Seite 2 von 5 ErsteErste 1234 ... LetzteLetzte
Ergebnis 21 bis 40 von 87

Thema: 2036: a Union at war

  1. #21
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    @Azrael: Ich mir bei diesem Urteil auch nicht. Die angedeuteten Veränderungen sollten Veränderungen illustrieren, die einerseits andeuten, dass die Kirche sich zu entwickeln versucht, andererseits aber auch eine Art Verzweiflung ausdrücken. Die konservativen Elemente der Kurie würden so einen Kurs wahrscheinlich niemals mittragen, wenn es für die Kirche nicht um Sein oder (in absehbarer Zeit) Nichtsein geht. Und das Ende ist zwar recht düster, aber mir gefiel es so

    @Santanico Pandemonium: Diese Erkenntnisse werden in absehbarer Zukunft in der Tat von Bedeutung sein. Mehr verrate ich darüber aber noch nicht. Und McKay ist tatsächlich noch am Leben und sehr rüstig. Ich hatte ihn in einer Folge der ersten Staffel auftauchen lassen, falls du dich erinnerst.

    @Colonel Maybourne: Der Name ist geklaut. Der Rest ist von einem real existenten Geistlichen aus Frankreich orientiert, der sich sehr für die Ökumene eingesetzt hat. Und Glick wird mit dieses Schicksal ertragen müssen. Ich muss aber zugeben, dass ich auch etwas sadistische Freude daran hatte ihn zwischen so viele Gläubige zu werfen.

    @Jack-ONeil: Danke für die Einschätzung. Wie schon gesagt war die Wahl dieses progressiven Papstes auch teilweise eine Verzweiflungstat, um nicht völlig von den Veränderungen dahingerafft zu werden. Und natürlich ist die Technologie der Antiker ziemlich heftig. Immerhin sind sie auch in dieser FF eines der fortschrittlichsten Völker aller Zeiten.

    @xeeleuniversum: Danke für das Drücken des Buttons.


    Und hier die nächste Folge. Gesamtlänge 22 Seiten. Nächstes Mal geht es dann wieder um Jules. Der hier enthaltene Liedtext gehört zum Lied Alabama 58, auf das ich keinerlei Ansprüche erhebe. Bleiben sie uns treu, empfehlen sie uns weiter, viel Spaß beim Lesen.


    Episode 4: Der Feind im Inneren

    Moskau zählte zu den Städten, deren Gesicht und Wahrnehmung sich im Laufe der Jahre immer wieder gewandelt hatte. Zu lang war sie in der Vorstellung vieler Westeuropäer nur eine rückständige Eishöhle im Griff eines nie enden wollenden russischen Winters gewesen. Später hatte ein Versuch der sowjetischen Führung die Sicherheit und den reibungslosen Ablauf der olympischen Spiele von 1980 zu gewährleisten die Vorstellung geweckt, die Stadt sei voll von Geheimagenten, die jeden einzelnen Schritt ihrer Bewohner überwachten, hatte man doch versucht ein freundliches Bild zu vermitteln, indem man die meisten Sicherheitskräfte in zivil ausstaffiert hatte, ohne dabei zu bedenken Anzüge unterschiedlichen Schnitts zu beschaffen, so dass auf unbeabsichtigte Weise doch wieder eine Art Uniform vorherrschte. Nach dem Fall der Sowjetunion wich dieses Bild dem brutaler Staatsgewalt, die sich nicht um ihre Bürger scherte und Moskau zum Forum Neureicher machte, die bar jeden guten Geschmacks ihr Geld verprassten.

    In den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts war von alledem nicht mehr viel zu spüren. Moskau, Metropole an der Moskwa, größte Stadt des vereinten Europas, hatte sich unlängst neu erfunden und war zu einer Stadt der Freigeister, Künstler und Querdenker geworden, hatte sich gewandelt, gleich einem Schmetterling, der aus seiner Puppe ausbricht oder einer Blüte, die sich zum ersten Mal öffnet. Als 2019 die weltweiten Ressourcenkonflikte erneut zu schwelen begannen und die politischen Eliten Russlands, das nach dem Zusammenbruch der Rohstoffmärkte einige Jahre zuvor wirtschaftlich am Boden gelegen hatte, die Chance zum Aufbruch in ihren kleinlichen Machtkämpfen und einem Sumpf der Korruption zu verspielen drohten, hatte sich das geplagte Volk auf den Straßen der Stadt seine Stimme erhoben, so laut, dass niemand es hatte überhören können. Der Ruf nach Freiheit hatte damals Freidenker und Reformer aus ganz Russland in die Hauptstadt strömen lassen. Viele waren geblieben. Sie zelebrierten die Rechte, die sie sich erstritten hatten, und die neuen Lebenschancen, die sich ihnen eröffneten, auf eine leichte und lustvolle Art und machten Moskau zu einem Zentrum neuen europäischen Kulturschaffens. Im ausklingenden Februar 2036 überlegte Pavel Klimow allerdings erneut die Systemfrage zu stellen.

    Er duckte sich im letzten Moment, so dass der Pflasterstein seinen Kopf eine Hand breit verfehlte und gegen den Kunststoffschild des Polizisten hinter ihm krachte. Äußerlich konnte die Attacke ihn nicht aus seinem Gleichmut werfen, doch innerlich war er aufgewühlt. Wut, sowohl auf die Menge, die vor ihnen auf dem roten Platz tobte, als auch auf das System, das nicht zuließ, dass sie für Ordnung sorgten, kochte heiß in ihm und die Finger seiner rechten Hand kneteten den Griff seines Schlagstockes unaufhörlich. Russland mochte seit 2019 de Facto ein Teil der europäischen Union sein, de Jure jedoch war es nur ein assoziierter Staat. Zwar hatte die Regierung der russischen Föderation 2019 fast all ihre Macht an Brüssel abgegeben, doch zu einem vollständigen Beitritt waren die Herren des Kreml nicht bereit gewesen, egal wie laut das Volk ihn gefordert hatte. So trat die Duma immer noch regelmäßig zusammen, hatte aber fast nur noch repräsentative Befugnisse. Und trotzdem konnte dieses Parlament, das kaum noch mehr als ein Abstellgleis für Politiker war, die man in Brüssel nicht mehr brauchen konnte, die EU ins Wanken bringen. Die Duma war befugt das Assoziierungsabkommen mit Europa zu kündigen. Und genau darüber wurde derzeit hinter den Mauern des Kreml – die Duma trat mittlerweile im alten Senatspalast zusammen und nicht mehr im alten Sowjetbau an der … – verhandelt.

    Nachdem das Parlament in Brüssel – übrigens auch mit großer Zustimmung der russischen Abgeordneten – der in der Öffentlichkeit als ‚Maybourne-Plan’ bekannten Gründung eines planetenübergreifenden Bündnisses zugestimmt hatte, hatte die Organisation Terra Nostra, die eine totale Aufgabe allen Engagements auf anderen Welten forderte, Unterstützung mobilisiert, die sie bei Duma-Abgeordneten besaß, um den Plan doch noch zu Fall zu bringen.

    Ihr Anführer, ein gewisser Lewan Andronikaschwili, hatte die Bühne, die diese Abstimmung ihm bot, natürlich zu nutzen gewusst und Demonstrationen mit Anhängern organisiert, die er aus ganz Europa hatte heranschaffen lassen. Auch heute sprach er wieder auf einer Bühne im Botanischen Garten und peitschte die Menge auf. Bald zwanzig Jahre Europa hatten Pavel mittlerweile genug Demokratieempfinden eingehaucht, dass er bereit war dieses Verhalten als politisch legitim zu akzeptieren. Doch die Folgen… Während einer der zahllosen Demonstrationen, die Terra Nostra organisiert hatte, hatten Studenten an der Lomonossow-Universität ein Transparent an der Fassade entrollt, das die isolationistischen Vorstellungen der Demonstranten verspottete, woraufhin einige von ihnen voller Übereifer nichts besseres zu tun gehabt hatten, als zu versuchen es Anzuzünden. Die Polizei war eingeschritten, es war zu einer Prügelei gekommen, Bilder davon waren durch die Medien gegeistert und eine Woche später glich die Stadt einem Tollhaus. Autonome beider politischen Extrema und Krawallmacher aller Couleur hatten die größten Straßenschlachten seit 2017 gewittert und waren in Scharen in die Stadt eingefallen. Es nahm absurde Ausmaße an und das die Polizei von Kiew vor drei Tagen sogar eine Gruppe Hooligans aus London abgefangen hatte, die nach Moskau hatte weiterreisen wollen, zeigte, dass das hier nichts mehr mit politischer Meinungsäußerung zu tun hatte. Andronikaschwili stahl sich indess gekonnt aus der Affäre und bestritt jedwede Schuld, so dass es an der Polizei hängen blieb die Situation wieder zu klären.

    Wäre es nach Pavel gegangen, hätten sie die ganze Stadt schon vor Tagen durchkämmt und jeden einkassiert, dessen Nase ihnen nicht gefiel. Doch der Polizeidirektor hatte die klare Devise ausgegeben nur im Extremfall einzugreifen, um keine weitere Eskalation zu riskieren. So starrte Pavel, der als Einsatzleiter mit in der Phalanx der Polizisten stand, die den Kreml schützten, nur in die Menge, während er leise seine eigene Ohnmacht verfluchte. Leise murmelte er: „Elende Dissidenten. Gebt mir einen Grund ein paar Schädel einzuschlagen.“ Der Mann neben ihm, der ihn gehört hatte, meinte darauf: „Dissidenten, Pavel Valeriowitsch? Doch wohl eher dumme Schläger.“ Pavel wandte dem anderen sein Gesicht zu und sah ihm direkt in die Augen. Nach einigen Augenblicken wich dieser seinem Blick aus und sah wieder in Richtung des Platzes. „Leute, die sich auf so eine Art gegen Staat und Allgemeinheit wenden“, erklärte er mit schneidender Stimme, „sind für mich Dissidenten. Sie stellen sich selbst abseits der Gesellschaft, fordern aber trotzdem von ihr beschützt zu werden. Geschmeiß. Egal, ob nun politisch motiviert oder nicht. Dissidenten.“

    Der andere Antwortete nicht, sondern gab statt dessen vor sich auf irgendetwas am anderen Ende des Platzes zu konzentrieren, während er ständig auf und ab wippte, um die beißende Kälte aus den Gliedern zu vertreiben. Pavel wandte seinen Blick wieder geradeaus. Es wirkte surreal mit anzusehen, wie die Schläger immer wieder auf die Gruppen von Polizisten und privaten Sicherheitskräften losgingen, die den Platz bewachten, während um sie herum die Baudenkmäler vom Schnee bedeckt dalagen, wie auf einer Weihnachtspostkarte. Wenn er die Augen schloss und lauschte, konnte er sogar den schwachen Klang der Kaufhausmusik hören, die aus dem GUM herüberscholl. Einer seiner Mundwinkel zuckte in Andeutung eines Lächelns, dann erstarrte sein von ersten Falten und Altersflecken gezeichnetes Gesicht wieder zu einer Maske der Ernsthaftigkeit. Sie standen noch einige Zeit so dar, dann flog von irgendwo aus der Menge auf einmal ein Molotow-Cocktail in die Reihen der Polizisten. Genug um aggressiveres Vorgehen zu rechtfertigen. Er drückte den Sende-Schalter seines Funkgeräts und sagte: „Vorwärts, Leute. Räumen wir den Platz ein wenig auf.“ Sie setzten sich in Bewegung. Zuerst langsam, dann gingen sie in einen kurzen Spurt über. Pavel selbst schwang schon im Lauf seinen Schlagstock und nahm die volle Wucht des Ansturms mit, als er den ersten Schlag ausführte. Er schickte einen großen, massigen Krawallmacher, ein wahrer Berg aus Fleisch, der selbst ein mit einem großen Nagel durchbohrtes Brett geschwungen hatte, mit einem Hieb zu Boden. Dann setzte er sich mit einem Satz über seinen gestürzten Gegner hinweg und verlor sich im Getümmel der Straßenschlacht.

    Im Kreml:

    Maxim Anochin lief gefolgt von zwei Leibwächtern zügig doch ohne Hast auf einen der Seitenausgänge des Senatsgebäudes zu und sah dabei mit einem fröhlichen Lächeln zu dem Mann, der neben ihm ging. „Und“, fragte er, „waren sie mit dem Verlauf der Debatte zufrieden?“ Der Andere zuckte mit den Schultern. „Wie könnte ich es sein. Der Antrag ist nicht vom Tisch.“ Maxim lachte schallend. „Keine Sorge, mein Freund. Zwei Mal hinter einander ein klares Votum für die Fortsetzung der Assoziation und die Akzeptanz des Maybourne-Planes. Und beim dritten Mal hätten sie nicht mehr mit Formfehlern argumentieren können. Nein, dass Andronikaschwilis Handlanger eine Vertagung beantragt haben, ist eine reine Verzweiflungstat. Sie haben gehofft alles im Schnelldurchgang durchzupauken und die Zeit arbeitet gegen sie. Es würde mich wundern, wenn es überhaupt noch eine letzte Abstimmung geben würde.“ Sein Gegenüber seufzte. Er war einige Jahre jünger als der Russe und sein Äußeres verriet seine mediterrane Abstammung. „Ich wünschte ihr könnte ihren Optimismus teilen.“ Amüsiertes Schnauben. „Keine Sorge. Je länger diese Krawalle da draußen dauern, desto besser für uns. Es gibt zwei Sorten von Abgeordneten in der Duma. Das eine sind notorische Querulanten, die man nirgendwo sonst haben wollte und die anderen alte Männer, die man aus der Realpolitik weggelobt hat. Insbesondere letztere hassen solche Unordnung. Und raten sie mal, wem sie die Schuld geben werden.“

