich durch seinen Umgang mit mir einen Tabubruch zu Schulden kommen lassen, den einige ewig gestrige ihm heute noch nachtragen. Einige dieser Leute haben mich einfach nur verachtet.“



    1844, New York:

    „Nun? Nichts?“ In einer unangenehmen Reminiszenz an seine ersten Schultage fand Cyrus sich unter den Augen eines Lehrers und den Blicken von Klassenkameraden, die nur auf Fehler seinerseits warteten, sich an diesem Morgen wieder vor einer mit mathematischen Formeln vollgeschriebenen großen Wandtafel wieder. Nur waren die trivialen linearen Gleichungen mit einzelnen Variablen, die Schülern in ersten Exkursen in die höhere Mathematik gegeben wurden, schier endlosen Aneinanderreihungen von Faktoren, Rechenzeichen und Unbekannten gewichen, die die Gedanken Gauß oder Eulers zu komplexen Zahlen schlicht wirken. Wieder und wieder ließ er den Blick über die Gleichung wandern, konnte aber keinen Fehler entdecken. Er sah zum Lehrer, dessen Züge auf den ersten Blick zwar unbewegt blieben, dessen Blick aber verriet, dass er nicht mit einer Lösung der Aufgabe rechnete. Schließlich schluckte er seinen Stolz herunter, legte die Kreide zurück in die Schiene unter der Tafel und schüttelte den Kopf. „Ich sehe den Fehler nicht.“

    Der Lehrer seufzte. Dann erhob er sich von seinem Platz, deutete auf eine Passage in der fünften von elf Zeilen der Gleichung und klopfte dabei gegen die Tafel. „Hier“ Während er die Passage korrigierte sah er Cyrus eindringlich an. „Eure anhaltende Unfähigkeit selbst derart elementare Dinge zu begreifen belastet die Fortschritte der gesamten Klasse. Wenn sich nicht eine deutliche Besserung einstellt, werde ich den Dekan darum ersuchen müssen sie aus meinem Seminar zu entfernen. Sie werden nach dem Unterricht bei mir erscheinen und wir werden das Thema noch einmal durchgehen. Wort für Wort.“ Cyrus ließ den Redeschwall über sich ergehen. Sein Blick war starr nach vorne gerichtet und seine Lippen zu einer weißen Linie zusammengepresst. Er wusste um die Blicke, die auf ihn gerichtet waren und wusste wie einige der anderen über ihn redeten. Er würde sich nicht die Blöße einer unbeherrschten Reaktion geben, selbst wenn er vor versammelter Mannschaft heruntergeputzt wurde.

    Gut eine Minute stand er dar und versuchte sich die korrekte Gleichung einzuprägen, während der Magister, wie alle Lehrer an dieser Akademie zu titulieren waren, alles niederschrieb. Dann drehte dieser sich um, legte die Kreide beiseite und griff zum Schwamm. Dabei sah er Cyrus in die Augen und wiederholte: „Wort für Wort. Bis sie es endlich begriffen haben.“ Mit einer Geste gestattete er seinem Schüler sich zu setzen, was Cyrus erleichtert zur Kenntnis nahm. Er drängte sich an zwei Mitschülern vorbei auf seinen Platz in einer der hinteren Sitzreihen und schlug sein Heft für die Grobschrift auf, obwohl mittlerweile jeder im Seminar wusste, dass es beinahe unmöglich war zu folgen oder mitzuschreiben, wenn der Lehrer Magister wie im Rausch der Zahlen und Formeln mit der Rechten in rasendem Tempo schrieb, während der Schwamm in der Linken der Kreide dicht auf den Fersen war. Von seiner erhöhten Position aus konnte er sehen, wie einer der anderen ein elektrisches Hilfsgerät unter dem Pult hielt. Irgendwo musste er ein Aufnahmegerät versteckt halten, denn jedes einzelne Zeichen auf der Tafel wurde gespeichert und verarbeitet, so dass ihm die Lösung nur eine Sekunde später präsentiert wurde.

    Mittlerweile rissen ihn diese kleinen Hilfsmittel – die, nebenbei gesagt, in der Akademie eigentlich verboten waren – nicht mehr vom Hocker. Als er vor bald anderthalb Jahren das erste Mal einen elektrischen Computer gesehen hatte, war es ihm, der er schon die Camera obscura für ein Wunderwerk technischen Schaffens gehalten hatte, wie Zauberei vorgekommen. In Ehrfurcht erstarrt hatte er das fragil wirkende Gerät, das einer Glasscheibe, über die von Zauberhand lichter tanzten, ähnlicher gewesen war als den mechanischen Rechenapparaten, die Charles Thomas in Frankreich vertrieb, und von denen eine im Büro der Schifffahrtsgesellschaft Verwendung fand, bei der sein Vater eine Anstellung gefunden hatte, gehalten und nicht gewagt einen Muskel zu rühren, da er gefürchtet hatte das Gerät könne in seinen Händen zerbrechen. Einige seiner Mitschüler hatten ihn ausgelacht. Aber trotzdem verspürte er manchmal etwas wie Mitleid mit ihnen. In seinem Alter hatten die meisten Männer der zivilisierten Welt, die meisten echten Menschen – er hatte in den letzten Jahren viel begreifen müssen und wusste nun was ihn von seinen alten Freunden unterschied – ihre Studienjahre abgeschlossen, waren auf Reisen gewesen, für ihr Land in irgendeinen Krieg gezogen und hatten sich schließlich eine hübsche Frau gesucht, um eine Familie zu gründen. Er hatte nur einen Bruchteil dieser Erfahrungen machen können. Und trotzdem hatte er diesen Leuten, obwohl er der jüngste unter den Schülern war, Welten an Erfahrung und Erlebnissen voraus. Während sie, bevor man sie in die Welt der Menschen hinausgeschleudert hatte, um sich auf ihren Dienst an der Gesellschaft vorzubereiten, in abgeschirmten Refugien, sicher vor der zuweilen grausamen Realität aufgewachsen waren, hatte er auch Hungerjahre durchgestanden, hatte Armut und Verbrechen gesehen, hatte Todesfälle miterlebt und war bei einer Geburt dabei gewesen. Als die Schlachten eines Bürgerkrieges auf Feldern und Schanzen direkt vor seinem geliebten Buenos Aires ausgetragen worden waren, hatte er den Soldaten in Kampfpausen Wasser und Mahlzeiten gebracht. Er mochte nie gelernt haben einen Computer zu bedienen, wohl aber was Leben und Tod tatsächlich bedeuteten, war recht geschickt mit einem Hammer, konnte Segelboote auch in rauen Küstengewässern lenken, hatte gemeinsam mit einigen Freunden einen Sommer lang einen Kartographen in die unberührte Wildnis Patagoniens begleitet, konnte kochen, reiten und mit einer Muskete umgehen. Er war ein jung gebliebener Dreißigjähriger, ja, aber umgeben von fünfzig Jahre alten Kindern.

    Sein Blick sprang im Raum umher, während er vorgab konzentriert auf die Tafel zu schauen, von der jungen Dame mit ihrem Rechner zu einem milchgesichtigen Burschen, der in seiner Bank saß, als habe man ihm eine Eisenstange das Rektum hinauf geschoben, um sein Rückrad zu stützen, und entgegen aller Vernunft tatsächlich versuchte jede Ziffer mitzuschreiben und weiter zu zwei Halbstarken, die unbeeindruckt von den Versuchen des Lehrers Wissen in sie hinein zu pauken ihrem persönlichen Zwiegespräch mehr Aufmerksamkeit schenkten, als dem Geschehen auf dem Podium. Dann sah er... sie. Armelia saß ihm beinahe gegenüber an einer langen Flanke des Raumes über ihre Hefte gebeugt und notierte einen Lösungsweg, dessen Wichtigkeit der Magister lautstark und nachdrücklich betonte. Als sie sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares, die sich vor ihr Gesicht verirrt hatte, hinters Ohr strich, sah sie kurz auf und ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte ihn kurz warm an, dann sah sie wieder auf ihre Papiere. Er tat es ihr gleich, um wenigstens noch ein paar Zeilen zu Papier zu bringen, bekam ihr Gesicht aber nicht mehr aus dem Kopf. Wäre sie menschlich gewesen hätte er sie auf ungefähr fünfundzwanzig Jahre geschätzt, fünf bis acht Jahre mehr als der Schnitt im Seminar, obwohl er eingedenk der Unterschiede, die bei Antikern zwischen augenscheinlichem und tatsächlichen Alter liegen konnten, keine Mutmaßungen über ihr wahres Alter anstellen wollte. Als der Magister nach einer weiteren Viertelstunde emsigen Anschreibens, Auswischens und beständiger Studentenschelte die Sitzung für beendet erklärte und der Raum sich leerte, blieb sie kurz bei ihm stehen und flüsterte ihm zu: „Heute Abend vor dem Tor.“

    Nachdem der Magister ihn im Anschluss an das Seminar noch einmal ins Gebet genommen und den Inhalt ein weiteres Mal im Einzelunterricht mit ihm durchgegangen war, hatte auch Cyrus sich endlich in den Feierabend verabschieden können. Er verließ das Gebäude und blieb einen Moment auf den Stufen der repräsentativen Freitreppe vor dem Tor stehen, um in der kühlen Abendluft durchzuatmen. Der Geruch des Atlantiks mischte sich in den Gestank des Drecks von Vieh, Mensch und qualmenden Fabrikschloten. Eine Stadt, die für die Müden und Armen Europas, die geknechteten Massen, die Heimatlosen und vom Sturm Getriebenen zum Inbegriff der Hoffnung und zum Licht des Neuanfangs war, hatte er sich immer anders vorgestellt. Gotham war ein gewaltiger Moloch, eng, laut und unbeschreiblick dreckig. Vor allem auf Manhattan und in Brooklyn zusammengepfercht hausten mehr als eine halbe Million Menschen. Jahr für Jahr wurden es mehr – vor allem Europäer, die voller Hoffnung in Castle Garden ankamen, um schließlich wieder in hiesigen Spiegelbildern der Elendsquartiere ihrer Heimat zu landen, denen sie hatten entkommen wollen. Mehr als einmal hatte er sich zurück an den La Plata gesehnt. Er gestattete sich einen Moment der Erinnerung an den entfernten Süden. Als er die Stufen hinabstieg, hörte er eine Stimme links von sich sagen: „Ich verstehe nicht was der alte Diokles gegen dich hat. Du bist nicht der erste, der sich an der Mathematik abarbeitet. Trotzdem führt er sich wie ein Sadist auf.“

    Er lief die letzten Stufen hinab und ging zu ihr. Sie legte ihm die Arme um die Schultern und schmiegte sich sanft an ihn. „Es ist Magister Diokles gutes Recht streng zu sein, wenn er mit den Leistungen eines Studenten unzufrieden ist. Das muss ich respektieren.“ Sie gluckste und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Viele Bewohner von West Village, in dessen Straßen die Akademie gelegen war, hätten Anstoß am Bild eines jungen Paares genommen, das sich auf offener Straße küsste. Cyrus dagegen scherte sich nicht mehr darum, obschon ihre offene und hemmungslose Art ihn zuerst ebenso überrascht und schockiert hatte. Mittlerweile genoss er es. Nach gut einer Minute ließ sie für einen Moment von ihm ab, um zu fragen: „Musst du eigentlich immer so überkorrekt sein?“ „Nicht immer. Du bist ja da, um mich daran zu hindern.“ Sie lächelte kurz, bevor sie ihre Lippen wieder über seine legte. Sie standen noch einen Moment so dar. Sie hielt sein Gesicht mit beiden Händen fest, umspielte mit der Zungenspitze seine Lippen, zog das Gesicht aber sofort einen Finger breit zurück, als er das gleiche versuchte. Er brummte ungeduldig und eine Spur unzufrieden und reagierte, indem er eine Hand an ihren Hinterkopf legte, um sie an sich zu ziehen. Sie dankte ihm seinen Eifer, indem sie sachte an seiner Unterlippe knabberte, bevor sie ihm zuraunte: „Gehen wir, bevor wir noch eine Zuschauerschaft anlocken.“

    Spötter nannten die frühe Nacht die Zeit der Säufer, Poeten und Liebenden. Während trunkene Gesellen im Frohsinn des Suffs lauthals grölend durch die Straßen vor dem Haus zogen und andernorts im Quartier ein mittelloser Schriftsteller sich im Kerzenschein die Haare raufen oder im Absinth Inspiration suchen mochte, lagen Cyrus und Armelia auf einem Bett in einer kleinen, ärmlichen Dachwohnung der Lower East Side am Rande von Five Points. Cyrus schwieg. Er genoss es ihrem Atem zu lauschen, die Wärme ihres nackten Körpers zu spüren, während sie sich an seine Seite geschmiegt hatte und mit dem Finger auf seiner Brust die Formeln nachzeichnete, die einige Stunden zuvor Gegenstand des Unterrichts gewesen waren. „Und“, flüsterte sie ihm zu, „wie lautet die Lösung?“ „Integral aus f von a plus BΩ²...“ Er stutzte, als sie sich aufreizend räkelte und sein Schulterbein zu küssen begann. „So kann ich mich nicht konzentrieren“, protestierte er schwach. „Keine Entschuldigung“, erwiderte sie verspielt, „du musst auch mit Ablenkung klarkommen.“ Er schmunzelte und revanchierte sich, indem er eine Hand von ihren Schultern ihre Seite hinab und zwischen ihre glühenden Schenkel gleiten ließ, während er ihren Körper mit Küssen bedeckte. Sie stöhnte lustvoll, bog ihm den Körper entgegen und vergrub die Hände in seinen Haaren, wie um ihn nie aufhören zu lassen.