    Nun lächelte der andere. „Welcher Typus sind sie?“ Maxim dachte nach. Schließlich antwortete er: „Wahrscheinlich ein wenig von beidem.“ Eine Antwort, die zutreffender war, als man es zuerst vermuten mochte. Er hatte während des politischen Umbruches 2019 zu den stärksten Befürwortern der Assoziation gehört und in den Jahren danach für die Region Rostow im europäischen Parlament gesessen. Irgendwie musste ihm dort das Kunststück gelungen sein zugleich die richtigen Leute zu beeindrucken und zu energisch die Interessen seiner Wähler zu vertreten, denn nach drei Jahren war ihm ein Posten als subalterner Kommissar für Korruptionsbekämpfung in den assoziierten Gebieten angeboten worden, was zwar eine Art Beförderung in ein wichtiges Amt darstellte, ihn zugleich aber auch aus dem Zentrum der Macht entfernte. Nach mehreren Jahren in jenem Amt war er schließlich auf verschlungenen Pfaden in der Duma gelandet, wo er seinen politischen Lebensabend verbringen konnte. Ja, beschloss er, für ihn war es der verdiente Altersruhestand. Er hatte in seinem Leben genug Leute geärgert, um behaupten zu können etwas geleistet zu haben. Und die heutige Debatte war noch eine letzte willkommene Erinnerung an frühere Zeiten. Er lachte erneut und klopfte dem Südländer auf die Schulter. „Heute haben wir einen großen Sieg errungen. Zur Feier lade ich sie ein. Ich kenne da ein hervorragendes Restaurant am Arbat. Schon mal im Praga gegessen?“ „Nein.“ „Gut. Sie werden es lieben.“ „Danke für das Angebot. Wenn sie erlauben möchte ich zuerst aber noch einmal in meinem Hotel vorbei.“

    Sie verließen das Gebäude und gingen in Richtung der Dreifaltigkeitsbrücke. Diese wurde normalerweise nur von Touristen frequentiert, doch angesichts der Lage auf dem roten Platz hatte die Polizei die Absperrungen an der Brücke entfernt, so dass auch Fahrzeuge sie passieren konnten, und schleuste alle Abgeordneten und Angestellten auf diesem Weg auf das Gelände oder wieder herunter. Der Südländer wollte zuerst zu einer der Taxen gehen, die dort bereitstanden, doch Maxim sage ihm auf seine übliche fröhlich-lautstarke Art: „Ich kümmere mich um meine Gäste. Kommen sie, ich fahre sie.“ Bei diesen Worten deutete er auf seinen Dienstwagen, bei dem sich einer seiner Leibwächter gerade vor das Steuer gesetzt hatte. Der Südländer lächelte und wandte sich vom Taxi ab. Als er auf den anderen Wagen zuging, lösten sich drei der Taxifahrer von ihren Fahrzeugen und machten vorsichtige Schritte hinter ihm her.

    Sie wirkten wie ganz gewöhnliche Männer, die sich dieser Tage zu hunderttausenden in den ärmeren Großwohnsiedlungen in den Randbezirken der Stadt drängelten, Zuwanderer aus den Kriegsgebeutelten Ländern in Zentralasien jenseits der europäischen Grenze, die vor dem Elend ihrer Heimat flohen. Für Moskau waren diese Leute Segen und Fluch zugleich, waren sie doch billige Arbeitskräfte, die die Stadt am Laufen hielten, verwandelten aber gleichzeitig die Vorstädte in kaum kontrollierbare soziale Brennpunkte, die den Frieden der Freidenkermetropole gefährdeten. Solche Männer und Frauen pendelten jeden Tag zu tausenden zum Arbeiten in die Innenstadt und wurden nicht mehr als ungewöhnlich wahrgenommen. Doch das Verhalten, das diese hier an den Tag legten, war nicht normal. Maxim und sein Freund bemerkten es nicht einmal, doch die Leibwächter reagierten sofort alarmiert. Einer von ihnen stellte sich den Männern in den Weg und fragte sie, was sie vorhätten.

    Ihr Verhalten schien in erster Linie dazu gedient zu haben die Reaktionen der Wächter abzuschätzen. Plötzlich war einer von ihnen mit einem Satz bei dem Wächter und rammte ihm ein Messer, das er verborgen getragen hatte, in den Leib. Der Stich war präzise gesetzt und binnen Sekundenbruchteilen tödlich. Die anderen beiden zogen Pistolen und gingen auf den Wagen los. Einer erschoss den zweiten Leibwächter, der zweite bedrohte die beiden Insassen. Sie setzten sich zu ihnen in den Wagen. Einer drückte den Daumen des toten Leibwächters noch einmal auf den Fingerabdruckscanner, der den Zündschlüssel ersetzte und warf ihn dann aus dem Fahrzeug. Der zweite setzte sich auf den Beifahrersitz und der dritte auf die Rückbank. Er drückte Maxim dabei seine Waffe in die Seite. Der Blick des Südländers huschte nervös zwischen den Männern hin und her und man konnte direkt sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Ein Blick auf die Waffen verriet ihm, wie sie durch die Sicherheitsschleusen gekommen waren: Pistolen aus Karbonfasern, Messer und wahrscheinlich auch die Kugeln aus Keramik. Nichts davon tauchte auf Metalldetektoren auf und zumindest Kugeln aus Keramik wären aus eben diesem Grund nach europäischem Recht illegal. Er entdeckte bei einem der Männer, wie sich die Haut im Nacken ein wenig abzulösen schien und darunter ein anderer Teint zum Vorschein kam. Ihm wurde klar, dass diese Leute keine Kleinkriminellen aus den Vorstädten waren. Was immer auch hier los war, es konnte für ihn nur Schwierigkeiten bedeuten.

    Die Entführer brauchten nur wenige Sekunden für ihren Coup. Doch trotzdem blieb er nicht unbemerkt. Pawel Klimow war zusammen mit zwei anderen Polizisten dabei gewesen einige Krawallmacher, die es irgendwie durch die Absperrungen geschafft und versucht hatten die geparkten Wagen der Abgeordneten in Brand zu stecken, durch den Kreml zu jagen, als sein Blick auf den Parkplatz fiel. Er beförderte den Kerl, den er sich gerade geschnappt hatte, mit einem wuchtigen Hieb bewusstlos aufs Pflaster und rannte los. Er erreichte den Parkplatz, als der Wagen sich gerade in Bewegung setzte und auf die Brücke auffuhr. Mit einem schnellen Griff zum Funkgerät gab er den Polizisten, die die Brücke bewachten den Befehl niemanden durchzulassen. Doch als er selbst hinter dem Wagen her lief, sah er, wie der Fahrer merklich Gas gab, die Schranke, die ihm die Auffahrt auf die Mochowaja versperren sollte, einfach durchbrach und die Polizisten hastig zur Seite sprangen. Wortlos verfluchte er den, der entschieden hatte, dass die Dienstwagen der Abgeordneten gepanzert sein sollten und rannte die Brücke hinunter. Am unteren Ende angekommen zückte er seine Zweitwaffe, die anstelle einer scharfen Kugel einen haftenden Peilsender im Lauf hatte, und schoss. Er verfehlte die Limousine nur knapp, während sie die Straße hinunter fuhr.

    Er wandte sich den anderen Polizisten zu, griff sich den ranghöchsten Anwesenden und sagte ihm: „Die Männer in diesem Wagen haben einen Abgeordneten und einen Zivilisten entführt. Wir brauchen sofort Unterstützung. Und schneiden sie denen die Fluchtwege ab.“ Der andere Beamte schien für ein paar Sekunden zu überlegen, dann sagte er: „Der schnellste Weg aus der Stadt… Lenin-Prospekt.“ „Machen sie auch alle anderen Ausfallstraßen dicht.“ Er drehte sich wieder um und rannte los, während der andere begann die Einsatzzentrale anzufunken. Die Entführer waren nach Süden gefahren, was angesichts der Straßenschlachten, die im Moment in Kitai-Gorod tobten, wohl auch die einzig logische Möglichkeit war. Knapp sechs Kilometer die Moskwa entlang, dann über den Fluss und auf den Prospekt, das war der schnellste Fluchtweg. Er war einige hundert Meter weit gekommen, als ein anderer Polizist auf einem Motorrad neben ihm seine Fahrt verlangsamte und ihm zuwinkte aufzuspringen. Mit einem grimmigen, doch zufriedenen Grinsen stieg er mit auf und der Mann beschleunigte wieder.

    Während sie die Uferstraßen entlangjagten, funkte Pavel die Einsatzleitung an und sagte: „Hauptquartier, wir brauchen die Position des Dienstwagens eines Abgeordneten der Duma.“ „Welcher?“ „Keine Ahnung. Ich hab ihn jedenfalls nicht gewählt. Kleiner und dicker Kerl mit Halbglatze. War hier mal irgendein hohes Tier für die EU.“ Die Frau am anderen Ende der Funkverbindung dachte kurz nach, dann fragte sie: „Maxim Anochin?“ „Möglich. Das Kennzeichen seines Wagens endete mit 796-RF.“ Er hörte kurz das Tippen von Fingern auf einer Tastatur, dann sagte die Frau: „Anochin. Sein Wagen hat keinen Peilsender, aber ich werde die Verkehrsüberwachung sein Nummernschild suchen lassen. Wir brauchen einen Moment.“ Fast drei Minuten später – sie überquerten, mehr auf Verdacht als Gewissheit hin, gerade die Moskwa auf Höhe des Gorki-Parks – meldete die Verkehrskontrolle sich bei ihnen. „Pavel Valeriowitsch, das gesuchte Fahrzeug bewegt sich im Moment den Lenin-Prospekt entlang nach Süden. Mehrere Einheiten sind unterwegs, um auf ihrem Weg Straßensperren zu errichten.“ Pavel verzog das Gesicht. Straßensperren auf einer der Hauptverkehrsadern der Stadt würden zu einem heillosen Chaos führen. Aber trotz allem war es der naheliegendste Weg. „Was haben wir an fliegenden Kräften im Einsatz?“ „Zwei Vögel mit Einsatzkommandos und acht Überwachungsflieger sind in der Luft.“ „Dann brauche ich diese Transporter sofort am Einsatzort. Wo sitzt ihre erste Straßensperre?“ „Höhe Panferova.“ „Dann werden sie vorher auf den Lomonosow-Prospekt ausweichen. Sie müssen die Sperren ausweiten. Und ich brauche einen ihrer Flieger in Richtung Osten.“

    Pavel befahl seinen Fahrer eine Abkürzung zu suchen, woraufhin dieser die Hauptstraßen nach Süden hin verließ und mit halsbrecherischem Tempo durch die deutlich engeren Straßen und Gassen des Universitätsviertels fuhr. Ohne größere Schwierigkeiten setzte er sich über Hindernisse, wie störende Mauern oder geparkte Fahrzeuge hinweg, lenkte sie einmal durch die Tunnel einer Metrostation und brachte sie bis zum Nakhimowski, dem Fortsatz des Lomonosow-Prospekts unweit der Universität. Auf der großen Straße staute sich der Verkehr in Folge der Sperre, die einige Polizisten gut zwei Kilometer weiter aufgebaut hatten, indem sie schlicht ihre Fahrzeuge quer über die Straße gestellt hatten. Die Straße war hier in beide Richtungen mehrere Spuren breit, so dass sie vom Motorrad aus nicht alles überblicken konnten. Pavel sprang also ab und lief in einer anderen vom stehenden Verkehr gebildeten Gasse weiter. Nach fast einem Kilometer sah er den Wagen und erkannte, wie die Insassen gerade ausstiegen. Er rief sofort alle Kräfte in der Nähe zu sich, zog seine Waffe und lief auf die Gruppe zu. Je einer der Entführer führte eines der Opfer vor sich her, während der dritte die Umgebung mit Blicken absuchte. Er erkannte Pavel, als dieser auf gut zwanzig Meter heran war. Der Polizist riss seine Waffe hoch und brüllte die Anweisung stehen zu bleiben, woran sich sein Gegenüber aber nicht eine Sekunde lang hielt. Statt dessen sprang er über die Abgrenzung in der Fahrbahnmitte und flüchtete zwischen den Fahrzeugen entlang.

    Pavel setzte den Männern nach. Er konnte zumindest die Gruppe mit den Entführten gut sehen, da der Abgeordnete ihr Tempo stark zu reduzieren schien. Der dritte Gangster hingegen schien verschwunden. Pavel wurde langsamer, sicherte immer wieder in alle Richtungen ab, befürchtete er doch der Kerl könnte versuchen ihm zwischen den Wagen aufzulauern. Eine Sorge, die absolut berechtigt war. Im allerletzten Moment hörte er Schritte hinter sich, fuhr herum und entdeckte seinen Gegner, der sich unter einem höher gelegten Wagen versteckt hatte, an dem er gerade vorbeigegangen war. Sie richteten beide ihre Waffen aufeinander, doch der Kriminelle war schneller. Er jagte Pavel zwei Kugeln in den Leib, die seinen Körperpanzer, der gegen alle zivilen Waffen schützen sollte, glatt durchschlugen. Beide Kugeln saßen dicht am Herzen, töteten ihn jedoch nicht sofort. Er fiel zu Boden und sein Kontrahent lief, ihn ausgeschaltet wähnend, hinter seinen Kumpanen her. Während Pavel im Schneematsch der Straße lag und ausblutete, war sein Blick zuerst, vor allem in Ermangelung anderer Optionen, verursachte jede Bewegung doch höllische Schmerzen, starr gen Himmel gerichtet. Seine Großmutter, eine fromme orthodoxe Christin, hatte ihm zum Glauben erzogen, so dass er für einen Moment erwartete ein helles Licht oder einen Engel, der seine Seele in den Himmel geleitete, zu sehen, doch da war nichts dergleichen. Nur eine Stimme, die mit jedem immer schwächeren Herzschlag lauter wurde.

    Eine Stimme, die ihn anschnauzte gefälligst aufzustehen und seine Pflicht zu tun. „Erspar der Welt so einen billigen Abgang“, brüllte sie. „Wer hat dir erlaubt zu sterben? Steh auf und mach weiter!“ Unschlüssig dachte er für einen Moment darüber nach, ob ihm hier nur eine Erinnerung an die Ausbilder auf der Polizeischule durch den Kopf geisterte, er einen Engel des Herrn hörte, oder sein von Adrenalin vernebeltes Unterbewusstsein ihn einfach nur am Leben halten wollte. Nach einigen Augenblicken entschied er, dass es egal war. Mit einem schmerzerfüllten Knurren und unter Aufbietung aller Kräfte, die ihm geblieben waren, stand er aus der Lache seines eigenen Blutes auf, die sich um ihn herum gebildet hatte, und suchte nach seinen Zielen. Er sah sie, wie sie gerade gut hundertfünfzig Meter weiter in einer Nebenstraße verschwinden wollten. Er legte seine Pistole auf sie an. Für einen Moment fürchtete er den Schuss mit seinen stark zitternden Händen zu verreißen, drückte dann aber trotzdem ab. Er erwischte den Kerl, der ihn angeschossen hatte, direkt am Hinterkopf und nagelte die anderen fest, indem er sein Magazin in schneller Folge leer schoss. In einer kurzen, aber heftigen Schießerei kassierte er noch einen weiteren Treffer an der Schulter, zerschoss selbst zwei Schaufenster und jagte einem glücklosen Moskauer zwei Kugeln in den Motor seines Wagens, schaffte es aber die Kerle an der Flucht zu hindern, bis er das erlösende Geräusch hörte: Die Triebwerke des Transportskimmers. Er sah den Flieger noch über den Entführern in Position gehen und sechs Beamte eines Spezialkommandos in voller Kampfmontur sich abseilen, dann brach er zusammen und hauchte seinen letzten Atem aus.

    Drei Tage später, Moskau:

    In einiger Entfernung konnte Elias Falkner die Ausläufer Moskaus sehen, das selbst in finsterster Nacht nicht schlief. Vielmehr erhellten die Lichter der Stadt die Hügel, auf denen sie erbaut waren, in einer schillernden Aura, als wollten sie jeden Reisenden daran erinnern, das die Agglomeration von Millionen auf solch engem Raum zu den größten Wundern zählte, die die Menschheit jemals vollbracht hatte, größer noch als die Pyramiden im Wüstensand Ägyptens oder gotische Kathedralen, wie Karl Marx einmal geschrieben hatte. Er rieb sich die Augen im Versuch die Müdigkeit abzuschütteln, die das monotone Surren des Elektromotors ihres Fenneks noch zu einem Schlaflied werden ließ. Als es nichts half, griff er zur Thermoskanne, die er unter seinen Sitz geklemmt hatte, und schenkte sich etwas von dem starken türkischen Kaffee darin in den Deckel ein. Während er trank, fragte Nikolai, der den Wagen auf der letzten Etappe steuerte, ihn: „Wer ist dieser Kerl, den wir abholen sollen?“ „Ich habe keine Ahnung. Laut Akte heißt er Rafael Alvear und arbeitet für ein Projekt, das bald auf Mura anlaufen soll.“

    „Was macht so jemand in Moskau?“ „Er war bei der Abstimmung der Duma über das Assoziierungsabkommen dabei. Er kannte einen der Abgeordneten aus Brüssel und wollte wahrscheinlich ein wenig die Werbetrommel für uns rühren.“ „Und wozu brauchen die uns?“ „Der Kerl hat sich entführen lassen, wurde gerettet und der MND bittet jetzt um Amtshilfe dabei ihn in Sicherheit zu bringen.“ „Warum dürfen wir dann über zwölf Stunden lang die wundervolle Landschaft rechts und links der Autobahnen dieses wunderschönen Landes bewundern? Wenn die Sache so brisant ist, hätten wir einen Skimmer nehmen sollen.“ Falkner schmunzelte und nahm noch einen Schluck Kaffee. Dann meinte er: „Ich kenne die Gründe des Generals nicht, aber ich vermute, dass jede Stunde, die wir auf der Straße sind, ihm etwas mehr Zeit gibt etwas herauszufinden. Die Umstände des ganzen scheinen recht unklar gewesen zu sein, so dass er Zeit schinden will. Außerdem soll es mir recht sein. Immerhin bringt es mich aus dieser elendigen Zelle heraus.“

    Nikolai lachte und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Das Team war nicht weniger froh Falkner wieder auf freiem Fuß zu sehen, als er es selbst gewesen war. Nach ihrem kleinen… Rencontre mit den Aschen war Falkner bei ihrer Rückkehr auf die Erde inhaftiert worden, warf man ihm doch vor durch sein Verhalten die Erde dem Risiko eines neuen großen Krieges ausgesetzt zu haben. Auch Informationen aus den Archiven von Mura, die bestätigt hatten, dass er eine wesentlich größere Gefahr abgewandt hatte, hatten ihm nicht die Freiheit gebracht. Vielmehr war er danach festgehalten worden, da er alles Vertrauen verloren hatte, dass er noch bei der Führungsspitze des Eurokorps besessen hatte. Die Vorstellung ein Offizier in seiner Position könne von dem Beeinflusst werden, was ein General des Feindes ihm in den Kopf gesetzt hatte, war Grund genug ihn festzuhalten. Maybourne hatte ihn zwar protegiert, jedoch nicht mehr erreichen können, als dass er nicht gleich aus dem Dienst entlassen wurde. Die versuchte Entführung Alvears – Europol vertrat die Auffassung, dass der Abgeordnete Anochin das Ziel gewesen war – hatte Maybourne schließlich einen Vorwand gegeben ihn zurück in den Dienst zu holen. Nach eigener Aussage hatte er einen Offizier gebraucht, dem er bedingungslos vertrauen konnte und der in keiner Weise mit Terra Nostra oder der russischen Mafia, den beiden Gruppen, die die Hauptverdächtigen waren, in Verbindung stand. Und Falkner hatte nicht vor ihn zu enttäuschen.

    Kurz vor der Abfahrt, die sie auf die große Ringautobahn um die Stadt führen sollte, griff Falkner zum Funkgerät und nahm Kontakt zu Julius auf, der den zweiten Fennek an der Spitze der Kolonne lenkte. „Feldwebel von Sachleben, nehmen sie den Fuß vom Gas. Wir übernehmen die Spitze.“ Julius bestätigte kurz, wobei Falkner glaubte im Hintergrund etwas zu hören, was wie „Highway to hell“ aus beinahe bis zum Anschlag aufgedrehten Lautsprechern klang, während Arya und Noe laut mitsangen. Er schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf und signalisierte Nikolai Gas zu geben. Sie überholten den zweiten Wagen und bogen nur wenige Minuten später auf die Ringautobahn ein. Über eine der Einfallstraßen ging es weiter zum Lubjanka-Platz, wo die Europol-Direktion für Moskau und Zentralrussland ihren Sitz in eben jenem Gebäude genommen hatte, das schon das Archiv des KGB und später den FSB beherbergt hatte. Sie stellten ihre Wagen vor dem Eingang ab und Nikolai und Falkner gingen zusammen mit Noé mit schnellen Schritten die Treppenstufen hinauf.

    Im Inneren des Gebäudes:

    Der Beamte, der an der Sicherheitsschleuse Nachtdienst schob, sah von seinem Kreuzworträtsel auf, als er die Personengruppe bemerkte, die vor den Schalter getreten war. Ein Mann aus der Gruppe legte ihm einige zusammengetackerte Zettel hin und sagte: „Major Falkner. Wir sind hier, um Rafael Alvear abzuholen.“ Der Beamte beugte sich vor und nahm sich die Dokumente. Er überflog sie und hielt sie unter den Sicherheitsscanner, um ihre Echtheit zu überprüfen. Alle Staatsdokumente der Union waren ab einer bestimmten Sicherheitsstufe in einem Mikrodruckverfahren mit Sicherheitsmarkierungen versehen, die gemeinhin als Fälschungssicher galten. Die Papiere wurden verifiziert. Er ließ sich noch einmal die Ausweise zeigen, dann gab er die Schleuse frei. Die Gruppe folgte seinen Anweisungen in einen Raum im ersten Stock, wo sie Alvear zusammen mit drei anderen Männern und einer Frau vorfanden. Die Frau drehte sich mit einem Schmunzeln zu einem der Männer und sagte mit finnischem Akzent: „Dann bin ich ihren Kandidaten hier ja endlich los. Ich habe ihnen schon gesagt, dass die Gespenster sehen, Alpatow. Der Abgeordnete war das Ziel.“ Der so angesprochene musterte die vier Männer, die gerade den Raum betreten hatten, für einen Moment und nickte dann, wobei ihm ein undefinierbares Lächeln im Gesicht stand. „Sie müssen Major Falkner sein“, sagte er zu ihrem Anführer. „Dann nehmen sie ihn mit. Wir lassen einen zusätzlichen Wagen vorfahren. Und richten sie General Maybourne meinen Dank für die prompte Hilfe aus.“ Nachdem die Gruppe mit dem Spanier verschwunden war, sah er zu seiner Kollegin vom Europol und meinte: „Zur Hölle, wer immer auch die sind, sie sind gut. Sagen sie ihren Scharfschützen bescheid, aber passen sie auf, dass Alvear nichts passiert.“

    Falkner und seine beiden Begleiter traten gerade in die Eingangshalle des Gebäudes, als ihnen eine Gruppe von Männern in Uniformen des Korps entgegenkam. Für einen Sekundenbruchteil reagierte er leicht verwirrt, hatte ihm doch niemand etwas von einer zweiten Einheit hier gesagt, dann bemerkte er den Ausweis an der Brusttasche des Anführers, auf dem ein verräterischer Name stand: Elias Falkner. Binnen eines Lidschlages hatte er seine Pistole gezogen und brüllte: „Hände auf den Kopf und runter auf den Boden!“ Die Männer machten keine Anstalten seiner Aufforderung nachzukommen. Stattdessen stürzte der vermeintliche Major Falkner sich wortlos auf ihn und seine Begleiter versuchten ihrerseits Waffen zu ziehen. Falkner machte einen Schritt zur Seite, der seinen Angreifer ins Leere laufen lassen sollte, doch der fiel nicht darauf herein. Er reagierte sofort, gab seiner Bewegung eine neue Richtung und setzte Falkner nach. In seiner Hand tauchte ein Teleskopschlagstock auf, dessen vorderes Ende aus flexiblem Federstahl mit einer schweren Metallkugel beschwert war. Er schlug damit nach Falkner und trat seine Unterarme, die er schützend vor den Kopf hochgerissen hatte.

    Die Wucht der Schläge riss ihm tiefe Furchen ins Fleisch, die aber kaum bluteten. Nicht umsonst hatte er viel intensives Training darin investiert seinen Körper unempfindlicher gegen Verletzungen zu machen. Er wich vor seinem Gegner zurück, testete mit ein paar schnellen Gegenschlägen seine Verteidigung aus und verlegte sich ansonsten auf das Parieren. Dann entdeckte er eine Lücke. Mit einer schnellen Bewegung schlug er den Schlagstock beiseite und rammte seinem Gegner fast gleichzeitig die zweite Faust gegen den Schädel. Dann hämmerte er ihn mit wenigen schnellen Schlägen zu Boden. In der Zwischenzeit hatten Noé und Nikolai die anderen drei Hochstapler über den Haufen geschossen. Nur der Mann, den sie hatten mitnehmen wollen, hockte zusammengekauert und vor Schreck wimmernd am Boden. „Rafael Alvear?“, fragte Falkner ihn. Er nickte und Noé half ihm auf. Dann kamen auf einmal mehrere Agenten unter der Führung von Alpatow, jeder gut bewaffnet, in die Halle gerannt. Sie hielten inne, als sie sahen, dass die Situation schon geklärt war, und Alpatow kam mit einem Grinsen auf Falkner zu. „Schön sie wieder zu sehen, Major. Ich hoffe man hat sie nicht zu gut ausgebildet.“

    Leicht ungläubig fragte Falkner: „Was?“ „Im Töten, meine ich. Es wäre sehr unangenehm, wenn wir keinen dieser Kerle mehr befragen könnten.“ „Keine Sorge. Der dort dürfte noch Leben. So heftig habe ich nicht zugeschlagen.“ „Sehr schön.“ Der MND-Agent ging neben dem ausgeknockten Mann in die Hocke und fingerte seine ‚Befehlsdokumente’ aus der Tasche. „Wenigstens hat das ganze uns eines verraten“, meinte er. „Und was?“ „Dass Terra Nostra nichts damit zu tun hat. Das hier ist mehrere Nummern zu groß für Andronikaschwilis Pleitetruppe.“ Er hielt das Dokument hin und erklärte, was zumindest den Beamten von Europol schon klar war: „Diese Papiere wurden von unseren Scannern als echt eingestuft. So was kriegt man nicht mit einem Kopierer oder Photoshop hin. Um unsere Mikrodruckverfahren zu fälschen muss man spezielle Maschinen im Wert mehrerer Millionen Euro entweder in die Finger bekommen oder nachbauen. Und ich kann nicht sagen, was davon schwerer ist. Außerdem haben diese Typen irgendwie erfahren, dass gerade sie unseren Mann abholen sollten, was so ganz nebenbei beweist, dass sie zumindest unsere Kommunikation infiltriert oder Agenten in unseren Reihen haben. Terra Nostra würde so etwas niemals hinbekommen.“ „Wer sind sie dann?“ Alpatow zuckte mit den Schultern. „Genau das müssen wir noch herausfinden. Nehmen sie Alvear mit und bringen sie ihn zu Maybourne. Er erwartet sie auf dem Flottenstützpunkt bei Nishnij Nowgorod. Wir eskortieren sie aus Moskau raus. Wenn sie schlau sind, bleiben sie danach die ganze Zeit in Bewegung.“

    Der Stützpunkt, von dem Alpatow gesprochen hatte, lag fast hundert Kilometer abseits der äußeren Ausläufer der Stadt in einem Waldgebiet, in dem ansonsten nur vereinzelte Bauerndörfer zu finden waren, von denen viele kaum noch Einwohner hatten. Das einzig andere Sehenswerte war ein altes Kloster, dessen Mönche aber die Abgeschiedenheit schätzten, so dass die Basis tatsächlich isoliert lag. Als hätte das Land graue Geschwüre geschlagen lagen die Gebäude der massiv befestigten Basis über die Waldlandschaft verteilt, die von Schnee bedeckt dalag, wie in einem Wintermärchen. Dabei war es nicht einmal das Erscheinungsbild der Gebäude, das den Eindruck einer Krankheit erweckten, sondern die kranken und verkrüppelten Bäume, die noch Jahrzehnte später unter den Nachwirkungen der Kriege gegen Systemlords und Ori litten. Es wurde gerne totgeschwiegen, doch die Triebwerke der frühen Kampfraumschiffe hatten giftige Strahlung und Rückstände abgesondert, die den Wald töteten. Die Amerikaner hatten es auf diese Weise geschafft fast zweihundert Quadratkilometer Waldland um ihren größten Kriegsraumhafen bei Anchorage herum zu entnadeln. Bei moderneren Schiffen war dieses Problem (angeblich) gelöst worden und insbesondere für zivile Schiffe galten hohe gesetzliche Standards, was die Verträglichkeit anging, aber das Land um die größeren Stützpunkte herum hatte sich immer noch nicht völlig erholt.