    Als er ihre salzige Haut schmeckte und ihr Duft seine Sinne mit jedem Atemzug überflutete, streckte er seinen Geist nach ihr aus. Er fand sie, spürte ihre wilde Lust, die ungezügelte Leidenschaft. Sie beantwortete die geistige Berührung, erwiderte sie. Beide spürten jeden Gedanken, jede Emotion, jeden einzelnen Nervenimpuls – eine Erfahrung, die kein normaler Mensch nachempfinden konnte. Seine paranormalen Fähigkeiten waren sehr viel schwächer als die eines Reinbluts und er hatte die Meditationsübungen und in ein okkultes Gewand verpackten mentalen Übungen an der Akademie als Atmen nach Anleitung und völligen Mumpitz abgetan. In ihrer ersten gemeinsamen Nacht dagegen, als er plötzlich die Liebkosungen ihres Geistes gespürt hatte, hatte sich alles von selbst ergeben. Nur hatte es eine unschöne Szene gegeben, als er das erste Mal im Unterricht den Geist einer Magistra sondiert und plötzlich an Armelia hatte denken müssen. Wochen lang hatte er danach vor jeder weiteren Unterrichtseinheit über unerklärliche Kopfschmerzen geklagt, denen auch mit Medikamenten nicht beizukommen war, um der Lehrerin nicht wieder unter die Augen treten zu müssen.

    Erst als der letzte Glockenschlag des Mitternachtsläutens von St. Patrick's verklungen war ließen sie wieder voneinander. Während sie auf seiner Brust zu entschlummern begann, gingen ihm der zufriedenen Müdigkeit zum Trotz, die auch von ihm Besitz ergriffen hatte, viele Fragen durch den Kopf. „Armelia?“, begann er schließlich eine davon zu formulieren. „Hm?“ „Wie bist du eigentlich in meinen Armen gelandet?“ Sie hob den Kopf und legte das Kinn auf sein Sternum und blinzelte ihn müde an. „Indem ich nicht darauf gewartet habe, dass du einen Schritt tust.“ Er lachte müde. „Ich meinte eigentlich: Warum?“ Sie legte den Kopf wieder flach auf seine Brust und schwieg für einen Augenblick. Dann sagte sie: „Du warst aufrichtig. Im Tribunat war ich entweder von lebenden Fossilien umgeben, die nicht kapiert haben, dass die Zeiten sich seit Janus geändert haben, oder von egozentrischen Arschlöchern, die in mir nur ein Karrierehindernis sahen. Und dann gehe in der naiven Hoffnung es könne irgendwo anders sein auf Tercios Kaderschmiede und stolpere über jemanden, der meint was er sagt und so wunderbar altmodische menschliche Werte vertritt.“ „Du warst Tribunin?“ Sie nickte. „Bin es immer noch. Seit über hundert Jahren.“ Hätten sie mehr Licht als den silbernen Schein des Mondes gehabt und wäre Cyrus nicht so müde gewesen, sie hätte ihn völlig überrascht gesehen. Auch wenn sie verglichen mit grauen Eminenzen wie Tercio blutjung war, musste sie um einiges älter sein als er.

    „Was waren deine Aufgaben?“, murmelte er leise. „Militärische Konkursmasse verwalten. Vor 9000 Jahren wurden die letzten Legionen demobilisiert. Was noch an Soldaten und Material übrig ist, steht unter Befehl der Militärtribunen. Die meisten betrachten es als eine Stufe der politischen Karriere, aber sie sind das nächste was wir noch zu Berufsoffizieren haben.“ Sie kicherte. „Ich hab in meinen jungen Jahren immer Cromwells Männer bewundert. Die Tapferkeit der Ironsides, ihr Glaube, ihr Anstand... Ich dachte es könne bei uns genauso sein. Falsch gedacht. Nur karrieregeile Beamte und ein trauriger Rest von Soldaten, die seit Jahrhunderten kein echtes Gefecht mehr gesehen haben.“ Schläfrig, die Augen schon halb zugefallen, fragte er noch: „England?“ „Cardiff. Ein gottverlassenes Kaff in Wales, wo nicht mal der Hund verfrieren kann, weil er schon längst das Weite gesucht hat. Meine Eltern haben dort soziologische Studien durchgeführt. 'Strukturen spätfeudaler menschlicher Gesellschaften'.“ Sie seufzte. „War noch langweiliger als es sich anhört.“ Sie merkte, dass sein Atem langsamer geworden war. Als sie kurz aufsah, merkte sie, dass er eingeschlafen war. Sie lächelte und zog die Decke, die ihr eigentlich zu grob gewoben und zu kratzig war, in in paar Stunden, wenn das Kohlefeuer im kleinen Kamin verlöschen und der Raum durch das nicht ganz dichte Fenster auskühlen würde, aber etwas Wärme spenden würde, über sie. Dann fielen auch ihr die Augen zu.

    1862, Sacramento, Kalifornien:

    Beinahe 16 Jahre war es her, dass Cyrus sein Abschlussdiplom aus den Händen seiner Magister empfangen hatte. Nie würde er Magister Diokles Gesicht vergessen, als dieser bei der Abschlusszeremonie vor ihm gestanden und um die richtigen Worte gerungen hatte. Vom ersten Tag an hatte er Cyrus, nicht selten mit harschen Worten, die Fähigkeiten abgesprochen, die zum Erfolg an jener Akademie nötig waren. Am Ende hatte er nichts mehr gesagt, sondern ihm einfach die Hand gereicht. Nach einem kräftigen Händedruck waren sie auseinander gegangen und hatten nie wieder ein Wort miteinander gewechselt.

    Wenig später hatte Tercio ihn in seine Dienste genommen. Er hatte bereits einige Aufträge zur Zufriedenheit seines Patrons erledigt und war nun auf seine Weisung hin nach Kalifornien gereist. Es war eine beschwerliche Reise gewesen. Die Spannungen, die mit der Verschiebung des Stimmgleichgewichts zwischen Sklaverei billigenden und abolitionistischen Staaten während der letzten zwanzig Jahre begonnen und vom wachsenden wirtschaftlichen Ungleichgewicht zwischen Nord- und Südstaaten weiter angefacht worden waren, hatten mit dem Austritt South Caronilas aus dem Vereinigten Staaten eine Reihe unheilvoller Ereignisse losgetreten. Nun entluden sich in einem Bürgerkrieg. Von Virginia bis an die Küsten des Golfs von Mexiko ging man einander an die Kehle. Cyrus hatte ein Schiff nach Mexiko nehmen und über Land weiterreisen müssen, um hierher zu gelangen. Nun saß er vier der reichsten Männer des Westens gegenüber: Leland Stanford, Collis P. Huntington, Mark Hopkins und Charlses Crocker, den Finanziers der Central Pacific Railroad, die ein Projekt planten, dessen Kühnheit der Weltumsegelung Magellans, der Vereinigung von Nationalstaaten oder dem Aufbegehren der Massen für Freiheit und Demokratie in nichts nachstand und Tercios Interesse geweckt hatte. Schon ein Jahr bevor der US-Kongress den Beschluss gefasst hatte den gesamten Kontinent mit einer Eisenbahn zu erschließen, hatten diese vier an Plänen für eine Verbindung von Sacramento bis zur Ostküste gearbeitet.

    Nun, da der Kongress schlussendlich den Pacific Railroad Act verabschiedet hatte, der beteiligten Unternehmen große Ländereien entlang der Strecke zusagte, fanden sich endlich Männer, die bereit waren sich daran zu wagen. Welches Interesse Tercio dabei verfolgte war Cyrus nicht bekannt, wahrscheinlich war es aber finanzieller Art. Nachdem sie fast drei Stunden über sein Anliegen mehrere tausend Hektar Land entlang des geplanten Streckenverlaufs in der Sierra Nevada zu erwerben, sah Stanford, der die letzte halbe Stunde geschwiegen und nachgedacht hatte, während Cyrus mit seinen Soziussen gesprochen hatte, ihn eindringlich an und sagte: „Ich bitte um Verzeihung, Mister MacArthur, aber ich habe meine Probleme mit ihrem Angebot. Vor allen da sie enormes Interesse an Gebieten zeigen, von denen ich beim besten Willen nicht erkennen kann was daran sie dazu veranlassen könnte nicht nur an uns heran zu treten, bevor dieses Land offiziell uns gehört, sondern uns auch eine solche Summe dafür zu bieten. Ich kann also nur vermuten, dass sie etwas über dieses Land wissen, das uns nicht bekannt ist. Ich wäre hocherfreut, könnten sie ihr Wissen mit uns teilen.“ Er lächelte. „Steht uns am Ende etwa ein neuer Goldrausch ins Haus?“

    Cyrus erwiderte das Lächeln und schüttelte den Kopf. „Nicht das ich wüsste, Mister Stanford.“ „Tja... Vielleicht sollten wir uns dann überlegen mehr dafür zu verlangen. Schließlich wollen sie sehr große Liegenschaften en bloque erwerben.“ Cyrus lächelte unerschrocken weiter. Er vermutete, dass die Seen eigentliches Objekt von Tercios Begierde waren, nicht die Strecke. Alle Flächen, um deren Ankauf er hier verhandelte, lagen in Drainage- und Grundwasserneubildungsgebieten. Noch war Wasser im Überfluss vorhanden, aber die Bevölkerung Kaliforniens und mit ihr bewässerte Ackerflächen wuchsen rasant. Sollte es eines Tages zu einer Wasserknappheit kommen, konnte jeder, der bereit war einige Jahrzehnte auf seine Profite zu warten – eine Zeit, die Tercio auf einer Arschbacke absitzen konnte – Wasserreservoirs und Grundwasserregenerationsgebiete, die ein Vermögen wert sein würden, für ein Butterbrot an sich bringen. „Ich kann sie der Lauterkeit unserer Absichten versichern, Mister Stanford“, erwiderte er an den Magnaten gewandt. Er spürte seine Neugierde, gepaart mit Vorsicht, saß er doch einem Unbekannten gegenüber, und Sorge um ihr gemeinsames Vorhaben. Der finanzielle Aufwand war gewaltig und die Risiken in diesen Zeiten nahezu unkalkulierbar. Damit gab er ihm einen Punkt um den Hebel anzusetzen. „Gentlemen“, fuhr er fort, „sie werden unser Angebot akzeptieren. Und zwar zu dem Preis, den wir ihnen angeboten haben.“ Huntington zog die Augenbrauen hoch. „Ach?“ „In der Tat. Denn wir können ihnen mehr bieten, als eine einfache Transaktion. Die Geschäftsphilosophie der New York Merit Trade beinhaltet die langfristige, verlässliche Geschäftsbeziehung zu suchen. Wir sind an einer dauerhaften Investition interessiert, nicht an kurzlebiger Spekulation und suchen dafür Geschäftspartner. Wir unterhalten Beziehungen nach China, Japan und soweit die britische Kolonialherrschaft es zulässt auch Indien. Ein Engagement in der Eisenbahn bietet uns dabei langfristig Vorteile gegenüber Wettbewerbern aus Europa. Vor allem Japan unternimmt große Anstrengungen ein zivilisiertes Land zu werden. Durch die Eisenbahn werden wir und unsere Partner an der Ostküste in der Lage sein unsere Produkte bis nach San Francisco zu bringen und von dort aus nach Asien zu verschiffen. Gegenüber unseren bisherigen Routen und unseren Mitbewerbern gäbe uns dies einen Vorteil von mehreren Wochen.“

    Er ließ seine Worte einen Moment lang wirken, dann sagte er: „Sie sehen also: Es liegt in unseren ureigenen Interesse, dass diese Bahn gebaut wird. Mister Tercio wird ihnen deshalb in Form einer Anzahlung in Höhe von 25% auf diese Flächen nach Vertragsabschluss entgegen kommen.“ Obwohl er äußerlich unbewegt blieb, hellte der Gedanke an einen Co-Finanzier, der mit Land abgegolten und so im Hinblick auf Geschäftsentscheidungen mundtot gemacht werden konnte, Stanfords Stimmung unmittelbar auf. Crocker und Hopkins hatten sich schon lange vorher vom Angebot überzeugen lassen. Nur Huntington hegte noch Zweifel. Ihn umzustimmen oder zu überstimmen würde er allerdings seinen Partnern überlassen. Er zog also einen Füllfederhalter aus einer Innentasche seines Fracks und legte ihn demonstrativ auf ein leeres Blatt Papier vor sich auf dem Tisch. „Sollten sie nichts dagegen haben, möchte ich vorschlagen, dass wir einen Vorvertrag aufsetzen, der Merit Trade ein Vorkaufsrecht auf diese Flächen einräumt, falls sie das Land noch anderen offerieren wollen. Falls nicht hoffe ich die Verhandlungen heute zu einem einvernehmlichen Abschluss bringen zu können.“