    Falkner und seine Leute trafen Maybourne in einem großen Hangar, den er von handverlesenen Männern aus dem STK hatte abriegeln lassen. Sie fuhren von den verschneiten und in der Nacht nur spärlich ausgeleuchteten Landebahnen direkt in die Halle hinein, wo der General an einem Feldtisch auf sie wartete. Zuerst musste Falkner blinzeln, um sich an das grelle Licht der Scheinwerfer in den Gebäude zu gewöhnen, dann trat er an den Tisch heran und salutierte mit seinen Leuten vor Maybourne. Dieser erwiderte den Gruß und sagte: „Ich bin froh zu sehen dass sie es geschafft haben, Major. Man hat mir schon von ihrem Auftritt in Moskau erzählt. Sie scheinen einigen Eindruck hinterlassen zu haben und wir haben jetzt jemanden, den wir ausquetschen können. Ich liebe es, wenn ein Plan so gut funktioniert.“ „Ein Plan, Herr General?“ Maybourne lachte und antwortete: „Was denken sie warum ich sie den ganzen Weg auf der Straße habe zurücklegen lassen? Wir wussten rein gar nichts über den Feind, also wollte ich ihm etwas Zeit geben zu reagieren und habe ihm etwas angeboten, das er für eine Möglichkeit halten musste an sein Ziel zu kommen.“ „Das heißt…“, murmelte Julius. „Ja, heißt es, Feldwebel. Und bevor wir etwas sagen: Wir waren gut abgesichert, auch wenn sie nicht etwas früher angekommen wären, als erwartet. Ich habe nicht über Jahre für diverse amerikanische Präsidenten die Schmutzarbeit erledigt, ohne dabei etwas zu lernen.“

    Falkner nickte. „Wie sieht ihr weiterer Plan aus, General?“ Maybourne seufzte. „Tja, hier wird die Sache schwierig. Tatsache ist nämlich, dass ich keinen habe. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass der Arm unserer Gegenspieler so weit reicht, wie sie es in Moskau demonstriert haben. Das wirft alle bisherigen Planungen über den Haufen. Ich kann im Moment nur wenigen Leuten vertrauen. Das macht uns verletzlicher, als ich es mir wünschen würde.“ Er rollte eine Karte auf dem Tisch aus, tippte mit seiner Behandschuhten Hand auf Paris und sagte: „Der ursprüngliche Plan sah vor Señor Alvear ins HQ des MND nach Paris zu bringen. Aber mein Instinkt sträubt sich mittlerweile ziemlich stark dagegen. Nur habe ich keine wirkliche Alternative im Angebot.“ Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Dann fragte Nikolai: „Falls die Frage erlaubt ist: Was könnte eine Gruppe mit solcher Macht von ihnen wollen, Señor Alvear?“ Der Spanier sah einmal zu Maybourne. Als der zustimmend nickte, bemühte er sich zu erklären: „Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich kann mir bestenfalls vorstellen, dass es mit meiner Arbeit zusammenhängt. Ich gehöre zu den Wissenschaftsteams, die die Archive auf Mura studieren sollen. Seit dem Verlust von Atlantis haben wir nicht einmal mehr annähernd einen solchen Wissensspeicher gefunden. Aber wir haben noch nicht einmal angefangen. Die Teams werden erst in einem Monat nach Mura gebracht.“

    „Sie sehen“, schnitt Maybourne ihm das Wort ab, „dass die Sache ernst ist. Wir können für begrenzte Zeit auf diesem Stützpunkt die Stellung halten, aber irgendwann ist das auch keine Lösung mehr. Ich lasse im Moment mögliche Rückzugsorte auf unseren Toraußenposten überprüfen. Wenn wir unseren Schutzbefohlenen lange genug dem Zugriff unserer Gegner, wer immer sie auch sein mögen, entziehen, geben sie im Zweifel auf. Bis dahin…“ „Herr General“, erhob Noé das Wort, „wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?“ „Raus damit.“ „Triton, Herr General. Es gibt kaum einen besseren Ort zum Abtauchen, als die Auffanglager.“ Maybourne dachte für einen Moment nach. Dann fragte er: „Sie kommen von dort, nicht wahr?“ Sie nickte. „Sehen sie eine Chance jemanden dort zu verstecken?“ „Niemand hat wirklich einen Überblick darüber, was in den Slums passiert. Ich könnte außerdem mit ein paar alten Bekannten sprechen…“ „Gut. Die Idee gefällt mir. Bereiten sie alles vor. Ich organisiere ihnen unauffällig ein Schiff. Sie fliegen in zwölf Stunden. Weggetreten.“ Die Gruppe zerstreute sich. Nur Falkner blieb noch einen Moment lang stehen. „General, das gefällt mir nicht. Es wäre in so einer Schlangengrube schon schwer genug unsere eigene Sicherheit zu garantieren. Aber wenn wir noch auf Alvear aufpassen müssen, sehe ich schwarz.“ „Dann hören sie damit auf. Die Idee ist großartig. Wer immer auch gegen uns spielt, wird mit so einem Zug nicht rechnen. Im Moment ist er im Vorteil. Er hat Macht, Einfluss und genug Leute, dass der Verlust eines Teams nicht schmerzt. Aber so kann ich das Spielfeld komplett leer räumen und selbst die Regeln bestimmen. Ich habe da einen Plan für Triton. Hören sie zu…“
    Geändert von Protheus (27.11.2009 um 01:34 Uhr)
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  2. #22
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    Einige Zeit später, Boston:

    Abraham Kinsey ließ seinen nervigen Leibwächter auf dem Flur stehen und verschloss die polierte Edelholztür energisch hinter sich. Er lehnte sich für einen Moment von innen dagegen, atmete ein paar Mal durch und lächelte ebenso breit, wie zufrieden. Was für ein Fest. Er war am Ziel. Er hatte den Gipfel gestürmt. Vier Stunden war es jetzt her, dass er vor seinen Anhängern in der Lobby eines Hotels unweit des Parlamentsgebäudes gestanden hatte und ihnen zugerufen hatte: „Heute ist ein großer Tag für die Allianz! Wir haben gewonnen!“ Ja, sie hatten gewonnen. Mit verdammten dreitausend Stimmen Vorsprung hatte er Crocodile Dundee bei der Präsidentschaftswahl auf den Platz verwiesen, der ihm zustand: Irgendwo unter ihm. Kein Zweifel, das irgendein Spielverderber die Rechtmäßigkeit der Wahl anzweifeln würde – irgendein marxistischer Spinner, der einen verlogenen Dokumentarfilm darüber drehen würde, würde sich sicherlich finden – aber das würde nichts mehr daran ändern, dass in einer Woche die Vereidigung sein würde. Leise murmelte er „Ja!“, wiederholte es noch zwei, drei Mal. Er hatte es geschafft.

    Plötzlich hörte er ein Geräusch in der dunklen Wohnung. Im schwachen Licht, das aus der hell erleuchteten Stadt durch die Fenster fiel, konnte er zuerst nichts zu erkennen, so dass er vorsichtig einige Schritte zur Seite machte, um zum Lichtschalter zu gelangen. Für einen Moment dachte er darüber nach den Leibwächter herein zu rufen, entschied sich dann aber dagegen. Er wedelte mit der Hand einmal über den Bewegungsmelder, der den Schalter ersetzte, und das Licht wurde hochgedimmt. Er sah eine Frau, die mit angewinkelten Beinen auf seinem Sofa saß und ihn anlächelte. Sie raunte „Glückwunsch zur Wahl“ und er ging mit einem Lächeln zu ihr. Sie zog die Knie ein wenig mehr an, um ihm Platz auf dem Sofa zu machen und deutete auf die Champagnerflasche, die in einem Eiskübel auf dem Tisch stand. Kinsey zog die Flasche heraus, stellte mit einem Blick auf das Etikett zufrieden fest, dass es sich um Dom Pérignon eines sehr guten Jahrganges handelte und entkorkte sie. Als er damit fertig war, hielt die Frau ihm zwei Kristallgläser hin. Während sie tranken, schielte er immer wieder zu ihr hinüber. Es war einer dieser Momente, in denen es ihm schwer fiel zu glauben, dass die Frau, die (wenn sie denn wollte) fähig war schon in die Andeutung einer Geste mehr Erotik zu legen, als jedes Mädchen der teuersten Escort-Agenturen Nordamerikas, die Hohepriesterin der Nuelisten war. Sie sprachen ein wenig über die Wahl, doch ihre Blicke versprachen mehr, als nur belanglose Konversation. So dauerte es nicht lange, bis sie zum eigentlichen Teil des Abends übergingen.

    Als Kinsey wieder aufwachte, verriet ihm ein Blick auf seinen Wecker, dass es schon fast vier Uhr früh war. Er tastete mit seiner rechten Hand auf die andere Seite des Bettes, fand aber nichts. Also drehte er sich auf den Rücken und sah sich um. Sie lag nicht mehr neben ihm, sondern saß auf dem Stuhl des Tisches, der mit im Raum stand. An Kleidung hatte sie keinen Gedanken verschwendet, so dass sich sofort wieder ein Lächeln auf Kinseys Gesicht einschlich. Sie war vermutlich schon näher an den fünfzig, wenn nicht sogar fünfundfünfzig dran, als an den vierzig, hatte sich aber körperlich gut in Form gehalten und sah in Natura um einige Jahre jünger aus, als in den Medien. Erfahrungsgemäß hofften viele Leute in Fragen des Seelenheils auf so etwas wie Altersweisheit vertrauen zu können, so dass sie wahrscheinlich Bilder von sich retuschieren ließ, um die Folgen lebensverlängernder Medizin zu kaschieren. Trotz ihrer guten Form entsprach sie nicht im Geringsten seinem üblichen Beuteschema (nicht zu schlau, attraktiv und nicht älter als 25) und hätte man ihn vor ihrer ersten Begegnung gefragt, ob er diesen Typus Frau auch nur eines Blickes würdigen würde, hätte er nur spöttisch gelacht. Tatsächlich hatte sie zuerst auch versucht ihm eine junge und attraktive Gläubige oder Angestellte – wo die Grenzen zwischen Glaubensgemeinschaft und profitorientiertem Großkonzern kapitalistischer Prägung in einem Maße verschwammen, wie bei den Nuelisten, war das schwer zu unterscheiden – ins Bett zu legen. Nachdem sie aber erkannt hatte, dass er mit seinem Gespielinnen nur über dienstliches Plauderte, wenn er mit einer seiner Sekretärinnen schlief, schien sie die Angelegenheit zur Chefsache erklärt zu haben und – Gott segne Amerika – diese Frau wusste, wie man einen Mann zum Schwitzen brachte.

    Sie sah ihn recht ausdruckslos an und sagte: „Na, wieder wach?“ Er ließ sich mit einem genüsslichen Laut in die Kissen sinken und sagte: „Ist das nicht offensichtlich?“ „Nicht unbedingt. Bei dir scheint es da manchmal Zwischenstadien zu geben.“ „Wie könnte ich bei so einem himmlischen Anblick einschlafen? Was würdest du dazu sagen heute Nacht noch ein zweites Mal Spaß zu haben?“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Ich würde sagen, dass da jemand nicht zählen kann. Konzentrieren wir uns für einen Augenblick. Ich habe eine wichtige Angelegenheit zu besprechen.“ Kinsey lachte in sich hinein. Dieser Augenblick hatte unwillkürlich kommen müssen. Hin und her gerissen zwischen dem Verlangen sich demonstrativ auf die Seite zu drehen und weiter zu schlafen und Neugierde auf ihr Ansinnen sagte er: „Ich kann mir vorstellen, dass es sich lohnt den Präsidenten der Allianz zu beeinflussen. Ich bin aber noch nicht auf dieses Amt vereidigt.“ „Du kannst mir auch als Verteidigungsminister helfen. Ich brauche Informationen zum Aufenthaltsort einer bestimmten Person.“ „Du oder deine Kirche?“ Sie zuckte mit den Achseln. „Das eine gibt es nicht ohne das andere.“

    „Für mich macht das aber einen Unterschied. Ich werde von Katholiken gewählt. Und solange die darauf hoffen, dass ich Ketzereien wie dein als Kirche getarntes Unternehmen für gefälschte Wunder und salbungsvolle Worte bekämpfe, ist es besser, wenn ich wenigstens versuche so zu tun, als würde ich euch alle hassen.“ Sie lachte. Es klang kalt und nicht besonders humorvoll. „Das dürfte dir nach dem letzten halben Jahr schwer fallen. Außerdem dürften Katholiken in einem Bund von fünf streng protestantischen Staaten kein allzu großes Wählerpotential haben.“ „Wähler? Wen interessieren die Wähler? Du weist genauso gut wie ich, dass die bei der Präsidentschaftswahl nichts zu sagen haben. Aber meine wichtigsten Wahlkampfspender sind überzeugte Katholiken und Anhänger eines Papstes, der euch als schlimmste Ausdrucksform einer in extremer Profitgier entarteten Gesellschaft geißelt. Ich muss also vorsichtig sein.“ „Dann werte das ganze als reinen Freundlichkeit mir gegenüber. Außerdem biete ich eine Gelegenheit Harrold Maybourne auf die Füße zu treten. Und ich hatte den Eindruck, dass ihr euch nicht besonders gut versteht.“ Nur mit Mühe konnte er sich ein hämisches Grinsen verkneifen. Sie war ein gerissenes Biest und gab nicht ein einziges unüberlegtes Wort von sich. Sie hatte den Eindruck? Wohl kaum. Wenn sie sich mit jemandem traf, wusste sie besser über die betreffende Person bescheid, als sie selbst. Es war nur taktisch unklug jemandem das einfach unter die Nase zu reiben. Schließlich seufzte er und fragte: „Um wen geht es?“ „Der Mann heißt Rafael Alvear. Wir haben seine Spur vor zwei Tagen verloren.“

    Im hohen Orbit von Triton:

    Julius kramte im Spind, der vor ihm in die Wand eingelassen war und sang dabei ein Lied.