    Eine Stunde später verließ er das Büro in der K-Street, in dem sie sich getroffen hatten, mit einem unterschriebenen Kaufvertrag in der Tasche und nahm eine Droschke zu seinem Hotel. Als er während der Fahrt aus dem Fenster sah und die Stadt betrachtete, wurde ihm klar, wie sehr er sich mittlerweile an New York gewöhnt hatte. Sacramento wirkte auf ihn wie ein Dorf. Kaum ein Gebäude hatte mehr als zwei Stockwerke, die Straßen waren – zumindest in der trockenen Jahreszeit – Staubpisten und der kalte Westwind, der von der Küste her uns Hochland wehte, ließ ihn seinen Mantel bis zum letzten Knopf zuknöpfen. Doch wie überall im Westen erlebte der Ort erstaunliche Veränderungen. Überall wurde gebaut und in den drei Tagen, die er sich hier aufgehalten hatte, waren gemessen an der Winzigkeit der Stadt mit ihren kaum 15000 Einwohnern weit mehr Reisende angekommen, als in in der Metropole New York. Dennoch würde er erleichtert sein, wenn er erst einmal an die Ostküste zurückgekehrt war. Am Hotel angekommen bezahlte er den Kutscher und wollte sich sofort auf sein Zimmer begeben, wurde an der Tür aber vom Portier angehalten. „Mister MacArthur, Sir, ein Expressreiter hat einen Brief für sie abgegeben.“ Er nahm das gereicht Kuvert. Sein Name und die Stadt standen in der runden Schrift seiner jüngeren Schwester darauf. Freilich fehlte der des Hotels, da er bei seiner Abreise nicht gewusst hatte wo er würde unterkommen können, aber in einer kleinen Stadt wie dieser ließen sich reisende aus New York schnell aufspüren.

    Auf seinem Zimmer öffnete er den Umschlag. Der Brief war vor gut elf Tagen aufgegeben worden, als er in San Diego die Grenze überschritten hatte. In wenigen Zeilen stand dort die Aufforderung so schnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen geschrieben. Er runzelte besorgt die Stirn und strich sich durch den Bart. Sophia war der nervenschwächste Spross von Coinneach MacArthur und Valeria Glick. Sie war ständig in Sorge um tausend Dinge und Alexis scherzte sie würde noch vor ihrer Mutter graue Haare bekommen. Das sie ihm einen Brief quer über den Kontinent nachschickte und dabei so dringliche Worte fand war aber selbst für sie ungewöhnlich. Er rief den Hotelier, drückte ihm eine 10-Dollar Note in die Hand und forderte ihn auf ihm eine Kutsche zu besorgen, die ihn noch heute nach San Francisco bringen sollte und begann zu packen. Um drei Uhr früh des nächsten Tages war er am goldenen Tor, wo er am nächsten Morgen ein Schiff nach Acapulco bestieg.

    Drei Wochen später, in wesentlich kürzerer Zeit, als er für die Hinreise benötigt hatte, verließ er in New York ein Schiff aus Veracruz. Während der Fahrt hatte der Kapitän aus Angst vor konföderierten Handelszerstörern mehrmals den Kurs ändern lassen, als Segel am Horizont aufgetaucht waren. Die Angst vor der CSS 'Alabama', dem 'Hai der Konföderation' die schon im ersten Jahr ihrer Kaperfahrt über ein Dutzend Schiffe aufgebracht und in einem Husarenstreich ein Küstendampfschiff der US-Navy versenkt hatte, steckte den Seefahrern des Nordens in den Knochen. Er nahm sich zuerst die Zeit sein Gepäck loszuwerden. Er lebte noch immer in der alten Dachwohnung in der Lower East Side. Auf dem Weg dorthin wirkte er wie ein Fremder, der sich nur hierher verirrt hatte. War die Gegend um Five Points schon ein Elendsquartier gewesen, als er das erste Mal einen Fuß in diese Stadt gesetzt hatte, war sie die letzten Jahre endgültig vor die Hunde gegangen. Die meisten Gebäude waren baufällig, Fassaden zerfielen oder rosteten dahin, das Glas vieler Fenster war zerschlagen, die Leute waren schmutzig und abgerissen und in den Ecken stapelte sich der Unrat. Er hatte schon einige Male darüber nachgedacht sich eine neue Bleibe zu suchen, war aber letztenendes geblieben. Viele gute Erinnerungen hingen am alten Gemäuer seines Hauses, das zu den besser erhaltenen der Gegend gehörte und er hatte es nie übers Herz gebracht seine Überlegungen gegenüber der alten Hauswirtin, deren größtes Glück es war in ihm einen anständigen Mann im Haus zu haben. Er zahlte seine Miete pünktlich, betrug sich wie ein echter Gentleman und er hatte den Verdacht, dass sie ihre heimliche Freude an seiner Beziehung mit Armelia hatte, die sich in ihrer Leidenschaft oft nicht darum scherte, dass die Wände im Haus dünn genug waren, dass er jeden etwas heftigeren Wortwechsel der irischen Eheleute in der Wohnung unter seiner mitbekam. Zudem hatte er nichts zu befürchten, da sich herumgesprochen hatte, dass der fein gekleidete Herr aus der Anthony Street immer ein paar Cent für arme Leute in der Tasche hatte und einen Rowdy mit einem Tritt zu Boden befördern konnte.

    Als er das Haus betrat, begrüßte die Hauswirtin ihm schon am Eingang. Ein breites Lächeln zierte ihr faltiges Gesicht und sie spitzte ein wenig den Mund, als wolle sie die Luft küssen. „Mister Cyrus, schön dass sie wieder da sind.“ Er lüftete seinen Zylinder und deutete eine Verbeugung an. „Mrs. Kowalsky. Ich hoffe sie sehen mir meine verfrühte Rückkehr nach.“ „Oh, aber natürlich. Ich bringe ihnen gleich ihre Post und etwas zu essen nach oben. Sie sehen aus, als hätte man ihnen auf dem Schiff nichts zu essen gegeben. Und lassen sie ihr Gepäck gleich hier, ich gebe Mister Li Bescheid, dass er alles abholen kann.“ „Ich fürchte das muss noch etwas warten. Ich muss noch einmal weg. Aber informieren sie ruhig Mister Li. Mir bleiben nur noch zwei saubere Anzüge.“ Er überreichte der alten Dame den Koffer, schloss die Vertragsunterlagen in einer Metallkassette in seinem Schreibtisch ein und machte sich auf den Weg zum Haus seiner Familie in Greenwich. Das schnelle Klacken seines Gehstocks auf dem Trottoir, das seine Schritte begleitete, zog dabei die Blicke vieler Neulinge an. Es waren wieder zahllose neue Gesichter auf den Straßen zu sehen, während die altbekannten immer rarer wurden. Five Points war zu einem Sammelbecken für Immigranten, vor allem aus Irland und Italien geworden. In den letzten Jahren war der Zustrom der Neuankömmlinge so groß gewesen, dass Cyrus es aufgegeben hatte sich Namen oder Gesichter merken zu wollen. Nur die wenigen, die länger blieben, prägten sich ihm ein. Im Laufe des letzten Jahres waren es allerdings immer weniger geworden, seit man begonnen hatte vor allem irische Männer direkt an den Landungsbrücken der Auswandererschiffe in Uniform und Armee zu pressen. Beim Verlassen des Schiffes schrieb man ihre Namen auf und drückte ihnen eine Muskete in die Hand. Keine zwei Monate später standen die meisten in Maryland und Virginia an der Front.

    Das Gedränge auf den Straßen lichtete sich, Straßen und Leute wurden gepflegter, als er der Bowery nach Norden folgte und auf den Broadway wechselte. Jenseits des Universitätscampus am Washington Square begann fand sich das edle Viertel Greenwich Village, in dem zwar nicht die oberen 10000, wohl aber viele der oberen 100000 der Stadt ansässig waren. Seine Familie wohnte in einem Haus am westlichen Ende der 4th Street unweit des Washington Square Park. Als er sich dem Haus näherte, bemerkte er etwas absonderliches: Einer der Nachbarn, seiner begrenzten Kenntnis der hiesigen Nachbarschaft nach ein Deutscher, der sich sein Brot als Apotheker verdiente und zeitweilig als freier Journalist arbeitete, ging mit einem schweren Kreuz in der Hand von Haus zu Haus, dessen unteres Ende wie der Bart eines Schlüssels geformt war, gab es den Bewohnern, nahm es nach einigen Minuten wieder in Empfang und zog eine Tür weiter. Als er Cyrus bemerkte, kam er über die Straße auf ihn zu. „Mein Beileid“, sprach er ihn in stark akzentgefärbtem Deutsch an, von dem er wusste, dass jeder in der Familie außer Coinneach es verstand. „Bitte was?“, fragte Cyrus völlig überrascht. „Wegen ihres Vaters. Er war ein guter Mann.“ Er brachte kein Wort über die Lippen, starrte ihn einfach an. „Vorgestern hat die Flut Wrackteile seines seines Schiffs an den Strand von Nantucket gespült. Ich gehe für ihn mit dem Totenschlüssel von Haus zu Haus. Er war ein guter Mann und die Nachbarn sollten wissen was mi...“ Cyrus fand seine Worte wieder und unterbrach den Mann. „Halt, halt, halt. Mein Vater ist 72 Jahre alt. Er arbeitet im New Yorker Büro der Joseph & William R. Wing Company, ja, aber er hat seit bald fünfzehn Jahren keinen Fuß mehr auf die Planke eines Schiffs gesetzt.“ Der Mann schwieg für einen Augenblick, bevor er fragte: „Ihr wart unterwegs, nicht wahr?“ „Ja. Ich musste geschäftlich nach Sacramento, um...“ Seine Antwort erstarb im Satz, als er tatsächlich realisierte, was ihm gerade offenbart worden war. „Oh Sophia“, murmelte er, „du hättest es mir doch ganz offen schreiben können. Danke, mein Herr. Ich bin mir sicher mein Vater wüsste ihre Geste zu schätzen.“

    Ohne seine Umgebung wirklich wahrzunehmen überquerte er die Straße und betrat das Haus, wo er sich im Salon an einen Tisch setzte, die Ellenbogen aufstützte und das Gesicht in den Händen vergrub. Es mochten Sekunden oder Minuten gewesen sein, die er so dasaß. Nach einiger Zeit spürte er Hände, die sich sanft um seinen Kopf legten, ihn zu sich heranzogen und festhielten. „Jemand hat es dir schon gesagt“, stellte eine Stimme fest. Es war Alexis. Sie setzte sich neben ihn und hielt ihn Trost spendend in den Armen. Nach einiger Zeit streifte er ihre Umarmung ab und sah sie an. Sie trug schwarze Trauerkleidung. Ihr sonst so fröhliches Gesicht war von zu häufigem Weinen in den letzten Tagen um die Augen verquollen. Nur am Rande bemerkte er, dass ihre rechte Schulter bandagiert war. „Was ist passiert?“ „Es... es war vor etwa zweieinhalb Monaten, dass die Wing-Brüder Papa fragten, ob er noch einmal ein Schiff für sie führen würde. Einer ihrer Kapitäne war zwei Tage vor dem Auslaufen schwer erkrankt und sein Schiff sollte unbedingt in See gehen. Weil sie auf die Schnelle niemand sonst finden konnten, der die nötigen Patente besaß, haben sie ihn gefragt.“ Sie lächelte gequält und stieß einen Laut aus, in dem sich ungläubiges Lachen und Schluchzen vermischten. „Er hat Tage lang über nichts anderes gesprochen. Weist du noch wie er immer gesagt hat? 'Das Leben des Landmanns ist wundervoll, denn er ist frei zu gehen wohin er will. Aber wenn die See dir einmal im Blut steckt, lässt sie dich nie wieder los und du musst ihrem Ruf folgen'. Er hat am letzten Abend beim Abendessen seine alte Uniform getragen und die ganze Zeit gegrinst wie ein Schuljunge. Drei Wochen nachdem sie ausgelaufen sind kam die Mitteilung, dass ein anderes Schiff die Namenstafel und einige andere Teile seines Schiffs dreihundert Meilen vor der Küste Labradors aufgefischt hat. Zuerst wurde uns gesagt, dass solche Teile bei einem Sturm hätten abgerissen werden können. Aber Vorgestern haben sie an einem Strand auf Nantucket große Stücke des Rumpfes, das Steuerrad und noch einiges mehr gefunden. Zu viel, als dass das Schiff noch am Stück sein könnte.“

    Er schloss die Augen und hieb so heftig mit der Faust auf die Tischplatte, dass es schmerzte. Doch wenigstens machte der Schmerz ihm klar, dass er nicht in einem grausamen Albtraum gefangen war. „Verdammt, verdammt, verdammt.“ Alexis legte ihm die Hände auf die Faust. „Ich weiß nicht ob es dir hilft, aber er hatte ein langes Leben und ist so gestorben wie er es sich gewünscht hätte.“ Er sah ihr in die Augen. Sie fühlte sich mindestens so miserabel wie er. In einem Versuch seine Emotionen zu beherrschen sah er sich um, suchte nach etwas worauf er sich konzentrieren konnte. Sein Blick fiel auf die Bandagen, die unter dem Kragen ihres Kleids zu erkennen waren. „Was ist mit dir passiert?“ Sie zögerte zu antworten. Erst als er nachhakte erklärte sie: „Ich bin angeschossen worden. Eine Revolverkugel in die Schulter. Die Ärzte hatten mich nach zwei Tagen wieder auf den Beinen, aber Lucas könnte verdacht schöpfen, wenn ich den Verband zu früh abnehme.“ „Lucas? Eduardo Lucas?“ Sie begann nervös die Hände zu ringen, nickte aber. „Bist du angeschossen worden, als du mit diesem Schmierlappen unterwegs warst?“ Ein weiteres Mal nickte sie und erklärte: „Er hat mich bei einer Feier in Brooklyn seinen Freunden vorgeführt. Als wir das Etablissement wieder verlassen haben, haben zwei Männer auf uns gewartet. Ich wurde getroffen, als sie anfingen zu schießen. Lucas konnte beide erledigen, aber ich lag schon blutend im Schmutz.“

    Cyrus spürte nichts mehr. Es war als habe sein Geist eine Überfrachtung mit Emotionen erfahren und alle Gefühle ausgeblendet, um nicht von ihnen weggespült zu werden. Vor seinem inneren Auge offenbarten sich Zusammenhänge, die aus einem tragischen Unglück eine Bluttat machten. „Vater wird nicht glücklich darüber gewesen sein.“ „Nein. Er war außer sich. Hat getobt...“

    Drei Monate zuvor:

    Ihre Tochter war mit einer Schusswunde nach Hause gekommen. Coinneach MacArthur war rasend vor Zorn. Er konnte damit Leben nicht darüber im Bilde zu sein welche Ziele diese Leute aus der Vergangenheit seiner Frau verfolgten. Er wusste nicht welche Arbeiten Valeria für sie erledigte, wusste nicht was seine Kinder auf ihren Schulen gelernt hatten und, der Herr vergebe ihm, es war ihm egal. Er war ein guter Menschenkenner und hatte nicht das Gefühl, dass seine Frau mit ihrem Leben hier unglücklich war und wusste dass er sein Bestes gegeben hatte seinen Kindern das Rüstzeug für ein eigenes Leben mitzugeben und sie zu aufrichtigen Menschen zu machen. Er konnte mit alledem Leben. Einem Mitglied jener verschworenen Gesellschaft schuldete er sogar sein Leben und er war bereit gewesen einige von ihnen als Freunde zu akzeptieren. Er konnte damit Leben. Selbst damit, dass Alexis, seine bildschöne kleine Alexis, sich in denkbar zweifelhafte Gesellschaft begab.

    Als sie diesen Abend mit einer nur notdürftig versorgten Wunde heimkam war seine Gutmütigkeit schlagartig am Ende gewesen. Während Valeria einen Arzt bestellt hatte, hatte er mit ihr gesprochen. Nach hartnäckigem Nachfragen hatte er die Geschehnisse dieses Abends aus ihr heraus bekommen. Während der Arzt ihre Schulter versorgte, hatte er Valeria ins Gebet genommen. Obwohl Alexis sparsam mit offenen Worten gewesen war, war ihm klar, dass ihre Arbeit darin bestand Männern schöne Augen zu machen. Ihr Gesicht und ihre körperliche Schönheit prädestinierten sie für die Rolle der Verführerin. Es störte ihn nicht, denn er wusste, dass sie sich nie zum Flittchen degradieren ließe und hübsch auszusehen war die hauptberufliche Tätigkeit vieler Frauen aus reichen Familien, die dies aber nur selten mit einer nützlichen Tätigkeit verbanden. Und die Arbeit eines Detektivs musste nicht per sé verwerflich sein, wenn es darum ging Informationen ans Licht zu bringen, die einer größeren Gesamtheit zu gute kamen. Er hatte immer absolutes Vertrauen zu seiner Frau gehabt, die weder ihm noch ihrer Tochter gegenüber ein Wort des Bedenkens geäußert hatte. Alles weitere musste Alexis mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren.

    Nur eine Linie zog er. Sie verlief dort wo eine seiner Töchter sich in einer Schießerei wiederfand. Als er Valeria so weit hatte, dass sie ihm gestand in welche Gefahr ihre Tochter sich begeben hatte, indem sie einem notorischen Wirtschaftsspion und Mietschnüffler, der Geheimnisse der feinen New Yorker Gesellschaft aufdeckte und meistbietend verkaufte oder zu Zwecken der Erpressung nutzte, erschien Tercio im Haus an der 4th Street. Das Hausmädchen ließ ihn ein. Den aufgeregten Stimmen folgend, die sich auf Gälisch unterhielten, trat er in die Tür des Salons und fand sich Coinneach und Valeria gegenüber. Sie wirkte gefasst. Die Risiken der Agententätigkeit waren ihr nicht neu und sie teilte die Ansicht ihres Mannes, dass Frauen in Kampf und Krieg sakrosant waren. Für ihn hingegen war jeder, der Frauen in die Schusslinie brachte ebenso schuldig, wie der, dessen Finger am Abzug saß. „Pamphilos hat mir gesagt was passiert ist. Wie geht es ihr?“, fragte er in seiner Aufregung in der Sprache der Antiker. Valeria wollte antworten, aber Coinneach reagierte schneller. Er trat Tercio entgegen und sagte mit zornesrotem Gesicht: „Drückt euch in meiner Gegenwart bitte in einer Sprache aus, die ich verstehe. Außerdem verlange ich zu wissen warum ihr meine Tochter einer solchen Gefahr aussetzen konntet.“

    „Das ist nicht eure Angelegenheit. Es war nicht meine Absicht sie in Gefahr zu bringen, aber die Dinge entwickeln sich nicht immer nach Plan.“ „Und ob es meine Angelegenheit ist!“, brüllte Coinneach. „Solange ich auch nur einen Funken Leben in mir habe werde ich meine Familie beschützen. Was immer auch euer Geschäft ist, ich werde meine Töchter nicht mehr dafür geben.“ Es war das erste Mal in fast fünfhundert Jahren, dass Valeria Tercio überrascht sah. Er blinzelte und wich dem Blick seines Gegenüber für einen Augenblick aus, in dem er nach Worten suchte. Dann erklärte er: „Ob sie für mich tätig sein wollen ist eine Entscheidung eurer Angehörigen, nicht eure. Sie sind erwachsen und das hier ist ein freies Land.“ Ihm schien nicht klar zu sein wie gefährlich jedes seiner Worte war. Nur Valeria bemerkte wie hart ihr Mann um Fassung ringen musste. „Ich habe ein Wort dabei mitzureden und werde es mir nicht nehmen lassen. Ich verbiete euch den weiteren Umgang mit meinen Töchtern.“ Tercio schüttelte den Kopf und hielt dem Schotten drohend seinen knochigen Finger unter die Nase. „Mischt euch nicht in Angelegenheiten, die euer Verständnis übersteig...“ Er wurde im Satz harsch unterbrochen, als Coinneachs Faust ihm am Kiefer traf. Knochen brach unter einem protestierenden Krachen, ein stechender Schmerz brannte auf und er wurde fast zwei Meter zurück geworfen und rutschte über die blank gebohnerten Bohlen des Fußbodens, bis die nächste Wand ihn stoppte. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, war Coinneach bei ihm. Er hatte nicht mehr den massigen Körperbau seiner Jugend und sein Haar war ergraut, doch er überragte Tercio immer noch um mehr als eine Haupteslänge und hatte genug Kraft ihn am Kragen zurück auf die Füße zu ziehen. „Ihr seid in diesem Haus nicht mehr willkommen“, fuhr er den Antiker an und warf ihn hinaus.

    In der Gegenwart:

    Alle Trauer in Cyrus Blick war einer eisernen Härte gewichen, die Alexis bei ihm nicht kannte. Seine Hand, die ihre während ihrer Erzählung umschlossen hatte, zog sich zusammen wie ein Schraubstock. Als sie einen leisen Schmerzensschrei ausstieß, bemerkte er was er tat und ließ von ihr ab. Er stand auf und begann im Raum herum zu laufen. Sich die Haare raufend ging er ziellos hin und her, sein Gesichtsausdruck immer wieder zwischen etwas, das Verzweiflung hätte sein können und blankem Hass schwankend. „Er prügelt sich mit Tercio, wirft ihn hinaus und kaum einen Monat später ist er tot? Bin ich denn der einzige, den daran etwas stört?“ Alexis schüttelte den Kopf und sah zu Boden. „Sophia und ich haben auch darüber nachgedacht. Und Mama hat seit vorgestern kein Wort mehr gesprochen.“ In diesem denkbar ungünstigen und spannungsgeladenen Moment hörten sie vom Flur her das Geräusch der Haustür. Sophia ließ jemanden ein. „Ich hörte Cyrus sei wieder da“, vernahmen sie Tercios Stimme. Alexis sprang auf und rief ihrem Bruder zu „Warte“, doch der war bereits auf den Flur gerannt und stand Tercio gegenüber. Bevor der Antiker ein Wort sagen konnte, verpasste er ihm einen Kinnhaken, der ihn zurücktaumeln ließ. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich über den Kiefer und sagte: „Wenn das hier zur Gewohnheit wird, könnte ich mich tatsächlich unwillkommen fühlen.“ „Mörderischer Bastard.“ Die Anschuldigung war alles, was Cyrus zu Stande brachte. Tercio hob die freie Hand zu einer beschwichtigenden Geste. „Was immer auch du denkst: Ich habe mit dem Tod deines Vaters nichts zu tun. Ja, er hat mir den Kiefer gebrochen und ja ich war wütend. Aber er wäre für mich bestenfalls ein zeitweiliger Störfaktor gewesen. Die zehn Jahre, vielleicht fünfzehn Jahre, die er noch zu Leben gehabt hätte, sind für mich bedeutungslos.“

    Cyrus deutete anklagend mit dem Finger auf ihn. „Versuch nicht mich für dumm zu verkaufen. Ich war dabei als du der Witwe eines Mannes, den du hast beseitigen lassen offen ins Gesicht gelogen hast. Denkst du ich glaube dir auch nur ein Wort?“ „Also gut, noch einmal zum Mitschreiben: „Ich – hatte – nichts – damit – zu tun.“ Für einen Moment starrten sie einander noch an. Dann stürmte Cyrus an ihm vorbei auf die Straße hinaus. Dort wandte er sich in Richtung des Broadways und rannte los. Er lief so schnell seine Füße ihn trugen einige Meilen weit, bis er außer Atem an einer Hauswand stehen blieb. Als er wieder zu Atem gekommen war, begann er ziellos durch die Stadt zu wandern. Seine Welt war in ihren Grundfesten erschüttert. Wie konnte er einfach weitermachen?

    Unbewusst musste er seine Schritte zur St. Patricks Cathedral gelenkt haben, denn nach vielleicht einer Stunde fand er sich auf einmal vor dem Gotteshaus wieder. Wenn er in New York war, kam er jeden Sonntag zur Spätmesse und beichtete gelegentlich seine Sünden. Sein Vater hatte ihn als guten Christen zu erziehen versucht. Ob ihm dies gelungen war mochten andere entscheiden, doch Cyrus hatte immer Trost im Gebet gefunden. Er betrat das Gotteshaus, kniete vor dem Altar nieder, faltete die Hände und begann zu beten.

    Pater noster, qui es in caelis
    Sanctificetur nomen tuum
    Adveniat regnum tuum
    Fiat voluntas tua,
    Sicut in caelo, et in terra.
    Panem nostrum cotidianum da nobis hodie
    Et dimitte nobis debita nostra,
    Sicut et nos dimittimus debitoribus nostris.
    Et ne nos inducas in tentationem,
    Sed libera nos a malo.