    „… now every man may walk his road in peace
    For all are free!

    Two thousand years ago a million men
    Were gathered into royal Egypt's land
    Were bound together, forced to build
    Pyramids of stone in desert sand

    But these are more enlightened days
    No room for all these savage ways, leave them, let them go
    Now every man …“

    Schritte neben ihm ließen ihn innehalten. Als er sich umsah, fiel sein Blick auf Arya, die bis auf einige Schritte an ihn herangetreten war und ihn nun an die Wand gelehnt beobachtete. Als er aufhörte zu singen, fragte sie: „Was ist das für ein Lied?“ „Ein altes Lied, das wir in Südamerika immer gesungen haben. Keine Ahnung wer es geschrieben hat.“ „Du wirkst so nachdenklich, wenn du es singst. Hängen viele Erinnerungen dran?“ Er schmunzelte und nickte. Erinnerungen, gute wie schlechte, die sich in diesen Worten noch einmal zu manifestieren schienen. „Einer meiner Freunde hat es als Antwort auf die Parolen der Propagandamaschine der Diktatur ausgekramt. Es zeigt, wie absurd und leer die Freiheitsversprechungen waren, die sie dem Volk gemacht haben.“

    Er schwieg für einen Moment, in dem er sich ein Hemd aus dem Spind suchte. Dann fuhr er fort: „Ich versuche nicht allzu oft daran zu denken. Irgendwie scheinen die Gesichter jedes Mal verschwommener zu werden. Aber dieser Auftrag lässt viel wieder hochkommen.“ Lächelnd fügte er noch hinzu: „Vielleicht sind es einfach nur diese Fetzen, die sie uns verpasst haben.“ Tatsächlich hatte die abgewetzte Kleidung, die man ihnen für Triton gegeben hatte – kaum mehr als billige Dutzendware im Military-Look – mehr mit der Aufmachung gemein, die man von einer verschworenen Bande von Rebellen erwarten würde, als mit den Uniformen des Korps. Doch letztlich fügte es sich halbwegs in die hastig entworfene Legende ein, die den Eindruck einer getarnten Operation erwecken sollte. Julius begann wieder leise zu singen:

    “Mary's son walked through a land of woe
    Dreaming of the world as it could be
    But the good and lawful men of Rome
    Bound him like a robber to a tree”

    Als er wieder zum Refrain ansetzte und sich das Hemd überzog, löste Arya sich von ihrer Position. Für einen Sekundenbruchteil hatte Julius den Eindruck, dass ihr Blick noch einen Augenblick auf seinem Oberkörper verharrt war. Er sah ihr hinterher, als sie auf die andere Seite des Raumes ging und sich an ihrem eigenen Spind zu schaffen machte. Ihr Gang war eindeutig lasziver, als wenn sie ihre Uniform trug. Er dachte kurz nach, schüttelte dann aber den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Sie waren einander in letzter Zeit näher gekommen, aber seine Lebenserfahrung, die sehr viel umfangreicher war, als man es bei einem Mann seines Alters erwarten mochte, ließ ihn davor zurückschrecken zu enge Bindungen zu den anderen Mitgliedern des Teams einzugehen. Zumal sie regelmäßig gemeinsam ihr Leben aufs Spiel setzten, was so oder so schon eine Form der Intimität mit sich brachte, die kaum zu toppen war.

    Er verschloss den Spind wieder, nachdem er noch ein paar Kleinigkeiten herausgenommen hatte, und ging zum Waffenschrank, gut drei Meter weiter. Er lächelte zufrieden, als er ein Maschinengewehr des Typs PK 22 (Benannt nach dem Jahr seiner Einführung, 2022), hervorholte. Die Waffe war eine Weiterentwicklung des russischen MG PK und in den Händen vieler Rebellengruppen oder Söldnereinheiten auf der Erde zu finden, auch wenn die wenigsten dieser Waffen tatsächlich noch aus Russland stammten. Vielmehr warf eine ganze Reihe von Herstellern in Niedriglohnländern Kopien auf den Markt und bediente sich des berühmten Namens, um ihre Machwerke zu bewerben (Eine AK149 wurde als Kalaschnikow 49 verscherbelt, selbst wenn sie in Bangladesh oder Angola hergestellt worden war). Er besah sich die offenbar noch jungfräuliche Waffe kurz, konstatierte dann „Zu sauber“ und begann mit dem Messer Kratzer darauf zu fabrizieren, die den Anschein von Gebrauchsspuren erweckten. Von seinem seltsamen Treiben, das in erster Linie dazu dienen sollte in den Slums tatsächlich die Beabsichtigte Wirkung zu erzielen, wenn er diese Waffe zeigte, offenbar leicht belustigt fragte Arya: „Was hältst du von unserem Auftrag?“

    „Ich weis nicht so recht. Mir gefällt nicht, wie wir hier zur Zielscheibe gemacht werden. Es ist eine Sache einfach in einen Kampf zu ziehen. Aber auf diese Weise einen Angriff zu provozieren…“ Sie nickte. Ihr Auftrag erschien auf den ersten Blick tatsächlich etwas hirnrissig. Maybourne hatte ihnen ein altes Schiff besorgt und eine Tarnung als Söldnertruppe aufgebaut, unter der sie nach Triton fliegen sollten. Nur dass der Gegner dieses Manöver durchschauen und sich an ihre Fersen heften sollte. Er sollte die Tarnung für einen hastigen Versuch halten die Zielperson zu verstecken, was sie auch gewesen wäre, hätte nicht eine andere Intention dahinter gestanden, und so aus der Reserve gelockt werden. „Ich verstehe was du meinst. Aber glücklicherweise nimmt Maybourne uns in seiner unermesslichen Güte diese Erwägung ab und sagt uns, wo es langgeht.“

    Julius wollte gerade zu einer entsprechenden Erwiderung ansetzen, als sich eine der Türen öffnete und Alvear zusammen mit Noé hereinkam. Der Spanier rieb sich dabei die rechte Schulter und wirkte nicht minder nervös, als Julius und Arya es waren. Während Noé sich ebenfalls in ihre Söldneruniform schmiss, meinte Alvear: „Ob es wohl zu spät ist noch zu kündigen?“ Amüsiert fragte Julius: „Was meinen sie?“ „Meine Begeisterung für die Arbeit auf fremden Welten hat in den letzten Tagen einen heftigen Dämpfer verpasst bekommen. Ich hätte eben nicht auf Zalenka hören sollen. Da draußen gibt es noch Abenteuer, hat er gesagt. Ich sag ihnen was: Man sollte niemals einem schon mit einem Fuß im Grab stehenden Physiker trauen, der zu nichts anderem mehr gut ist als auf Konferenzen Eröffnungsreden zu halten. Insbesondere dann, wenn sie nicht begriffen haben, dass dieses ominöse Früher, von dem immer die Rede ist, wenn jemand von guten alten Zeiten spricht, vorüber ist. Aber ich hab mich von seinen Geschichten einwickeln lassen und werde jetzt in irgendwelche Schießereien verwickelt werden.“ „Vergessen sie’s“, wandte Arya ein. „Bei Feindberührung halten sie den Kopf schön unten und überlassen den Rest uns. Alles was sie tun müssen ist sich zum Richtigen Zeitpunkt entführen lassen.“ Er verzog verächtlich das Gesicht. „Ich hasse es zur Untätigkeit verdammt zu sein.“

    Julius trat neben ihn, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und sagte: „Wenn sie etwas tun wollen, beten sie, dass wir oder die anderen Jungs, die Maybourne schicken wollte, sie rechtzeitig wieder finden.“ „Daran wird es nicht scheitern“, warf Noé ein. „Ich hab ihn gechipt. Ein niedlicher Peilsender direkt unter das rechte Schulterblatt. Das Ding ist leistungsstark und hat über 20 Kilometer Reichweite.“ (Was sie dabei dezent verschwieg war die Tatsache, dass dieses Wundergerät eigentlich von Wildhütern für frei lebende Tiere in den Naturparks Sibiriens benutzt wurde.) In diesem Moment kamen Falkner und Nikolai in den Raum. Beide trugen bereits ihre Söldnermontur. Während der Russe sich daran machte ihre Waffen aus dem betreffenden Spind zu nehmen, sagte Falkner: „Zuhören. Wir landen in knapp einer halben Stunde. Der Pilot wird sofort wieder starten. Schafft die Ausrüstung also in den Wagen. Haltet da unten die Augen offen und behaltet vor allem einen kühlen Kopf. Das letzte, was wir brauchen, ist eine Schießerei mit irgendeiner Gang, weil irgendjemand sich schief angeschaut gefühlt hat. Und ich will, dass immer jemand ein Auge auf unseren Schützling hat. Dann bringen wir die Sache sauber über die Bühne.“

    Kurz darauf setzte das Schiff, ein ausrangiertes alliiertes Landungsschiff, dass der MND für seine Zwecke modifiziert hatte, auf einem Landefeld am Rande des Auffanglagers Triton auf. Das ST-Team machte sich von hier aus auf den Weg in die Siedlung. Diese lag in einem höher gelegenen Bereich, wo das Gestein, aus dem der Neptunmond bestand, unter der Eiskruste zum Vorschein kam, die einen Großteil der Oberfläche bedeckte. Falkner spürte sobald sie die künstliche Schwerkraft des Schiffes verlassen hatten sein eigenes Gewicht, das ihn in den Beifahrersitz des Geländewagens gedrückt hatte, kaum noch. Den anderen schien es ähnlich zu gehen, was er daran merkte, dass Nikolai die Stirn etwas nervös in Falten legte und Arya auf ihrem Sitz herumzurutschen begann. Sie waren zwar schon auf einigen Fremdwelten gewesen, doch auf denen hatten zumeist ähnliche Schwerkraftverhältnisse geherrscht, wie auf der Erde. Triton hingegen hatte nur einen Bruchteil der Masse des blauen Planeten und die Fallbeschleunigung, die laut jenen Gedankenkonstrukten, die man als Newtonsche Axiome bezeichnete und die die Angewohnheit hatten sich mit jedem Gedanken, den man auf sie verschwendete, als komplexere Gebilde zu entpuppen, in Multiplikation mit der Masse eines beschleunigten Körpers die der Beschleunigung gleichgerichtete Schwerkraft ergab, betrug nur knapp ein Zwölftel des Erdstandards. Lediglich Noé schien an diesen Verhältnissen nichts Absonderliches zu finden. Sie starrte nur wortlos aus dem Fenster und streichelte sacht mit einer Hand über ihre Maschinenpistole.

    Als sie Ausläufer der ‚Siedlung’, einer Ansammlung größtenteils nur halbfertiger Gebäude, die irgendwie provisorisch anmuteten, dicht beieinander standen und allen Dreck in die schmalen Gassen, die wohl Straßen sein sollten, zwischen sich kanalisierten, wo er in offen liegenden Rinnsalen langsam abfloss, erreichten, sagte sie auf einmal: „Dort gleich links rein.“ Sie lotste die Gruppe in einen der schon besser konsolidierten Teile der Ortschaft, wo die Häuser schon höher gebaut, die Straßen etwas sauberer und die Bewohner nicht gezwungen waren neben einer Kloake zu schlafen. Dort signalisierte sie Nikolai vor einem der Häuser durch kurzes Klopfen auf die Lehne des Fahrersitzes anzuhalten und sprang aus dem Wagen, noch bevor dieser ganz angehalten hatte. Mit irgendwie federnd wirkenden Schritten, als habe sie Mühe ihre auf der Erde und im militärischen Training angeeignete Kraft hier unter Kontrolle zu halten, lief sie auf eines der Häuser zu, vor dem eine alte Schwarze – das Geschlecht war aufgrund der kauernden Körperhaltung und der dicken Kleidung (In der Siedlung war es arschkalt) erst auf den zweiten Blick zu erkennen – auf einer Bank saß und das Treiben auf der Straße beobachtete. Noé trat vor sie und schien sie zu begrüßen. Dann sahen die im Wagen verbliebenen nur, wie sie die dürre alte Frau umarmte und für einen Moment in den Armen wiegte. Dann schien sie ihr etwas zuzustecken und kam zurück. „Irgendetwas wichtiges?“, fragte Falkner, doch sie winkte nur ab. „Ich musste nur wissen, wie es ihr geht. Das ist alles.“

    Während sie weiter fuhren – dieses Mal in eine der deutlich schlechteren Gegenden, die für ihren Plan ein geeigneteres Umfeld bot, schwieg sie die ganze Zeit über, bis Julius schließlich fragte: „Gibt es eine Geschichte dahinter?“ „Vielleicht. Aber die wollt ihr nicht hören.“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann hätte ich nicht gefragt, oder?“ „Stocherst du immer so in der Vergangenheit anderer Menschen?“ „Nur wenn ich das Gefühl habe, dass sie etwas zu erzählen haben. Aber dann kann ich ein verdammt penetrantes Individuum sein.“ Noé schmunzelte und resignierte schließlich. „Also gut. Aber erzähl mir zuerst etwas von dir.“ „Das würde aber eine lange Geschichte. In der Kurzfassung gibt es eine Menge Leichen im Fundament meiner Jugend. Ich hatte niemanden davon persönlich umgebracht, wusste aber, dass sie da waren und es hat mich einen Dreck gekümmert, bis ich dann eines Tages kapiert habe, wie erbärmlich diese Existenz gewesen ist. Danach habe ich mir meinen Eigenen weg gesucht und bin irgendwann hier gelandet.“

    „Klingt interessant. Du musst mir mal die lange Version erzählen.“ Er grinste schelmisch. „Gerne.“ Mit einem Nicken meinte sie: „Dann bin ich jetzt wohl dran. Das hier“, sie machte eine Geste, die alles um sie herum einschloss, „ist Triton, die Stadt der Vergessenen. Jeder hier ist ein Überbleibsel der großen Schande dieses Jahrhunderts, in der die Erde ihre grenzenlose Doppelzüngigkeit bewiesen hat: Ganymed. Die Blauhelme haben damals vier Millionen Sklaven ‚befreit’, wie man es heute so gerne nennt, und sie danach ihrem Schicksal überlassen. Wer Glück hatte, landete schließlich hier. Ich gehörte dazu. Aber ich war mehr Täterin, als Opfer.“ Sie schwieg für einen Moment, betrachtete die Straße, bevor sie weitersprach.