    Das Wort, das das Gebet beschließen sollte, kam ihm nicht über die Lippen. Tränen, die er in Gegenwart seiner Schwester nicht gezeigt hatte, brannten ihm in den Augen und seine Hände hätten wohl gezittert, hätten sie sich nicht ineinander festgeklammert. Leise, dass er selbst es kaum hören konnte, fragte er: „Was soll ich tun?“ Es erschienen weder Engel noch Heilige. Kein warmes Licht erstrahlte über ihm, keine Stimme sprach zu ihm wie durch den brennenden Dornbusch. Nur einer der Priester, der sein Gebet gehört haben musste, erschien aus der Sakristei. Er trat zwischen ihn und den Altar, sah mit freundlichem Lächeln zum Kniehenden hinab und fragte: „Kann ich etwas für dich tun, Freund Cyrus?“

    Er nickte, sagte aber nicht sofort etwas, sondern sah sich um und deutete auf einen der Beichtstühle. Er betrat das Gestühl, kniete darin nieder und bettete die gefaltete Hände samt Kinn auf der schmalen Holzleiste unter dem Gitterfenster, das ihm vom Geistlichen trennte. Als dieser sich setzte, bekreuzigte er sich und sagte: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“ „Gott, der unsere Herzen erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit“, antwortete der Priester in liturgischen Worten. „Was ist es, das sich so bedrückt?“ „Vater... ich weiß nicht, ob ich Vergebung für eine Sünde suche, sondern Rat.“ „Sprich weiter.“ „Ich glaube jemand, der mir nahe steht, ist durch fremdes Verschulden zu Tode gekommen und weiß nicht was ich tun soll.“ Der Priester schwieg einen Moment. Kein Wort, das in diesem Gestühl gesagt wurde, würde an fremde Ohren dringen, so dass Cyrus Offenbarung ihm eine große Last auferlegte. Allerdings dürfte es für einen Beichtvater in einem Viertel, das derart von Gewalt und Kriminalität erschüttert wurde, wie die Lower East Side, nicht das erste Mal sein. „Wie kommst du zu deinem Verdacht?“ „Ich glaube nicht, dass der Mann von dem ich spreche irgendwelche Skrupel gegenüber einem einfachen Menschenleben kennt. Er sieht seine eigenen Ziele über allen anderen und der Tote stand ihm im Weg. Sie hatten Streit, der zu Gewalt ausartete. Keinen Monat später war der andere tot.“

    „Hast du einen Beweis außer deinem Verdacht?“ „Ich brauche nicht mehr.“ Cyrus Stimme entglitt ihm zu einem Laut, in dem sich Schmerz und Wut mischten, wie im Aufheulen eines verwundeten Raubtieres. „Doch. Willst du über ihn richten? Das ist vermessen.“ Er lachte hämisch. „Was dann, Vater? Sagt ihr mir jetzt, dass ich meinen Zorn fahren lassen soll?“ „Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn Gottes; denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr.“ „Glaubt ihr wirklich daran?“ „Ja. Paulus schrieb es und ich selbst glaube daran, dass Gott Gerechtigkeit walten lässt.“ „Und was bleibt mir dann? Wie soll ich damit Leben? Wie kann ich weiter vor diesen Bastard treten, ohne ihm den Schädel einzuschlagen?“ „Du hast oft mit ihm zu tun?“ „Seit Jahren immer und immer wieder.“ „Dann ändere das. Leg ab die Werke der Finsternis und leg an die Waffen des Lichts. Kehr ihm den Rücken.“ Cyrus nickte widerwillig. Dann stahl sich ein sachtes Schmunzeln auf sein Gesicht. „Bezieht Paulus sich dabei nicht eigentlich auf Völlerei, Saufgelage und sexuelle Ausschweifungen?“ Der Priester lachte fröhlich, ein Laut, der einige seiner düsteren Gedanken vertrieb. „Das kann man wohl ebenso gut metaphorisch betrachten.“ Er rieb sich eine Träne der Heiterkeit aus dem Augenwinkel und fragte: „Vergibst du diesem Mann?“ Es war eine der schwersten Fragen, die Cyrus in seinem Leben hatte beantworten müssen. Nach einigem Überlegen sagte er: „Wenn Gott es so will, ja.“ „Versprichst du mir keine Rache an ihm zu üben?“ Ein erneutes tiefes Durchatmen. „Ja.“

    „Bereust du deine Sünden und finsteren Gedanken?“ „Diese und alle meine Sünden tun mir von Herzen leid. Mein Jesus, Barmherzigkeit.“ „Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine patris et filii et spiritus sancti.“ „Amen.“ „Danket dem Herrn, denn er ist gütig“ „Sein Erbarmen währt ewig.“ Der Priester nickte und beendete den liturgischen Ausklang der Beichte mit den Worten: „Der Herr hat dir die Sünden vergeben. Gehe hin in Frieden.“ Er verließ den Beichtstuhl und wandte sich dem Ausgang zu. An der Pforte kamen ihm Worte in den Sinn, die sein Vater vor langer Zeit an ihn gerichtet hatte:

    „Keine Seele ist größer als die dessen, der sich nie unterworfen hat, des Unfreien, der sich seine Freiheit erkämpft, keine andere ist heiliger, größer, stärker und reiner. Keine Seele als die dessen, der sich nur vor seinem Schöpfer beugt, Gott, der nie vergisst, des gütigen Gottes, der die Menschen liebt, für die er nackt und in Schande am Kreuz starb.“

    Er atmete tief durch und glaubte endlich den wahren Sinn dieser Worte zu begreifen. Er würde Tercio für geraume Zeit nicht mehr unter die Augen treten können, wohl aber sein bestes geben dem Erbe seines Vaters gerecht zu werden.

    Er lief zurück nach Hause. Vor dem Haus sah er die Mrs Kowalsky, die dem irischen Wäscher einen Haufen seiner Anzüge gab. Als sie ihn bemerkte sagte sie: „Mister Cyrus, ihre Freundin ist gekommen. Ich habe sie nach oben gelassen.“ Er eilte die Treppe mit großen Schritten hinauf. Die Tür zu seiner Wohnung war nicht verschlossen. Als er eintrat, erhob Armelia sich von dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte und kam zu ihm, um ihn in den Arm zu nehmen. „Ich habe von deinem Vater gehört. Es tut m...“ „Rühr mich nicht an“, unterbrach er sie und hielt ihr die Tür auf. „Raus.“ „Wie? Du wirfst mich raus? Cyrus, lass mich dir helfen.“ „Ich sage es kein drittes Mal: Raus. Ich bin fertig mit euch allen.“ Sie sah ihn mit großen Augen an. „Siebzehn Jahre und auf einmal... Ich liebe dich.“ Er blieb stumm, sah sie nur weiter mit eiskaltem Blick an. Eine Träne quoll ihr aus dem linken Auge hervor. Dann raffte sie ihren Rock und stürmte an ihm vorbei.

    Er schlug die Tür hinter ihr zu begann einige Dinge, vor allem Kleidung und das wenige, das er an Wertgegenständen besaß, zu packen. Er entnahm den Vertrag aus der Kassette, versiegelte ihn mit Kerzenwachs und ging zurück ins Erdgeschoss, wo er an der Wohnung der Hauswirtin anklopfte. Sobald sie geöffnet hatte, hielt er ihr die Papiere und 15 Dollar hin. „Mrs. Kowalsky, ich kann leider nicht länger bleiben. Hier ist die Miete für die nächsten drei Monate. Ich kann nicht alles mitnehmen. Verfahren sie mit dem was in meinem Zimmer ist wie es ihnen beliebt. Und es wird jemand kommen und nach mir fragen. Geben sie ihm bitte dieses Kuvert.“ „Was? Aber Mister MacArthur, was ist passiert? Wo wollen sie überhaupt hin?“ „Virginia.“ Er verließ das Haus machte sich auf den Weg zum Hafen. Dort wo die Einwanderer das erste Mal einen Fuß auf amerikanischen Boden setzten, waren die Wände mit Plakaten übersät, die in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen für verschiedene Regimenter der US-Armee warben. Manche waren auf Englisch, viel mehr aber auf Deutsch oder Gälisch verfasst. Man konnte nicht jeden, der nach New York kam vom Schiff weg zwangsrekrutieren, so dass der Hafen als einer der belebtesten Orte der Stadt ein guter Ort war Freiwillige anzuwerben.

    Er reihte sich in die Schlange vor einem Rekrutierungsbüro ein. Dutzende abgerissen wirkender Männer und einige besser gekleidete Handwerker und kleine Kaufleute standen für eine Gelegenheit an für ihr Land zu kämpfen oder nur endlich eine bezahlte Arbeit zu finden und eine Uniform zu bekommen, mit der man sich auf der Straße sehen lassen konnte. Als er an der Reihe war, stand er vor einem Mann in der Uniform eines Unteroffiziers der Union, der an einem kleinen Tisch vor einem Stapel von Papieren saß und Verträge ausfüllte. „Name“, fragte er ohne aufzusehen. „Cyrus. Cyrus MacArthur.“ Der Mann musterte ihn. „Einen feinen Kerl wie dich haben wir hier nicht oft. Hast du was gelernt?“ Er nickte. „Mathematik, Physik, Chemie, Geschichte... Wollen sie die komplette Liste?“ Der Unteroffizier grinste und reichte ihm ein Gewicht. „Wie lang kannst du das halten?“ Er hielt es ihm am ausgestreckte Arm hin. Nach gut anderthalb Minuten begann sein Arm zu zittern. „Nicht schlecht. Jemanden wie dich können sie vielleicht als Offizier gebrauchen. Und Leute die rechnen können brauchen sie bei der Artillerie immer.“ „Ich war noch nie im Krieg.“ „Das gilt für die Hälfte unserer Generäle. Religion?“ „Römisch-katholisch.“ Der Blick des Mannes verfinsterte sich. Er fragte Cyrus noch einige Dinge, trug die Antworten in den Vertrag ein und ließ ihn unterschreiben. Dann sagte er: „Den Gang runter, zweite Tür links gibt’s deine Uniform.“ In besagtem Raum drückten Soldaten jedem Freiwilligen seine Ausrüstung in die Hand. Einer maß Cyrus kurz mit Blicken, nahm dann eine Uniform von einem Stapel und reichte sie ihm. Mit den Worten „Stiefel einen Raum weiter“, nahm er noch eine Muskete aus einem Gewehrständer und hielt sie ihm hin. „Willkommen bei der Infanterie, Dreckschwein.“ „Infanterie? Gerade war noch von Artillerie die Rede.“ „Hm. Wer hat dich hier rein geschickt?“ „Der Mann am linken Tisch.“ „Semmes also. Sag mal nicht, dass du so ein Kathole bist.“ „Doch.“ „Hau ab. Die Infanterie ist gerade gut genug für dich.“

    Frühjahr Anno 1863, am Flusslauf des Rappahannock, Virginia :

    Langsam und gemächlich suchte sich der Fluss seinen Weg durch das Land. Der Anblick stand in einem krassen Gegensatz zum Geschützdonner, der immer wieder von Süden herüberhallte, den zu Begreifen Cyrus schwer fiel, wenn er die Fluten von seinem Posten im Dickicht der Böschung aus im Auge behielt. Vögel sangen und beide Ufer schienen in der warmen Maisonne in den Farben tausender Blumen. Und doch war nur wenige Kilometer weiter südlich die größte Armee der vereinigten Staaten ins Shenandoahtal eingefallen und hielt Spotssylvania County besetzt, nachdem sie vor knapp fünf Monaten den Rappahannock bei Fredericksburg unter massiven Verlusten überquert hatte. Die schwersten Schlachten des Krieges waren seitdem dort ausgetragen worden. Cyrus hingegen hatte bisher in keinen einzigen Gefecht die Chance gehabt sich dem Feind auch nur auf Schussweite zu nähern. Das 89. New Yorker Freiwilligenregiment, dem er angehörte, war mittlerweile auf gut dreißig Kilometer entlang des Flusses verteilt und hielt verschiedene Beobachtungsposten, um feindliche Truppenbewegungen entlang des Flusses im Auge zu behalten.