    „Mein Vater… Nein, es wäre wohl passender von meinem Erzeuger zu sprechen, gehörte zu den Verwaltern der Fabrikanlagen auf dem Sklavenmond. Er war einer von denen, die berechnet haben, wie viel man den Arbeitern zu essen geben sollte, um die Unterhaltskosten möglichst niedrig zu halten, ohne die Produktion zu beeinflussen, einer von denen, die festlegten, wie viele Stunden täglich welche Altersgruppen arbeiten konnten und darüber nachdachten, wie man bei Arbeitsunfällen den Betrieb störungslos weiterführen konnte. Für ihn waren diese Leben nur Zahlen. Er hatte sich selbst zu einem Rädchen in jenem Getriebe machen lassen, dessen einziges Ziel es war die Arbeit am Laufen zu halten, und den Profit des Konzerns zu maximieren. Wenn ich heute versuche mich an ihn zu erinnern, kommt mir nur noch in den Sinn, mit wie viel Stolz er über seine Arbeit sprach. Er starb während der Kämpfe. Seine Frau wurde verhaftet und auf der Erde vor Gericht gestellt. Als sie sie holten, versteckte ich mich. Ich hatte einfach zu viel Angst, als die Weltordnung um mich herum zerbrach. Ein paar Tage später verließ ich mein Versteck. Europäische Blauhelme hatten die Gegend besetzt. Ich starb fast vor Hunger, also stahl ich Essen und Wasser von ihnen. Das ging ein paar Tage lang gut, bis ich eines Tages versuchte etwas von den Rationen zu klauen, die die befreiten Sklaven bekommen hatten. Dabei erwischte Imani mich.“ „Imani?“ „Eine Sklavin aus Kenia. Eine Kikuyu. Ich hatte in diesem Moment schreckliche Angst vor dieser ausgezehrten Frau, die mich mit großen Augen ansah. Man hatte mir immer gesagt, dass die Sklaven sofort jeden töten würden, der über ihnen stand, würden sie einmal frei gelassen. Aber Imani gab mir einfach etwas zu Essen, nahm mich in den Arm und akzeptierte ohne Fragen zu stellen, die Verantwortung für mich zu sorgen. Mit ihr bin ich hier her gekommen, als sie anfingen einige der Befreiten umzusiedeln. Sie hat mich aufgezogen.“

    „War sie diese Frau?“ „Nein. Imani ist gestorben. Ein halbes Jahr, bevor ich von hier weg bin. Die Frau, mit der ich gesprochen habe, ist die älteste der Kikuyu hier. Eigentlich aller Bantu auf diesem Mond. Sie hat es mir damals übel genommen, dass ich einfach so gegangen bin. Ich musste sie einfach noch einmal wieder sehen.“ Julius nickte und bedankte sich für Noés Offenheit. Kurz darauf erreichten sie die nördlichen Ausläufer der Siedlung, wo sie ihren Coup durchziehen wollten. Noé führte sie zu einer Bar, wo sie ihrer Aussage nach einige Leute treffen würden, die ihnen nützlich sein konnten. Als sie aus dem Wagen ausstiegen, fragte Nikolai: „Das hier ist doch eine Kolonie der EU. Warum sieht es hier aus, wie in Mogadischu, nachdem ein Rohstoffkrieg und ein Wirbelsturm drüber weg gerollt sind?“ Noé antwortete: „Die Frage habe ich auch mal gestellt. Ein Schreibtischtäter hat versucht es mir so zu erklären: Laut irgendeinem internationalen Abkommen darf seit 2024 im Sonnensystem niemand mehr dauerhafte Niederlassungen ohne UN-Mandat gründen. Deshalb sind auch der Wasseraufbereiter und der Atmosphärenschild die einzigen halbwegs dauerhaften Infrastrukturmaßnahmen, die hier getätigt wurden. Alles andere haben die Bewohner in Selbsthilfe oder mit Unterstützung von zivilen Hilfsorganisationen gebaut. Aber ich glaube, dass der Grund ein anderer ist.“

    „Und welcher?“ „Das hier sollte ein Übergangslager sein, von dem aus die Leute auf die Kolonien umgesiedelt werden sollten. Die ganze Welt hat nach dem Konzernkrieg keine zehntausend Sklaven aufgenommen. Die EU hat als einzige Macht etwas getan, aber die haben auch nur eine halbe Million Leute auf die Kolonien geschickt. Wer hier geblieben ist, hat sich geweigert sich sonst wohin schicken zu lassen und wollte zurück auf die Erde. Dorthin lässt man sie nicht. Dort wären sie unbequem. Sie könnten Reparationen fordern und die Welt zwingen sie mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass fast jede größere Organisation, ob nun staatlich oder privat, zwischen ’16 und ’26 von der Sklaverei auf Ganymed profitiert hat, ohne Fragen darüber zu stellen, wie die Konzerne so billig produzieren konnten. Und weil jede Menschenrechtsorganisation zwischen Reykjavik und der Beringstraße Zeter und Mordio schreien würde, wenn man sie zwangsweise umsiedelt, versucht man es ihnen hier einfach nur so schwer wie möglich zu machen, damit sie freiwillig gehen. Klappt nicht besonders gut, aber der bürokratische Apparat ist hartnäckig.“

    Der Russe gab sich mit dieser Erklärung zufrieden und betrat zusammen mit den anderen die Bar. Es war ein stinkender Raum, in dem der Wirt nur die Tische und seine Theke notdürftig sauber zu halten schien. Einige junge Leute spielten an einem Billardtisch Pool, Rockmusik dröhnte aus einem halb zerfallenen Radio und an den meisten Tischen waren wenig vertrauenserweckende Gestalten eifrig dabei sich zu betrinken. Arya und Noé waren etwas voraus gegangen und zumindest die Halbinderin hatte sofort alle Blicke auf sich gezogen. Anders als die hier meisten aufgewachsenen jungen Leute, die in der niedrigen Schwerkraft lang, schlaksig und nicht besonders kräftig geworden waren – die meisten hätten sich unter Erdschwerkraft nicht vernünftig bewegen können – war sie unverkennbar auf einer Normalschwerkraftwelt aufgewachsen und besaß körperliche Rundungen, die den meisten Frauen hier fehlten. Auch Noé, die erst mit zwölf Jahren nach Triton gekommen war, hatte nur wenig vom Schlangenartigen Körperbau der hier aufgewachsenen. So verwunderte es nicht, dass viele der jungen Männer hier sie einfach nur lüstern anstarrten und den drei anderen Soldaten, die Alvear in ihre Mitte genommen hatten, keine Beachtung schenkten.

    Die beiden Frauen setzten sich an die Bar und ließen sich vom Wirt etwas zu trinken geben. Während viele Männer sie weiter unvermittelt anstarrten oder anfingen aufgeregt mit ihren Tischnachbarn zu flüstern, reagierte einer gänzlich anders. Er war knapp zwei Meter zwanzig groß und sein martialisches Auftreten machte klar, dass er der am lautesten kläffende in diesem Käfig voller Straßenköter war. Er trat mit wütendem Gesichtsausdruck an die beiden heran sprach die beiden auf Swahili an, was Falkner nur dank ihrer Übersetzer verstehen konnte. Noé antwortete ihm in derselben Sprache. {„Das du dich hier noch mal blicken lässt… Du weist doch, dass wir noch eine Rechnung offen haben.“} {„Reg dich ab, Jelani. Ich bin nicht hier um Streit anzufangen. Ganz im Gegenteil: Es könnte sich für dich lohnen.“} {„Ich denke nicht.“} Sie seufzte. Obwohl er gut zweieinhalb Köpfe größer war als sie, war sie nicht um mindesten eingeschüchtert. {„Erinnerst du dich noch daran, was ich mit Kuwat gemacht habe, als er mir dumm gekommen ist, oder?“} {„Nur zu gut“} Bei diesen Worten zog er eine großkalibrige Pistole, eine bestenfalls mäßig gepflegte, alte Deserteagle, die in den Augen professioneller Soldaten nicht mehr war, als eine lächerliche Machowaffe, und versuchte Noé zu erschießen. Sie war jedoch schneller. Blitzartig sprang sie auf, schlug die Pistole beiseite, so dass der Schuss in den Boden ging, und beförderte ihn mit einem einzigen Schlag zu Boden. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter, packte seinen Arm, verdrehte ihn auf recht schmerzhaft aussehende Weise und meinte: {„Du hast die Wahl: Entweder du und deine Freunde diskutiert etwaige Differenzen mit uns auf die harte Tour aus“} – bei diesen Worten lenkte sie seinen Blick in Richtung der drei Soldaten in der Tür – {„oder ihr helft uns und verdient euch etwas Geld. Deine Entscheidung.“}

    Zwei Tage später:

    Normalerweise steuerten kaum mehr als drei oder vier Schiffe im Monat das Auffanglager an, so dass viele Bewohner mit unverholener Neugierde reagierten, als, abgesehen von einem routinemäßig erwarteten Lebensmittelfrachter, zum zweiten Mal binnen 50 Stunden ein Schiff auf den Landefeldern aufsetzte. Wieder war es ein mittelgroßer Nahdistanztransporter, der nur für kleine Gruppen oder geringe Ladung geeignet. Anfangs verließen nur ein paar Leute das Schiff, sahen sich um und stellten Fragen. Sie fragten nach sechs Fremden, die erst kürzlich eingetroffen sein konnten. Als ihnen schließlich jemand sagte, wo diese Leute zu finden waren, kehrten sie zu ihrem Schiff zurück.

    Nun stand ein Priester der im Versammlungsraum des Schiffes vor den Mitgliedern eines Angriffsteams, die das Ziel in ihre Gewalt bringen sollten. Jeder einzelne von ihnen war ein hervorragender Kämpfer und war von ehemaligen Ausbildern der allied SEALS trainiert worden. Jeder trug ein nachtschwarze Kampfrüstung, modernste Impulsgewehre, ja sogar eine Tarnvorrichtung. Doch ihre mächtigste Waffe war ihr Glaube, was wahrscheinlich noch ein zu schwaches Wort war. Nein, es war purer Fanatismus, der bei ihrem Anführer an die Grenze des Wahnsinns ging. Während der Priester ihnen noch die Segnung im Namen des glorreichen Göttlichen erteilte und ihnen befahl zum höheren Wohl aller Menschen ihren Auftrag auszuführen, musste er sich beherrschen, um diesen Männern nicht seine pure Verachtung zu zeigen. Die Firma, irgendwie fiel es ihm schwer von einer Kirche zu sprechen, wenn er es nicht musste, hatte eine ganze Reihe hervorragend indoktrinierter Prediger, die halfen den gewöhnlichen ‚Gläubigen’ das Geld aus der Tasche zu ziehen und dabei sogar noch felsenfest davon überzeugt waren wirklich einem höheren Wohl zu dienen. Er jedoch stand über diesen Leuten. Er war ein erfahrener Psychotrainer, ein Mann der die hohe Wissenschaft der Analyse und Manipulation menschlicher Denkmuster mit der Abwesenheit jedweder Skrupel zu verflechten und so willfährige Puppen schaffen konnte, die an den Fäden seiner Auftraggeber tanzten. Das einzig göttliche, was ihm heilig war, waren die Zahlen des nächsten Quartalsberichts. Normalerweise „bildete“ er eben jene Prediger aus, die halfen die Fassade einer Glaubensgemeinschaft zu bewahren, doch für diesen Auftrag hatten der Vorstand und die Direktorin ihn ausgewählt, um die Männer durch seine Anwesenheit zu inspirieren und sich schon einmal mit jenem Mann vertraut zu machen, mit dem er später arbeiten sollte.

    Rafael Alvear. Er wusste praktisch alles über ihn, was an Informationen verfügbar war. Er kannte seine Vorlieben, Abneigungen, sein persönliches Umfeld, seine finanzielle Lage, seine komplette Krankengeschichte, sein Konsumverhalten… alles, was das Zeitalter des gläsernen Konsumenten über ihn hergegeben hatte, bevor die EU es vor fünf Jahren durch schlussendlich effektive Datenschutzgesetze so jäh sein Ende eingeläutet hatte, mit denen die Wirtschaft gezwungen worden war sich die Daten der Konsumenten auf sehr viel umständlichere Art zu beschaffen, wusste er. Und diese Daten verrieten ihm, dass Rafael Alvear ein Gewohnheitsmensch war. Er neigte nicht zu radikalen Wechseln seiner Verhaltensmuster, so dass er trotz der Fünfjahreslücke bestmöglich vorbereitet war. Er würde zwei, vielleicht drei Monate brauchen, um ihn zu bearbeiten, dann würde er auf Wunsch der Direktorin sogar seine eigenen Kinder ermorden und niemand würde die Manipulation ohne tiefgreifende, wochenlange Untersuchungen bemerken. Ein Mann, dem etwas wie Unverzichtbarkeit für seine Auftraggeber anhaftete und der aller Wahrscheinlichkeit nach schon kurz nach seinem Wiederauftauchen aus der Entführung durch eine offenbar fehlinformierte Gruppe politischer Radikaler, die hofften schon wichtige Informationen erhalten zu können, wieder in wichtige Aufgaben eingebunden werden würde, machten solche Eigenschaften zu einem perfekten Werkzeug.

    So spielte der ‚Priester’ seine Rolle und bot den Soldaten ein Bild perfekter Hingabe an eine höhere Macht, die ihre Hand schützend über alle ihre wahren Gläubigen hielt. Er konnte schon an winzigen Details, wie ihren Gesichtsausdrücken oder den voller Aufregung zuckenden Muskeln eines von ihnen, erkennen, dass er die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlte. Er schickte sie schließlich mit salbungsvollen Worten aus, um den Mann zu holen, den zu jagen die Firma so begierig war.

    Falkner und sein Team hatten sich in einem der wenigen Gebäude in den bestenfalls notdürftig konsolidierten Randbezirken der Stadt einquartiert, das mehrere Stockwerke hatte. Es war ein dreistöckiges Haus, das um einen Innenhof, den man durchqueren musste, um zur Eingangstür zu gelangen. Während Arya mit ihrem DMR auf dem Dach Stellung bezogen hatte und die rückwärtigen Straßen im Auge behielt, bewachte Julius mit ein paar von Noés ‚alten Bekannten’, wie sie es ausgedrückt hatte, den Hof. Er hatte mit einem von ihnen eine Grundsatzdiskussion über marxistische Gesellschaftsthesen – früher eine seine Paradedisziplinen – begonnen, um die Zeit totzuschlagen. Die Debatte erreichte gerade einen weiteren vorläufigen Klimax, als Julius die Berechtigung des mit Lenin in die kommunistischen Revolutionen der Weltgeschichte eingebrachten Konzepts eines revolutionären Diktators anzweifelte, als er vom Eingang her ein Geräusch hörte. Er erhob sich von seinem Platz und nahm die PK in Anschlag. Er ging einige Schritte seitwärts, um im Zweifel nicht im Schussfeld eines Schützen an der Tür zu stehen. Das rettete ihm das Leben. In einem plötzlichen Aufblitzten blanken Stahls sah er ein Messer durch die Luft sausen und seinen Gesprächspartner treffen. Gleichzeitig wurde ein anderer, der am Eingang des Hofes stand, von unsichtbaren Händen gepackt und seine Wirbelsäule von mehreren raschen Schlägen gebrochen wie ein dünner Zweig.

    Konditionierte Reflexe übernahmen die Kontrolle über Julius handeln. Er hechtete hinter die nächste Deckung und aktivierte die sensorunterstützte Sicht seines HUD. Auch wenn das Visier, das er vor den Augen trug, eher an eine farbige Schutzbrille erinnerte, war es die Anzeige eines ausgeschlachteten Infanteriehelms der Spezialeinheiten und mit allen entsprechenden Sensoren ausgestattet. Er warf einen schnellen Blick in Richtung des Einganges und entdeckte vier nur schemenhaft erkennbare Gestalten, kaum mehr als ein flirren in der Luft. Er fluchte derb und lud sein Gewehr durch. Nicht einmal die Tarnvorrichtungen der Goa’uld waren so perfekt. Wer immer auch diese Typen waren, es war besser sie nicht zum Schuss kommen zu lassen. Er erhob sich hinter seiner Deckung, einem grob behauenen Natursteinblock, in eine Schusshaltung und legte an. Als er abdrückte, machten die Angreifer zuerst keine Anstalten auszuweichen. Entweder wähnten sie sich immer noch unsichtbar oder vertrauten aber auch Kampfrüstungen. Beides sollte fatal für sie sein. Die PK, mit der Julius schoss, benutzte normalerweise Munition, die moderne Rüstungen nicht zu durchschlagen vermochte, doch man hatte ihm für solche Situationen nachgeladene Munition mit verbesserten Treibladungen gegeben. So saß hinter jedem Schuss die brachiale Energie von fast 9500 Joule.

    Es war, als würde einem eine Faust von einer Tonne Gewicht treffen. Der Rückstoß des für sehr viel schwächere Munition gefederten Gewehrs brach ihm beinahe die Schulter, doch seine Feuerstöße schickten auch einen seiner Gegner zu Boden. Die anderen wichen sofort zurück und suchten sich Deckung, als ihnen klar wurde, dass er sie sehen konnte. Gleichzeitig nahm einer von ihnen seinerseits eine Waffe hoch und schoss zurück. Der Schuss war gut gezielt und verfehlte Julius nur knapp, sprengte aber immer noch ohne Schwierigkeiten ein faustgroßes Loch in den Stein, hinter dem er sich versteckte. Diese unverholene Zurschaustellung brutaler Zerstörungskraft löste in Julius einen Urreflex aus, der sehr gut mit seiner rationalen Wahrnehmung der Situation kongruierte: Abhauen, oder, wie man es in militärischer Fachsprache nannte, ein strategischer Rückzug. Er gab noch eine Salve Sperrfeuer in den Hof ab, ging ein paar Meter auf Abstand zu seiner Deckung, sprang dann mit einem gewaltigen Satz dagegen und stieß sich die letzten sieben Meter aufs Dach ab. Sie hatten in den letzten Tagen geübt sich unter dieser niedrigen Schwerkraft zu bewegen, so dass er halbwegs sicher auf dem Dach aufkam, wo er sich sofort hinwarf und mehrere Schüsse an ihm vorbei zuckten.

    Arya hatte schon beim Geräusch der ersten Salven die anderen alarmiert und robbte nun über das flache Dach zu ihm. „Wie viele?“ „Noch drei. Ausrüstung jenseits von gut und böse, tödlich im Nahkampf. Für wie viele Jahre haben wir uns doch gleich verpflichtet?“ Sie schmunzelte. „Bei mir sind es noch elf.“ Sie kroch weiter, so dass sie in den Hof hinein schauen konnte und legte ihre Waffe an. Die drei Gegner waren gerade dabei im Haus zu verschwinden. Sie jagte nur eine Hand breit hinter einem noch einen Schuss in den Boden, stand dann auf und sagte: „Los, wieder runter.“ Sie sprangen auf der hinteren Seite des Hauses vom Dach, wobei sie zuerst auf das Dach eines niedrigeren Gebäudes gegenüber sprangen. Als sie auf der Straße ankamen, trat Nikolai gerade die Hintertür des Hauses auf und zerrte Alvear dicht gefolgt von Noé auf die Straße, während Falkner rückwärts laufend in den Flur feuernd den Abschluss bildete. „Rückzug“, befahl er fast schon etwas überflüssigerweise. Sie taten, wie ihnen geheißen. Alvear nach Möglichkeit immer in ihrer Mitte haltend rannten sie in die Gassen des Slums hinein. Noé wechselte dabei auf die Frequenz der Funkgeräte, die sie ihren alten Bekannten gegeben hatte. „Wir sind unterwegs. Behaltet die Straßen im Auge. Der Feind ist getarnt, benutzt also die Sichtgeräte und sagt uns bescheid, sobald ihr etwas seht.“

    Gelotst von mehrere Bewohnern der Slums, die auf günstigen Positionen Beobachtungsposten bezogen hatten und sie über die Bewegungen ihrer Gegner informierten, wie es auf einer anderen Welt ein Gefechtskoordinator via Satellit getan hätte, kämpften sie sich durch die Gassen. Immer wieder kam es zu heftigen Schusswechseln, nachdem noch eine zweite Gruppe von Gegnern, offenbar ihre Reserve, mit eingegriffen hatte. Von einem der Dächer aus beobachteten indess ein etwas älterer und ein junger, leicht dicklich aussehender Mann, kaum mehr als ein Teenager, das Geschehen mit Sichtgeräten. „Sie machen sich ganz gut, nicht wahr?“, fragte der Jüngere mit einigem Enthusiasmus in der Stimme. Der Ältere antwortete zuerst nicht, sondern grunzte nur bestätigend. Nach einigen Minuten meinte er dann: „Letztlich auch nur gewöhnlicher Krieg.“ „Warum denn immer so mürrisch?“ Bevor der andere antworten konnte, explodierte eine von Falkner geworfene Handgranate und schleuderte einen der Gegner fast fünfzehn Meter hoch in die Luft. Der Jüngere verfolgte das Geschehen noch einen Moment lang, dann postulierte er: „Sie haben sich in die Enge treiben lassen. Wann greifen wir ein?“ „Wenn der Major es befiehlt. Und nicht eine Sekunde vorher.“

    In gewisser Weise verlief alles nach Plan, auch wenn eben dieser Falkner mit jeder Sekunde weniger gefiel. Glaubwürdigen Widerstand leisten, sich in die Enge treiben lassen und zulassen, dass der Feind mit Alvear verschwindet. Gut und schön. Nur schienen ihre Gegner mit jeder Minute entschlossener nicht nur ihr Ziel zu entführen, sondern das Team dabei umzubringen. Schließlich kam ihnen der Zufall zur Hilfe. Sie traten gerade die Flucht durch einige Höfe am Rand der konsolidierten Viertel an, wo sie durch einen engen Durchgang mussten. Durch die Reihenfolge, in der sie ankamen, gingen Nikolai und der mittlerweile schon ziemlich schwer atmende Alvear als letzte hindurch. In diesem Moment erwischte ein Schuss Nikolai, durchschlug seine Weste und schmetterte ihn gegen die nächste Wand. Mit einer schweren Wunde und bewusstlos brach der Russe zusammen. Gleichzeitig feuerte einer der Angreifer einen Seilwerfer mit Greifhacken, die sich in die Schutzweste des Spaniers krallten und ihn festhielten. Sie zogen ihn zu sich und traten den Rückzug an. Falkner lief zu Nikolai und sah den Russen gerade sein Leben aushauchen. Während er wild fluchte und irgendwie versuchte ihn zu retten, kam Julius zu ihm. „Major, ich kann helfen.“ „Dann los.“ Julius kniete sich neben seinen Freund und tat, womit wohl niemand gerechnet hatte. Er nahm das Goa’uld-Heilgerät, das er im vergangenen Jahr hatte mitgehen lassen, hielt es über Nikolais Wunde und aktivierte es. Mittlerweile hatte er viel Übung damit, so dass es nur wenige Sekunden dauerte die Wunde zu schließen. Die anderen sahen ihn währenddessen einfach nur fassungslos an. Sie wussten, dass nur ein Goa’uld oder ein Tok’Ra diese Technologie benutzen konnte. Er schmunzelte ertappt, aber nicht im Geringsten schuldbewusst und sagte: „Ich bin keine Schlange. Aber abgesehen davon hat jeder seine kleinen Geheimnisse.“

    Die Männer des Überfallkommandos waren mittlerweile mit ihrem Opfer schon einige Straßen weit gekommen. Zufrieden griff der Anführer zu seinem Funkgerät und nahm Kontakt zum Priester auf, um ihm die freudige Meldung zu übermitteln: „Sir, wir haben den Auserkorenen in unserer Gewalt. Sind jetzt auf dem Rückweg zum Schiff.“ „Sehr gut. Nicht weniger hatte ich erwartet. Aber beeilt euch, bevor sie einen Rettungsversuch starten.“

    Auf dem Schiff gestattete der Priester sich ein siegessicheres Lächeln. Es war nicht einfach gewesen, doch sie hatten ihn. Die Direktorin hatte baldigst möglich über einen Erfolg informiert werden wollen. Die Erde war mehrere Lichtminuten entfernt, aber das Team würde auch noch einen Moment für die Rückkehr brauchen. Also aktivierte er den Funk und klinkte sich in das orbitale Nachrichtenrelais ein.

    An einem anderen Ort in der Kolonie saß eine junge Frau, deren blasse Haut verriet, dass sie nur selten an die Sonne kam, an einem Rechner und überwachte die eingehenden Nachrichten im Orbitalrelais. Ein Mann von kräftiger Statur und mit dem Gang eines Soldaten tigerte hinter ihr im Raum auf und ab und fragte: „Hast du endlich was?“ „Sei verdammt noch mal nicht so ungeduldig. Ich weis ja noch nicht mal genau, ob die überhaupt schon senden.“ „Sei verdammt noch mal nicht so ungeduldig, Major! Wir sind schließlich im Einsatz.“ „Bla bla bla. Für paramilitärische Spielchen musst du dich an die Jungs halten. Ich bin für andere Sachen hier.“ Der Mann seufzte. „Schon klar. Trotzdem: Irgendwas Interessantes?“ „Es geht auch nicht schneller, wenn du alle zehn Sekunden fragst. Aber gerade hat sich noch jemand eingeloggt. Könnte unser Freund sein, aber mit Sicherheit kann ich das noch nicht sagen.“ „Okay, was haben wir bis jetzt?“ Er trat direkt hinter sie, stützte sich auf die Lehne ihres Stuhls und sah ihr über die Schulter. Sie bedachte ihn mit einem missmutigen Blick und meinte dann: „Im Moment gibt es neunzehn aktive Verbindungen zur Erde. Fünf davon sind seit mehreren Tagen offen, drei sind im Torrent-Netzwerk zugange, vier auf Ebay und sechs auf Seiten deren Inhalte du nicht wissen willst. Die meisten Zielserver stehen dabei irgendwo in Asien. Der neue hier hat gerade was aktiviert, dass wie ein Instant-Messanger aussieht.“

    Sie deutete auf die Serverprotokolle des Relais, die sie sich beinahe in Echtzeit auf dem Bildschirm anzeigen ließ. „Das Programm kenne ich nicht. Vermutlich was hausgebrautes. Aber er will, oh Wunder, mit der Erde reden.“ „Dann bleib an ihm dran.“ Sie drehte den Kopf wieder zu ihm, griff dann nach ihrer Koffeinlimonade und meinte lakonisch: „Ich hab schon vor Stunden eine Hydra auf das Relais gesetzt, die sich an alles dranhängt, was rausgeht.“ Der Soldat blickte mürrisch auf den Bildschirm, wandte sich dann aber wieder davon ab und wartete. Einige Augenblicke später sagte sie: „Ich glaube ich hab ihn.“ „Sag an.“ „Die haben nur drei kurze Nachrichten ausgetauscht, aber die waren verschlüsselt und das Signal wurde auf der Erde über fünfzig Knoten auf der ganzen Welt umgeleitet.“ „Und?“ „Der letzte Knoten war in Upper Manhattan. Aber da hängen mehrere hunderttausend Anschlüsse dran.“ „Ok, immerhin etwas.“ Er griff nach seinem Funkgerät und gab ein einzelnes Wort durch: „Zugriff.“

    Das Überfallkommando war fast schon wieder am Raumhafen, das ST-Team nur ein paar Straßen hinter sich, als der Kopf ihres Anführers auf einmal zerplatzte, wie eine Reife Melone. Die anderen warfen sich sofort zu Boden und suchten nach dem Scharfschützen, doch bevor sie irgendetwas ausmachen konnten, schaltete der den zweiten und den dritten aus. Dann tauchten hinter mehreren Häuserecken Männer und Frauen in schlichten Kampfanzügen, teilweise aber auch in unauffälligem Zivil auf, die das Feuer eröffneten. Schnell und mit hervorragender Koordination nagelten sie ihre Ziele fest, während der Scharfschütze nur einen nach dem anderen abschießen musste. Als Falkner und sein Team einige Augenblicke später auf die Straße einbogen, sahen sie die andere Einheit bei den Leichen des Kommandos stehen. Einer von ihnen versorgte Alvear, während ein Anderer die Toten untersuchte.