    Nicht das sich viel getan hätte. Cyrus saß auch an diesem Morgen im Schatten einer alten Eiche, das Gewehr neben sich an den Baum gelehnt und stopfte sich eine Pfeife. Gut fünfhundert Meter entfernt lag das Lager seiner Kompanie, die an einer Furt über den Fluss stand. Auf der anderen Seite, keine zwei Kilometer entfernt biwakierten Südstaatler mit gleich lautendem Auftrag. Trotz dieser Nähe hatte es keine Kampfhandlungen gegeben. Die Konföderierten vermieden alles, was einen Angriff durch das 89. provoziert hätte, der ihre Position gefährdet hätte und Cyrus Kameraden hätten mit jeder Einheit, die groß genug gewesen wäre eines ihrer Lager anzugreifen auf den Furten ein Zielschießen veranstaltet. Während er den Tabak mit dem unter dem Kopf gehaltenen Ladestock seiner Muskete in die Pfeife stopfte, hörte er schritte hinter sich. Seine Hand glitt instinktiv in die Nähe seines Revolvers, doch er zögerte die Waffe zu ziehen und wandte sich wieder seiner Pfeife zu. Als er ein Streichholz aus der Tasche fingerte, um es an der Stiefelsohle zu entzünden, hörte er hinter sich jemanden fragen: „Finden sie nicht, dass sie etwas sorglos sind, Corporal MacArthur.“ „Bin mit ganzer Aufmerksamkeit beim Wachdienst, Captain.“ Er würde sicherlich nicht versuchen seinem Vorgesetzten zu erklären, dass er jede größere Gruppe selbst über einige hundert Meter hinweg auf eine Weise wahrnehmen konnte, die sich dem Verständnis zeitgenössischer Wissenschaft entzog. Statt dessen deutete er mit einem Finger der Hand, die das Streichholz hielt links neben sich. Als der Taback brannte schnippte er es vor sich auf den Waldboden, trat es unter dem Stiefelabsatz aus und sagte: „Auf dem Fluss ist alles ruhig und Kincaid hat ein wachsames Auge auf dieses Ufer.“ Der Offizier sah sich um. Er entdeckte den in einem nahen Gestrüpp
    hockenden anderen Soldaten erst beim zweiten Hinsehen. Der fasste sich an die Mütze und sagte: „Keine Sorge, Sir, ich lasse schon nicht zu, dass jemand unseren Diplomaten erschießt. Und jeder Verräter, der seine Visage auf dem Fluss sehen lässt, wird mit einer Kugel im Schädel irgendwo flussabwärts wieder ans Ufer kommen.“ Er nickte bestätigend. „Irgendwelche Vorkommnisse?“ „Mir geht der Tabak aus“, stellte Cyrus lakonisch fest. „Sie werden es überleben. Corporal. Weitermachen.“

    Die kommenden Stunden verliefen ereignislos, bis am frühen Nachmittag ein lauter Schrei über den Fluss hallte: „Where y'at, Yank, habt ihr noch Kaffee?“ Cyrus schmunzelte, nahm sein Gewehr und schlich sich in der Deckung der Vegetation der Uferböschung weiter vor. Langsam ließ er seinen Blick über den Fluss wandern. Dann entdeckte er eine Gestalt im blauen Mantel mit einer Muskete, deren Kolben zwischen ihren Füßen auf dem Boden ruhte. Hätte er allein der Uniform Beachtung geschenkt, hätte er glauben können einen ihrer Leute vor sich zu haben. Aber er kannte den alten Burschen, der dort drüben stand. Er formte mit den Händen ein Sprachrohr vor dem Mund und brüllte: „Ich tausche gegen Tabak!“ „Abgemacht!“ Er lief schnell ins Lager, um eine Dose Kaffee aus den Vorräten zu holen. Dann näherte er sich im Schutz der Vegetation so dicht wie möglich der Furt, rückte seine Uniform noch einmal zurecht – dem Feind war ordentlich gegenüber zu treten – setzte seine Kepí auf und warf noch einmal einen Blick zu Kincaid, der sich ebenfalls eine vorgerückte Position gesucht sein Gewehr auf einem niedrigen Ast in Anschlag gebracht hatte. Auf ein nicken des Iren hin trat er ins Freie.

    Der Mann auf der anderen Seite grüßte ihn mit einer lässigen Geste und machte den ersten Schritt ins Kiesbett der Furt. Sie trafen sich etwa in der Mitte. Der Südstaatler grinste breit und meinte: „Na, Armyboy, alles ruhig im Norden?.“ „Der übliche Wahnsinn in Washington. Ich frage mich nur noch, ob es Wochen oder Monate dauern wird, bis das weiße Haus den Generälen wieder in Handwerk pfuscht und wir ein neues Fredericksburg erleben.“ „Hah! Ganz richtig erkannt: Der alte Lee wird euch Yankees schreiend zurück unter die Röcke eurer Frauen treiben. Unsere Trommeln werden am Kapitol erschallen wird dieser Krieg wird vorbei sein.“ „Vorher taut die Hölle auf, als dass dieser senile Laiendarsteller im Generalskostüm seinen Fuß auf das Land der Hauptstadt setzt.“

    Der Konföderierte lachte und hielt ihm eine hölzerne Schachtel mit Tabak hin. Cyrus öffnete sie und roch am Inhalt. Als das herbe Aroma seine Sinne kitzelte, lächelte er und nahm das Kästchen an sich. Dafür hielt er seinem Gegenüber eine Ration Kaffee hin. Der hielt ihm die Dose vor und sagte: „Das ist bestes Kraut aus Alabama. Du ziehst mich hier wieder mal über den Tisch, Yank.“ Cyrus, der gleich begonnen hatte sich seine Pfeife mit dem Tabak neu zu stopfen, erwiderte: „Kommt ganz von selbst, wenn man erst einmal ein so dankbares Opfer gefunden hat.“ Ein weiteres Lachen schallte über den Fluss. Sie standen noch eine Zeit lang beieinander knietief im Wasser. Cyrus stopfte sich seine Pfeife, der Südstaatler zog eine billige Zigarette aus einer Tasche und rauchten gemeinsam. Als er sich das Streichholz für die zweite Zigarette am Gewehrkolben anzündete, murmelte er: „Ich hasse diesen Krieg.“ „Dann geh zurück nach New Orleans.“ „Nicht solange Lincolns an der Kette zerren.“ Cyrus gab einen bestätigenden Laut von sich und nickte dabei. Einen Augenblick später fragte er: „Schon in einer Schlacht dabei gewesen?“ „Bull Run, Sieben-Tage-Schlacht und erst letzten September in Antietam. Es war jedes mal übel,“ Er entzündete seine Zigarette und nahm einen tiefen Zug. Als er fortfuhr, stieß er mit jedem Wort etwas Rauch aus. „Aber es war schon immer so. Hab schon im Krieg gegen Mexiko gedient. Es ist im Rückblick so erbärmlich, wie wir unseren Willen gegen eine schwächere Nation durchgeprügelt haben und unsere Führer uns erzählten wir würden nur unseren Verbündeten in Texas beistehen. War schon toll, wie wir ihnen gegen Mexikaner geholfen haben, die einen Vertrag gebrochen haben, den die Texaner ihrem Präsidenten vorher mit vorgehaltener Waffe diktiert haben. Auf dem Weg nach Mexiko Stadt haben sind wir immer wieder in Hinterhalte geraten, die uns mehr gekostet haben, als die großen Schlachten. Und die Jungs haben sich mit Plünderungen, Mord und Vergewaltigung revanchiert. In Matamorros haben sie nicht mal vor Nonnen halt gemacht. Eigentlich hatte ich mir damals gesagt, dass ich nie wieder Teil von so etwas sein wollte.“

    „Warum bist du dann hier?“ „Warum? Warum, warum? Weil ich die Freiheit meiner Heimat verteidigen will, weil ich nicht mehr einer Politik aus Washington unterworfen sein will, die tausende Familien im Süden an den Bettelstab gebracht hat. Weil irgendjemand es tun muss. Warum zieht irgendjemand in einen Krieg? Warum bist du hier?“ „Damit Baumwolle irgendwann nicht mehr König und Menschen kein Vieh mehr sind. Ich werde den Tag erleben, an dem die Negersklaven frei sein werden.“ „Selbstgerechter Dreckskerl.“ „Ich kämpfe nicht für eine Clique von Sklaventreibern und suche die Schuld für Fehler, die in Richmond, Birmingham oder New Orleans gemacht wurden in Washington.“ „Nein. Du tust was dir eine Hand voll Männer einflüstert, die sich ihre Taschen mit Kriegsprofiten füllen.“ Cyrus sah betreten auf seine vom Wasser umspielten Füße und den nassen Mantelsaum hinab, um dem Blick des Veteranen auszuweichen. Schließlich erklärte er: „Ich glaube es kann nur in Gottes Sinn sein die Sklaverei zu beenden. Er hat sie dem Volk Israel verboten und durch seine Propheten immer wieder zu den Armen gesprochen. Er will keine Knechte.“ „Gott... Wessen Farben trägt er? Die meisten unserer Offiziere sind gläubige Christenmenschen und der Krieg macht den Männern die Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens bewusst. Du kämpfst für Gottes Reich auf Erden, wir für sein Gesetz. Wer hat recht?“ „Ich weiß es nicht.“ „Hoffentlich finden wir es heraus.“

    Aus der Ufervegetation hinter dem Veteranen tauchte ein anderer Mann auf, der mit hastigen Schritten zu ihnen gelaufen kam. Es war ein Schwarzer in der Uniform eines Corporal. Er warf einen vorsichtig abschätzenden Blick zu Cyrus, wandte sich dann aber an seinen Kameraden und sagte: „Der Captain hat einen Appell befohlen.“ Der Veteran nickte. „Dann los.“ An Cyrus gewandt, der den Schwarzen im festen Glauben von seinen eigenen Sinnen getäuscht zu werden anstarrte, sagte er noch mit einem breiten Grinsen: „Die Dinge sind nie so einfach wie auf den ersten Blick. Pass auf dich auf, Yank. Wäre schade, wenn einer der wenigen Anständigen Kerle in diesem Krieg erschossen wird.“ Mit diesen Worten gingen sie auseinander, jeder zurück zu seinen Leuten.

    Als er wieder auf trockenem Grund stand, warf Cyrus Kincaid die Tabackschachtel zu und wollte zurück auf seinen Posten, als ein anderer Soldat aus Richtung des Lagers auftauchte. Er winkte aufgeregt mit den Armen und sagte: „MacArthur, Kincaid, ins Lager. Wir haben neue Befehle.“ Das Lager bestand aus einer Ansammlung von Zelten und Schlafplätzen, die um Feuerstellen herum zwischen den Bäumen platziert waren. Irdene Schanzwerke – niedrige Gräben, vor denen ein mit Schießscharten gespickter Wall verlief – die sie im Winter in brutaler Knochenarbeit in den gefrorenen Boden getrieben hatten, umfassten die Stellung. Im Zentrum hatten sie alles hinderliche Gestrüpp beseitigt und einen kleinen Appellplatz geschaffen. Nach und nach kamen Soldaten zusammengelaufen und stellten sich in einer Doppelreihe auf. Ihr Captain hatte schon auf sie gewartet, als Cyrus und sein Kamerad auf Wache angekommen waren. Auch ohne die Empathie der Antiker hätte Cyrus augenblicklich gemerkt, dass die neue Order nichts gutes Verheißen konnte. Der Capitan ließ seine übliche Souveränität und Ruhe vermissen. Er ging vor seinem Zelt auf und ab. Jedes Mal, wenn er für einen kurzen Moment stehen blieb, trat er unruhig von einem Bein aufs andere. Er hielt ein Papier in den hinter dem Rücken verschränkten Händen und sah nach etwas suchend, das ihn von seinen finsteren Gedanken ablenken konnte, immer wieder gen Himmel.

    Als alle Soldaten angetreten waren straffte er sich, trat vor sie und sagte nun wieder um eine entschiedene, feste Stimme bemüht: „Guten Morgen, Kompanie.“ „Guten Morgen, Sir!“, erscholl die Antwort. „Kompanie, vor fünfzehn Minuten erreichte uns eine Meldung aus dem Hauptquartier. Konföderierte Streitkräfte haben General Hookers Armee in einem koordinierten Angriff bei Chancelorsville, Salem Church und Fredericksburg geschlagen. Der General zieht seine Truppen über den Fluss und nach Westen zurück. Lee könnte versuchen die Situation für einen Vorstoß nach Norden auszunutzen. Wir haben deshalb Befehl unsere Position aufzugeben und uns mit der Hauptstreitmacht zu treffen. Brechen sie das Lager ab. Wir marschieren in einer Stunde.“

    Einige Meilen nördlich von Chancelorsville hatten die Kompanien des Regiments sich wieder vereint. Während sie zu Flötenspiel und Trommelschlag über staubige Feldwege marschierten, um sich mit der Potomac-Armee zu treffen. Während des Marsches murmelte der Schütze, der neben Cyrus ging: „Lees Armee soll nicht mal halb so groß sein wie unsere und trotzdem rennen wir vor ihm davon. Wie zur Hölle sollen wir jemanden aufhalten, der zu so etwas fähig ist?“ „Wir müssen, Jakob“, antwortete er. „Wenn wir es nicht schaffen, steht nichts mehr zwischen ihm und Washington.“

    Gut einen Monat später war aus dem Verdacht Gewissheit geworden, als Südstaatenkavallerie unter Führung des schneidigen J.E.B. Stuart am Nordufer erschienen und sich bei Brandy Station ihren Weg durch überlegene Unionstruppen nach Norden freikämpften. Lees Hauptstreitmacht hatte sich den Augen ihrer Verfolger entziehen können, aber George G. Meade, der Hooker nach der katastrophalen Niederlage von Chancelorsville als Befehlshaber der Unionstruppen in Virginia abgelöst hatte, schien nicht einen Moment bereit zu glauben, dass Lee einen seiner fähigsten Truppenführer ohne Rückendeckung auf einen Raid geschickt hatte, denn er führte die Truppe unverzüglich nordwärts. Sein Instinkt sollte sich als richtig erweisen, als er einige Tage später erfuhr, dass ein komplettes Korps der Nord-Virginia-Armee die Garnison in Winchester aufgerieben hatte. Als sie Ende Juni die Kleinstadt Frederick in Maryland erreichten hofften viele Soldaten insgeheim auf eine Pause von den strapaziösen Märschen, die Meade ihnen allerdings nicht gönnte. Als ihn Meldungen erreichten, die Lee bereits in Pennsylvania sahen, ließ er seine Truppen ein weiteres Mal weiter nördlich ziehen. Am 1. Juli erreichten sie die Hügel vor Gettysburg.

    Über die bewaldeten Hügel zwischen den Feldern hinweg konnte Cyrus schon von weitem die dicken Schwaden von Pulverdampf ausmachen, die über dem Schlachtfeld lagen. Die erste Kavalleriedivision hatte den Vormarsch der Truppen aus Virginia auf die Kleinstadt vor einigen Stunden bemerkt und sich ihnen auf mehreren Anhöhen in den Weg gestellt. Alle Verbände versuchten nun das Geschehen so schnell wie möglich zu erreichen. Mit dem Donner jeder Kanonensalve, der an sein Ohr drang, glaubte Cyrus sein Herz schneller schlagen zu spüren. Seit am östlichen Kriegsschauplatz der erste Schuss gefallen war, hatte Lee die Unionstruppen ein ums andere Mal um sicher geglaubte Siege gebracht, indem er seine Männer durch schnelle Manöver in überlegene Positionen gebracht und sich eingegraben hatte. Heute waren sie ihm zum ersten Mal zuvor gekommen, heute konnten sie die offene Schlacht erzwingen.

    Ihr Regiment marschierte in der Reserve des 11. Korps, das dem Schlachtgeschehen am nächsten gestanden hatte, als die ersten Schüsse gefallen waren. Die Stimmung in der Truppe schwankte zwischen Euphorie ob der Gelegenheit sich endlich in einer Schlacht zu stellen und blanker Angst. Böse Kommentare über die vor allem aus Deutschland stammenden Soldaten, denen sie den Rücken deckten, machten die Runde. Kaum einer der Männer hatte sich nicht darüber ausgelassen wie das Korps bei Chancelorsville geflohen war. Die Überzeugung von der Feigheit aller Deutschen hatte sich seitdem kräftig angefeuert von der Presse, die in den Immigranten einen willkommenen Sündenbock für die Niederlage gefunden hatte, unter Zivilisten und Soldaten der Nordstaaten durchgesetzt und feuerte die ohnehin feindselige Stimmung gegenüber den Deutschen, deren Einwanderung in großer Zahl und anderen Sitten den vor allem englisch stämmigen Alteingesessenen in den letzten Jahren wie eine Invasion vorgekommen war und die in Anbetracht des Eifers, mit denen die Einwanderer nach wirtschaftlichem Aufstieg strebten um ihre eigenen wirtschaftliche Situation fürchteten. Cyrus hingegen, der die Schlachtfeldberichte von Bull Run und Pea Ridge gelesen hatte, in denen Einheiten des Korps für ihre Disziplin gelobt worden waren und unter Generälen wie Franz Sigel mehrfach die Linie gegen überlegene Feinde gehalten hatte, machte sich mehr Sorgen darüber, dass sie mit Howard und Barlow unter zwei Kommandanten marschierten, die nicht ein Wort der Muttersprache ihrer meist des Englischen nicht mächtigen Soldaten sprachen, bei Chancelorsville alle Warnungen erfahrener Offiziere vor der Verwundbarkeit ihrer Position und einem Vormarsch der Konförderierten in den Wind geschlagen hatten und von denen er zumindest einen für unfassbar Geltungssüchtig hielt.

    Am frühen Nachmittag kam es wie viele es befürchtet hatten: Das Korps rannte. Major General Barlow hatte seine Division ohne Sinn und Verstand auf einen vorgeschobenen Hügel vorrücken lassen und so die Flanke ihrer Schlachtlinie entblößt, was der Gegner eiskalt ausnutzte. Plötzlich in einem verheerenden Bleihagel von mehreren Seiten bedrängt und durch eine Kugel, die den unfähigen Barlow an der Schulter verwundete, ihres Kommandanten beraubt wandte sich die erste Division zur Flucht und öffnete dem Feind so die Flanke der zweiten Division. Um ihr Leben rennende Männer drängten zu tausenden durch die engen Straßen von Gettysburg. Am der dem Geschehen abgewandten Seite der aufmarschierenden Reserve stand das 89th New York auf den Feldern südlich der Ortschaft. Cyrus, der in der zweiten Gefechtsreihe stand, fühlte sich als müsse er sich übergeben. Seine Hände waren kalt und verschwitzt, seine Eingeweide schienen sich verkrampft zu haben und seine Knie hätten gezittert, hätte er nicht vorwärts marschieren müssen. Der Wind trug in Augen und Rachen beißenden Pulverdampf herüber und Schreie der Flüchtenden und verwundeten übertönten sogar das klingen von Stahl und das Donnern der Waffen.

    Sie rückten westlich an der Siedlung vorbei den Rock Creek entlang. Am Bahndamm gingen sie in Position. Trommeln und Pfeifen kündigten den Feind an noch bevor sie ihn sahen. Gegen das scharfkantike Schotterbett der Gleise gepresst umklammerte Cyrus seine Muskete so fest, dass seine Finger schmerzten. Seine Hände wollten so stark zittern, dass es ihm unmöglich war zu zielen. Er zwang sich tief durchzuatmen und versuchte seine Emotionen mit einer Atemübung zu beruhigen, die er an der Akademie so geschmäht hatte. Dann tauchte vor ihnen eine Schlachtlinie unter dem Southern Cross und einem grünen Harfenbanner auf. Sie hatten die ins hohe Gras gekauerten und hinter dem Damm verborgenen Yankees offenkundig noch nicht bemerkt. Plötzlich ging mit einem Mann des 89th die Angst durch. Er sprang aus seiner Deckung auf und versuchte davon zu laufen. Ein Offizier packte ihn sofort und schleuderte ihn wieder zu Boden, doch die Südstaatler hatten ihn gesehen. Auf Zuruf ihres Kommandanten verharrten sie und bildeten eine Feuerlinie. Gut fünfzig Meter rechts von Cyrus verlor ein zweiter Mann die Nerven. Er verschwendete seinen Schuss auf einen viel zu weit entfernt stehenden Gegner. Zwanzig, vielleicht dreißig weitere Schüsse lösten sich. Die Offiziere schritten ein und brachten die Dummköpfe, die ihre Position verraten hatten, mehr oder minder drastisch zur Räson, nur hatten die Rebellen bereits alles erkannt, was sie wissen mussten. Geordnet wandten sich ihre Reihen nacheinander westwärts und rückten weiter durch die Stadt vor.

    Nach einem kurzen Wutausbruch des Colonels rückte das Regiment in die Stadt vor. Schon nach gut hundert Metern trafen sie auf Männer der ersten Brigade der dritten Division, die sich mit einer Konföderierten Einheit heftige Schusswechsel lieferten. Auf das 89th aufmerksam gemacht lief ihnen ein Colonel mit markantem Federhut, dessen rechte Schulter von einer noch jungen Verletzung steif war, so dass er seine Klinge in der linken hielt, und in dessen Gesicht eine Kugel eine blutende Schramme gerissen hatte, der ihren Befehlshaber sofort auf Deutsch ansprach und energisch gestikulierend nach Süden deutete. Der Colonel, der kein Wort verstand, murmelte nur einen Fluch und versuchte so einfach wie möglich zu erklären, dass sie seine Männer dabei unterstützen wollten den Abzug zu decken. Als Cyrus den Wortwechsel hörte, schob er sich unter dem Protest einiger Offiziere und Unteroffiziere durch die Reihen nach vorne und sagte: „Colonel Morston, Sir, der Colonel versucht ihnen zu sagen, dass wir uns nach Süden zurückziehen sollen.“ „Sie verstehen ihn?“ „Ja, Sir.“ „Dann sagen sie ihm, dass...“ Der deutschstämmige Offizier schnitt ihm das Wort ab und schimpfte direkt an Cyrus gewandt: „Ich kann ihre Leute hier nicht gebrauchen. Wir tun was wir können, um den Rückzug zu decken. Also hauen sie endlich ab.“ Pflichtschuldig übersetzte er. Sichtbar unzufrieden schürzte sein Regimentskommandant die Lippen, so dass der Deutsche noch einmal energischer sagte: „Ihr Regiment ist unversehrt zu wertvoll. Verschwinden sie. Wir sehen uns im Süden auf dem Hügel, sobald wir hier raus kommen.“

    Der Einsicht folgend, dass der andere Offizier recht hatte, führte Colonel Morston sie wieder aus der Stadt heraus und zum Cementery Hill, wo die zerschlagenen Einheiten des elften Korps sich sammelten. Die aufziehende Nacht brachte schließlich die innig herbeigesehnte Ruhe. Während die verbliebenen Offiziere versuchten die geschlagenen Einheiten zu reorganisieren, beteiligten die Soldaten des 89th sich an der Aufschüttung von Brustwehren und Artillerieschanzen. Was an Steinen und Holz zu finden war wurde herangeschafft, um aufgeschüttete Erdwälle zu befestigen. Der Feind mochte die Stadt genommen haben, aber der Ausgang der Schlacht war noch völlig offen. Alles hing nun davon ab, dass es gelang den Hügel zu halten bis Gros der Armee unter Meade das Schlachtfeld erreicht hätte. Während Cyrus gemeinsam mit zwei anderen Männern den Stamm eines in der nähe gefällten Baumes heranschleppte, sah er Morston, der mit jenem anderen Colonel aus Gettysburg sprach, der in Begleitung eines zweiten Mannes, der ihnen wahrscheinlich als Übersetzer fungierte, zu ihm gekommen war. Beide wechselten einige Worte miteinander. Dann kamen sie zur Schanze, an der die Männer arbeiteten. Morston stellte sich auf den Erdwall und sagte: „Gentlemen, Colonel Hecker sucht nach Freiwilligen, die helfen Verwundete aus der Stadt zu holen. Ich will sie nicht anlügen: Sollten sie entdeckt werden wird die Angelegenheit zum Selbstmordkommando. Aber sie können einer Menge guter Männer das Leben retten. Ich überlasse es ihnen, ob sie sich beteiligen wollen.

    Einer der Soldaten neben Cyrus stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Ich riskiere meine Haut doch nicht für ein paar Dutchies, die beim Weglaufen umgeknallt wurden“, verkündete er und sah Beifall heischend zu einigen seiner Freunde. Cyrus hörte ein Knirschen und merkte erst im zweiten Moment, dass es seine eigenen Zähne waren. Er ließ den Baumstamm, den sie noch hielten, los, sah dem Mann, der sich lauthals beschwerte, in die Augen und sagte: „Ich schon. Das da unten hätten genauso gut wir sein können.“ Er schloss sich einigen anderen Freiwilligen an, die sich unter Führung Colonel Heckers zum Fuß des Hügels vorpirschten. Er beschrieb ihnen, welchen Weg seine Truppe durch die Straßen genommen hatte und wünschte ihnen Glück. Im Schutz der Dunkelheit krochen sie über offenes Feld auf die verdunkelte Stadt zu. Sie hatten die Rauchfahnen der Lagerfeuer der Konförderierten zwar östlich und westlich ihrer Stellungen entdeckt, doch es konnten immer noch Einheiten in der Stadt stehen. In den Straßen versuchten sie so gut es ging die Deckung auszunutzen, die Schatten und Häuser boten. Sie fanden einige Männer, die sie auf aus Gewehren der Toten und Mänteln improvisierten Bahren in Sicherheit brachten. Cyrus gehörte zu denen, die sich am weitesten hinein wagten, konnte er doch die Verwundeten unter den Toten spüren.

    Hinter dem Bahnhof, beinahe am nördlichen Ende der Stadt, fanden sie einen Straßenzug, den Col. Charles Costers Regiment so lange wie möglich gegen den Ansturm gehalten hatte. Die Toten stapelten sich auf der Straße und es lag ein beinahe unerträglicher Gestank von geronnenem Blut in der Luft. Sie fanden noch fünf weitere Überlebende, bevor sie beschlossen sich zurückzuziehen. In der Dunkelheit stolperte Cyrus über einen Körper. Als er der Länge nach in den Dreck stürzte, hörte er den Mann vor Schmerzen stöhnen. Er winkte einen seiner Begleiter heran und murmelte dem Verwundeten zu: „Corporal Cyrus McArthur, 89th New York. Keine Sorge, Soldat, wir schaffen sie hier raus.“ Dann fiel sein Blick auf das Gesicht des Verwundeten und ihm stockte der Atem. „Verdammt, Armyboy“, murmelte der Südstaatler vom Rappahannock mit schmerzerfüllter Stimme, „und ich dachte ich sehe dich erst in der Hölle wieder.“ Als erwarte er jeden Augenblick, nun da er einen Überlebenden der Gegenseite gefunden hatte, dass ein konföderierter Suchtrupp auftauchte, sah Cyrus sich hastig um. Als alles ruhig blieb tastete er nach der Wunde des Mannes. Die Kugel einer Muskete stak ihm in der Hüfte. Seine Uniform war vom Blut durchtränkt und er sah mehr als hinfällig aus. Für einen Moment dachte Cyrus ernsthaft darüber nach ihn zurück zu lassen. Doch dann schob er den Gedanken beiseite, forderte seinen Begleiter auf ihm zu helfen und legte sich den Arm des Verwundeten über die Schulter.

    Als sie wieder den Cemetery Hill hinauf stapften, warteten Morston und Hecker. Der new yorker Colonel begrüßte sie mit freundlichem Schulterklopfen und Bekunden seines Stolzes. Erst als er bemerkte, dass sie einen Feind den ganzen Weg mitgeschleppt hatten, wurde er schlagartig ernst. „Was zur Hölle ist in sie Gefahren, Corporal? Wir sind verdammt noch mal nicht in der Position uns mit Gefangenen belasten zu können.“ „Dieser Mann hat sehr viel Blut verloren, Colonel. Er stellt in seinem Zustand keine Gefahr für uns dar.“ Als könne er die Dummheit seines Soldaten nicht fassen ließ Morston das Gesicht in die Hände sinken und schüttelte den Kopf. Dann deutete er auf eine der hinteren Stellungen. „Ich mache sie für jede seiner Handlungen verantwortlich. Bringen sie ihn zu den anderen Verwundeten.“ Sie trugen ihn in eine detachierte Stellung, wo hunderte Verwundete auf Bettrollen oder einfach nur ausgebreiteten Mänteln lagen. Einige Männer versuchten Wunden zu verbinden oder gaben den Versehrten Alkohol gegen die Schmerzen und denen, die danach verlangten, Wasser. Nachdem sie den Geretteten hingelegt hatten, bettete Cyrus seinen Kopf auf einen Mantel und besah sich die Wunde genauer. „Na, bin ich jetzt dein Gefangener?“ Das Lachen des Mannes verwandelte fast sofort sich in ein krächzendes Husten. Cyrus verneinte: „Du bist nur jemand, der da unten eine Kugel abbekommen hat. Ich halte es für so etwas wie ein Zeichen christlicher Nächstenliebe niemanden da unten liegen zu lassen.“ „Halleluja.“

    Vorsichtig entfernte er den Stoff über der Wunde und verzog das Gesicht. „Du blutest zu stark. Ich muss die Kugel da raus holen und die Wunde ausbrennen, sonst verblutest du mir, bevor der Lazaretttross ankommt.“ Der Südstaatler deutete mit einer schwachen Geste auf den Verwundeten neben sich und fragte: „Was ist mit deinen Leuten? Kümmer dich um sie.“ „Mache ich auch gleich. Aber ich habe dich da unten raus geholt. Das bringt Verantwortung mit sich.“ Er besorgte ein Messer mit sehr breiter Klinge, die er in die Glut des Feuers legte und holte noch zwei Helfer, die den Mann festhalten sollten. Das rot glühende Messer in der linken schob er ihm schließlich ein Stock Holz zwischen die Zähne und sagte: „Ich versuche es so schnell wie möglich zu machen.“ Ohne eine Zange zur Hand zu haben musste er mit bloßen Händen in die Wunde greifen und die Kugel herausziehen. Der Patient schrie vor Pein und bäumte sich unter dem Griff der beiden Männer auf. Als er die Kugel zwischen den blutverschmierten Fingern hielt, presste Cyrus das Messer auf die Wunde...

    Der zweite Tag brachte gnadenloses Blutvergießen, das die Gefechte des vorangegangenen Tages wie kleine Scharmützel aussehen ließ. General Meade und seine Truppen waren über Nacht angekommen und hatten ihre Position auf mehreren Hügeln gefestigt. Cyrus Regiment stand mit auf dem Cementery Hill in einer der hinteren Linien. Trotz der desaströsen Verluste seines Korps wollte Howard sich nicht auf eine Einheit ohne jede wirkliche Kampferfahrung verlassen, so dass er sie erneut in Reserve hielt. Einige Soldaten, darunter auch Cyrus, halfen allerdings wie in der letzten Nacht Verwundete, die sie aus den Linien der im Kampf stehenden Regimenter zogen, hinter die Linien zu bringen. Einer der Wundärzte des Lazaretttrosses schanghaite ihn schließlich ihm zu helfen. Als die Waffen gegen Abend wieder schwiegen, waren ihm ein Dutzend Leute unter den Fingern weggestorben und er hatte derart vielen nach besten Kräften erste Hilfe geleistet, dass er aufgehört hatte sie zu zählen. Bei Einbruch der Dunkelheit nutzte er eine kurze Pause, um nach jenem Mann zu sehen, den er gestern aus Gettysburg gerettet hatte. Der Mann aus New Orleans schien bereits mehr im Reich der Toten zu stehen, als in dem der Lebenden. Sein Atem ging flach, die am Vortag ausgebrannte Wunde hatte begonnen zu eitern und er hatte kaum noch Farbe im Gesicht. Als Cyrus einen Arzt bat sich seiner anzunehmen, kam dieser zwar zuerst mit, um nach dem Mann zu sehen, doch als er die konföderierte Uniform sah, meinte er: „Wir haben genug mit unseren eigenen Leuten zu tun, Corporal.“ „Wir sollten keinen Unterschied machen.“ „Er und seinesgleichen sind Verräter“, erwiderte der Arzt, während er sich herunter beugte und dem Patienten den Puls fühlte. „Und selbst wäre er einer von uns, ist er fast tot. Ich habe nicht die Zeit oder die Mittel ihn zu retten, solange noch so viele gute Männer mit dem Tod ringen.“

    Noch bevor der Morgen graute war der Südstaatler tot. Unfähig weiter bei den Verwundeten zu bleiben reihte Cyrus sich wieder in die Linien seines Regiments ein. Sie wurden auf einen südlichen Ausläufer befohlen, als Lee sich entschloss alles oder nichts zu riskieren und seine Infanterie in eine der größten Attacken des Krieges warf. Hunderte Artilleriegeschütze beider Seiten belegten ihre Gegner zwei Stunden lang mit massivem Feuer, rissen gewaltige Lücken in die Reihen, bevor tausende Soldaten aus dem Wald des Seminary Ridge hervorbrachen und durch die Senke zwischen beiden Hügeln stürmten. Mit dem Schlachtruf „Fredericksburg, Fredericksburg, Fredericksburg“, richteten die Nordstaatler mit massierten Musketensalven und Artilleriekartäschen ein regelrechtes Massaker unter ihnen an. Bevor er seinen ersten Schuss in dieser Schlacht abgab, zögerte Cyrus noch. Danach funktionierte bloß, lud in über zwei Jahre immer und immer wieder gedrillten Reflexen nach, legte an und feuerte in die Menge der auf sie zu stürmenden Gestalten. Er musste sich selbst verbieten auf seine Empathie zu hören, um nicht durch den Schmerz um sich herum den Verstand zu verlieren. Als es vorbei war, lagen beinahe zehntausend Mann tot oder verwundet auf beiden Hügeln.

    Die Schlacht war tatsächlich vorbei. Lee brach das Gefecht ab und Meade ließ ihn ziehen. Die Potomac-Armee hatte das Feld gegen ihre Nemesis behauptet. Während die Toten gezählt und die Verwundeten versorgt wurden, begann man Gräber auszuheben. Nach Ende seiner Pflicht bat Cyrus einen Freund um Hilfe und brachte den Leichnahm jenes Toten, der ihm für einige Monate so sehr ein Freund gewesen war, wie man miteinander befreundet sein konnte, wenn man im Krieg auf verfeindeten Seiten stand, auf das Gräberfeld. Auf der Suche nach einem Priester, um ihm ein christliches Begräbnis geben zu können, fand er zwei Geistliche, die neben einem Gefallenen standen. Als er sich näherte, konnte er ihr Gespräch verfolgen: „Ich sage euch, dieser Mann bedarf des letzten Sakraments, nicht des Beistandes eines Verblendeten. Er ist ein guter Sohn Irlands.“ „Seid vorsichtig mit euren Behauptungen, Pater. Ich habe das Wort von zehn frommen Protestanten, dass er das Abendmahl mit ihnen eingenommen hat.“ „Ebenso wie mir jemand sein Wort gab dieser Mann sei in Leinster geboren. Außerdem hatte er ein Bildnis des heiligen Georg bei sich. Wie wollt ihr euch das erklären?“ „Jeder kann solches wertloses Geraffel in der Tasche haben. Und wenn ihr mir nicht glauben wollt, dann lasst mich meine Zeugen holen.“ „Das Wort eines Anhängers des Erzketzers, der sich für einen anderen verbürgt. Nichts, was mich sonderlich beeindrucken könnte. Und solltet ihr tatsächlich die Wahrheit sagen, würde das nur bedeuten, dass er vom wahren Glauben abfiel.“

    Beide Männer stritten sich noch beinahe zehn Minuten lang, bis sie darin überein kamen dem Toten jeden Ritus zu verweigern und die Soldaten anwiesen ihn außerhalb des Friedhofs in nicht geweihter Erde zu verscharren. Cyrus blieb regungslos stehen, als sie gingen. Zwei Minuten, drei, fünfzehn... Beinahe eine halbe Stunde verging, bis er tatsächlich in allen Facetten begriffen hatte, was er gerade miterlebt hatte und versucht hatte es mit seinem Glauben in Einklang zu bringen. Gott? Gott, der in seiner Gnade alles zum Guten wendet? Seine Hände schlossen sich um das Kreuz, das er um den Hals trug, ein Schmuckstück, das sein Vater einmal für ihn geschnitzt hatte und dass er seit Jahren nie abgelegt hatte. Ein kräftiger Ruck ließ das dünne Lederband, an dem es befestigt war, zerreißen. Ungläubig sah er auf das Kreuz in seiner Hand herab. Gott? Wessen Farben trug er? Welche Gnade ließ er walten? Er ließ das Kreuz fallen und verließ den Friedhof.

    1865, New York:

    Drei Jahre hatte sein Vertrag ihn an die Uniform gefesselt. Drei Jahre, deren Tage er nach Gettysburg zu zählen begonnen hatte. Nun stand er wieder in New York, stand wieder vor dieser Tür. Er wagte nicht seiner Familie allein unter die Augen zu treten. An wen sollte er sich also sonst wenden? Er atmete tief durch und klopfte. „Herein“, erscholl eine gedämpft klingende Stimme. Er öffnete die Tür. Sein Blick fiel auf Tercio, der hinter einem ausladenden, dunklen Schreibtisch vor einem Panoramafenster saß, das den Blick auf den Hafen freigab. Der Antiker sah von seiner Arbeit auf und legte seinen Stift beiseite. Mit ruhiger Gestik deutete er auf einen freien Sessel. Er wirkte nicht im mindesten überrascht ihn zu sehen. Während er sich setzte, sagte Cyrus: „Ich hoffe ich bin nicht unwillkommen.“ „Wärst du es, hätte ich es dir gesagt. Du hast gut daran getan zu mir zu kommen.“ „Du weist nicht einmal was ich will...“ „Doch. Zumindest kann ich es mir denken“ „Dann kannst du es mir hoffentlich auch ersparen den demütigen Bittsteller rauszukehren.“ „Was hätte ich schon davon? Zugegeben, mein Kiefer schmerzt immer noch zuweilen, aber abgesehen davon hast du alle meine Erwartungen erfüllt.“ „Erwartungen?“ Tercio nickte. „Du musstest dir darüber im klaren werden wer du bist, wem du dienen willst und wem du vertrauen kannst. Dass du hier bist zeigt mir, dass du für dich Antworten auf diese Fragen gefunden hast. Und du hast dich für die richtige Seite entschieden.“

    „Kann die, deren einzige Ideale das eigene Überleben und billige Verlustierungen sind, die richtige sein? Derart nihilistisch...“ „Sie ist es, weil es die Seite ist, die triumphieren wird. Ich habe Grund zur Hoffnung, dass Idealismus wie der, der dich verleitet hat dich von uns abzuwenden, sich selbst abschaffen wird. Wir erleben ein Zeitalter des Umbruchs, der von diesem Idealismus getragen wird und das Ende alter Strukturen mit sich bringt, in denen wir kaum Einflussmöglichkeiten besaßen. Die Monarchien und Aristokratien der letzten Jahrhunderte haben uns nicht viele Möglichkeiten gelassen. Doch Idealismus und Freiheitsliebe haben an ihre Stelle etwas gesetzt, das aufregende Möglichkeiten mit sich bringt. Die Menschen sprechen von Demokratie. Ich sage dazu Korruption. Denn nichts anderes bedeutet es.“ „Die Demokratie soll das Volk schützen, nicht...“ „Genau das ist das entscheidende Wort: Sie soll. Aber nichts bietet uns und anderen bessere Möglichkeiten, als die Repräsentation. Spreche ich mit einem Abgeordneten, dann habe ich einen Abgeordneten vor mir, den ich beeinflussen kann. Spreche ich mit einem Fürsten, dann habe ich zuerst eine Institution vor mir, einen Titel, die Verkörperung einer Tradition. Der Mensch ist beeinflussbar. Die Tradition zu formen braucht Generationen. Es ist der Preis ihrer Freiheit, dass die Menschen sich zum Spielball der Korruption machen, bis sie endlich verstehen, dass es nicht nur eine Freiheit von etwas gibt, sondern auch die zu etwas, die mit Verantwortung verbunden ist. Und so lange haben sie uns das Spielfeld bereitet. Das vor uns liegende Zeitalter wird unseres sein, Cyrus. Wir werden die Sieger sein.“
    Geändert von Protheus (04.05.2011 um 17:46 Uhr)
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

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    Laufend: 2036 - A Union at War

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