    Falkner kam zu ihnen und erkannte nun, mit wem sie es zu tun hatten. Maybourne hatte ihm bis zuletzt nicht gesagt, wen er schicken wollte und wie er sich sicher sein konnte ihnen vertrauen zu können, doch nun sah er die Abzeichen, die die wenigen Uniformierten der Gruppe trugen. Darunter stand der Wahlspruch „cum silentium libertatem servo“. Mit meinem Schweigen diene ich der Freiheit. Das Motto der europäischen Stay-Behind Truppen, paramilitärischer Einheiten, die im Falle einer Invasion in eroberten Gebieten einen Guerillakampf führen sollten. Manche würden sie wohl staatlich ausgebildete Terroristen nennen. Ihre Angehörigen waren einfach nur Zivilisten, deren Patriotismus über jeden Zweifel erhaben war, wurden aber von Offizieren der Spezialeinheiten ausgebildet. Sie waren keine Kombattanten und offiziell existierte ihre Truppe nicht, zumal ähnliche Einheiten während des kalten Krieges immer wieder zur Brutstätte politisch motivierter Terrororganisationen in Europa geworden waren. Und auch wenn der Einsatz dieser Truppe im Prinzip illegal war, verstand Falkner nun, warum Maybourne ihnen vertraute: Solche Einheiten, deren Stärke, Position und Fähigkeiten nur einem kleinen Kreis handverlesener Offiziere bekannt war, konnte man nicht infiltrieren.

    Er trat an den Mann heran, der die Toten untersuchte. Der sah zu ihm auf, erhob sich dann und salutierte. „Major Falkner, ich bin Leutnant Kunnas, Spezialkräfte. Wir sind auf Befehl von General Maybourne hier.“ Er nickte und erwiderte den Gruß. „Gut sie zu sehen Leutnant. Hatten sie Erfolg?“ „Bei der Ausschaltung dieser Gruppe schon. Ob der Major etwas wichtiges herausgefunden hat kann ich nicht sagen, aber die Typen hier sind absolut sauber. Ihre Ausrüstung hat sich selbst geröstet, als wir sie erledigt haben. Alle elektronischen Komponenten sind hinüber und deren Schiff hat sich verduftet, bevor wir es stürmen konnten. Ansonsten: Keine Marken oder andere eindeutigen Kennzeichen, keine persönlichen Dinge. Nur das hier.“ Er hielt eine Kette hin, die einer der Männer um den Hals getragen hatte. Sie zeigte ein kleines religiöses Symbol der Nuelisten, das er wie einen Talisman bei sich getragen hatte. „Es muss überhaupt nichts heißen“, sagte der Leutnant, „aber etwas anderes haben wir nicht.“
    Geändert von Protheus (27.11.2009 um 01:48 Uhr)
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor


  3. #23
    Gehasst, Verdammt, Vergöttert Avatar von Colonel Maybourne
    Registriert seit
    24.11.2004
    Ort
    Im Harz
    Beiträge
    3.843

    Standard

    Du überrascht mich mit jedem Kapitel aufs neue und diesmla war es sogar mehr, als ich am Anfang noch erwartete.
    Das war nämlich ein Geheimdienst- und Spionagekapitel per excellance und ich habe in der Güte noch nicht viele gelesen.
    Außerdem muss ich dir sagen, dass du anscheinend auch noch mit dem Stadtplan von Moskauz etwas vertraut gemacht hast, Respekt.
    Oder warst du schon mal da?

    Außerdem bewarheitet sich mal wieder, dass bei den Religiösen Sekten doch jeder mit dem anderen in die Kiste springt...

    Eine Frage, wie ist Atlantis untergegangen, wurde es von den Wraith zerstört oder von den Replikatoren?

    Bis dann.
    Das Leben ist ein Schwanz und wir die Eier, die mitgeschleift werden.


    Meine aktuellen Fanfiction:


    TGE Combined Season 1 Fire of War:

    http://www.stargate-project.de/starg...ad.php?t=11836




  4. Danke sagten:


  5. #24
    Airman First Class
    Registriert seit
    17.10.2009
    Beiträge
    16

    Standard

    Hallo Proteus,

    wie siehst denn aus, hast du schon weiter geschrieben? Wie ich dir geschrieben habe finde ich deine FF fantastisch und es waere schade, wenn sie hier so einfach enden wuerde.

    cu Alex

  6. #25
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    So, da bin ich wieder. Ich bitte um Entschuldigung für die viel zu lange Pause, aber in den letzten Wochen hatte ich eine Menge Sache um die Ohren und es hat sehr viel länger gedauert als erwartet, bis ich mit diesem Kapitel zufrieden war.

    Dieses Kapitel ist in Teilen ein Tribut an einen der besten Filme, den ich im letzten Jahr gesehen habe. Gesamtlänge 29S. Der kursiv geschriebene Teil stand zuerst am Anfang des Textes, wurde aber aus dramaturgischen Gründen verschoben und ist jetzt als Rückblende zu verstehen. Bleiben sie uns treu, empfehlen sie uns weiter, viel Spaß beim Lesen.


    Episode 5: Erkenntnisse und Einsichten

    Jules hörte das Knirschende Geräusch von Osburgs schweren Stiefeln auf dem sorgfältig geharkten Kies vor dem Haus. Langsam spürte sie, wie ihr Körper ihr wieder zu gehorchen begann. „Lassen sie mich runter“, murmelte sie. Er setzte sie ab. Kaum dass ihre Beine ihr Gewicht wieder selbst tragen sollten knickten sie ihr unter dem Körper weg und sie fiel gegen ihren Begleiter. Als sie gegen seinen Oberkörper prallte wurde ihr klar, wie er hatte überleben können. Seine Brust fühlte sich selbst durch seine Kleidung hindurch wie eine mit rohem Fleisch abgepolsterte Stahlplatte an. Er wollte sie wieder hochheben, doch sie hob abwehrend die Hand. „Nein. Ich komm schon klar.“ „Meinetwegen. Aber schnell. Im Haus werden noch mehr Wachen sein.“

    Wie um seine Worte zu unterstreichen traten zwei Männer in schwarzen Anzügen aus der Eingangstür heraus, die schussbereite 9mm in den Händen hielten. Er packte Jules deutlich unsanfter als vorher am Arm und zerrte sie mit in Richtung der großen Garage, die sich an den Ostflügel des Anwesens anschloss. Obwohl sie zweimal fast ins Straucheln geriet schaffte sie es irgendwie mitzuhalten. Dort angekommen verpasste er der soliden, verschlossenen Tür, die ihnen den Weg versperrte, einen Tritt, der das Material um das Schloss herum splittern und sie nach innen aufschwingen ließ. Begleitet vom pfeifenden Geräusch der Kugeln, die links und rechts von ihnen in die Mauer einschlugen, schob er sie hinein. Im inneren sah er sich um und entdeckte sofort, was er zu suchen schien. Er steuerte auf eine Maschine zu, die oberflächliche Ähnlichkeit mit einem Motorrad hatte und drückte seinen Daumen auf einen Fingerabdruckscanner an den Armaturen. Mit einem Heulen erwachte das Gefährt zu Leben. Er grinste und murmelte: „Na also. Zu faul die Autorisierungen zu löschen. Dann wandte er sich an Jules, deutete auf einige Spinde an der Wand und meinte. „Darin müssten Schutzhelme sein.“ Sie nickte und holte zwei Helme. Dann setzte sie sich hinter ihn auf das Fahrzeug. Nachdem sie sich mit um das Becken gewickelten Gurten angeschnallt hatten startete er und das Jetbike hob sich vom Boden. Er drehte es in Richtung der Tür, durch die sie hereingekommen waren, und gab Vollgas.

    Eine gute Viertelstunde später hatten sie das Anwesen hinter sich gelassen und folgten mit hohem Tempo dem Lauf des Mains in Richtung Frankfurt. Sie hatten bei ihrer Rückkehr auf die Erde ihr Lager in leer stehenden Gebäuden in einem unweit des Maines liegenden Wohnviertel aufgeschlagen. Das Schiff hatten sie bewusst in einer Orbitalstation eingedockt, um die wesentlich schärferen Kontrollen auf den planetaren Landefeldern zu umgehen und von dort aus eine Fähre genommen, so dass die Wohnung, die sie sich angeeignet hatten, ihr einziger Anlaufpunkt war. Jules hatte sich während des Fluges an den starken Rücken des Söldners gelehnt und bitter geweint, ohne auf den schneidend kalten Wind zu achten, dem sie ausgesetzt war. Verrat, Verlust. Egal in welche Richtung sie ihre Gedanken lenkte, diese beiden Dinge beherrschten sie. Sie hatten das Bike schließlich in einem Vorort abgestellt und den Rest des Weges mit der Metro zurückgelegt. Während der Fahrt hatte Jules sich die Tränen aus den Augen gerieben und gehofft, dass man ihr nicht allzu deutlich ansah, wie sie sich fühlte. Sie hatte Osburg dabei mit einem Blick das Versprechen der Verschwiegenheit abgenommen. Eine gute halbe Stunde später hatten sie eine Straße im Frankfurter Gallusviertel erreicht. Der Abend zog schon herauf und die Straßenlaternen leuchteten die Straße nur notdürftig aus, so dass man die Gesichter der Passanten nur schemenhaft erkennen konnte. Ein Umstand für den sie in diesem Moment dankbar waren. Aber selbst wenn es anderes gewesen wäre, wären sie wahrscheinlich unbehelligt geblieben. Die alten Mietskasernen, die die umliegenden Straßenzüge beherrschten, waren die Anlaufstelle vieler verlorener Seelen, die von der Glanz der Mainmetropole und des größten Raumhafens Westeuropas angelockt worden und an der Stadt gescheitert waren. Sie sammelten sich alle in jenem heruntergekommenen Streifen, der die Stadt vom Gutleutviertel bis nach Praunheim durchschnitt, seit an der Südlichen Stadtgrenze der Raumhafen gebaut worden war, dessen Flugschneisen über genau diesen Teil der Stadt führten. Der starke Flugverkehr hatte die wohlhabenderen Bewohner vertrieben und somit eine Zone geschaffen, die häufig mit der Bronx in New York verglichen wurde. Die Bewohner wechselten hier häufig, niemand interessierte sich für seinen Nachbarn und es wurden keine Fragen gestellt. An keinem anderen Ort der Stadt hätten sie sich besser verstecken können.

    Sie erreichten eines der Häuser, in dessen Eingang ein Mann mit unverkennbar arabischem Aussehen saß und mit einem Messer ein Stück Holz bearbeitete. Er tippte sich mit der Klinge zum Gruß an die Stirn, als sie über ihn hinweg kletterten. Als er merkte, dass sie nur zu zweit und nicht etwa, wie sie aufgebrochen waren, zu viert zurückkamen, schlug sein Blick ins Fragende um. „Wo sind der Leutnant und Volkov?“, wollte er wissen. Osburg drehte sich zu ihm um und antwortete: „Komm mit rauf. Wir erklären alles.“ Sie hatten eine Wohnung im vierten Stock in Beschlag genommen, in der zwar bei fast zwanzig Bewohnern eine geradezu drückende Enge herrschte, in der sie aber ohne Schwierigkeiten das Wasser wieder zum Laufen hatten bringen können und deren Besitzer sich seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr darum gekümmert hatte.

    Als sie die Wohnung betraten, musste Jules über zwei Männer hinwegsteigen, die in Schlafsäcken auf dem Boden den Schlaf nachholten, der ihnen fehlte, da sie in der Nacht Wache gehalten hatten. Während die beiden ihr folgenden Söldner ihre Freunde weckten, ging sie direkt in den Wohnraum weiter. Auf den alten Polstermöbeln, die vom Vorbewohner zurückgelassen worden waren, saßen einige der Männer bei einem Kartenspiel zusammen, andere lagen oder saßen auf dem Boden, während eine Frau auf einem Gaskocher Eintopf zubereitete. Neben jedem Schlafplatz lag eine schussbereite Waffe und über allem lagen die schweren Ausdünstungen von dreißig Leibern, gemischt mit dem Geruch von Waffenöl, Bier und dem vor sich hin köchelnden Eintopf. Jules ging zu der Sitzgruppe, setzte sich auf die hohe Rückenlehne eines Sessels, so dass man sie gut sehen konnte und sagte mit einiger Mühe ein Zittern in der Stimme zu unterdrücken: "Hört mir alle zu, Leute. Ich muss euch etwas erzählen."

    Zahlreiche Augenpaare richteten sich auf sie. Osburg nahm neben ihr Aufstellung. Sie konnte an seiner angespannten Körperhaltung erkennen, dass er bereit war einen Schritt zwischen sie und die anderen zu machen. Als sie das Gefühl hatte, dass alle zuhörten, sagte sie: "Die Sache ist schief gegangen. Armin und Volkov sind tot." Für einen Augenblick herrschte fassungslose Stille. Dann richtete sich einer der Männer mit bohrendem, auf Jules gerichteten Blick auf und sagte: "Das kann nicht ihr Ernst sein." Sie senkte den Blick und meinte mit leiser Stimme: "Doch. Ist es." Der Mann sah sie für einen Moment an, dann sackte er zusammen und fiel auf den Hintern. Während er sitzen blieb und das Gesicht in den Händen vergrub, fragte eine der Frauen: "Wie und wer?" Es war Osburg, der antwortete: "Aharon. Ich hatte vermutet, dass er nicht nur dafür da ist den Tee zu servieren oder den Bestand im Weinkeller zu kontrollieren. Aber dass er so gut sein könnte... Er hat den Leutnant schneller getötet, als ich reagieren konnte. Als er Volkov und mich angegriffen hat, hatte ich kaum eine Chance. Ich hab die Schwalbe gemacht, um mir für einen Moment Luft zu verschaffen und verdammtes Glück gehabt."

    Die Frau maß ihn mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen. "Er wird kaum von selbst angegriffen haben." Osburg schüttelte den Kopf. "Es ist ihm befohlen worden." Die Frau, die bisher auf einer Fensterbank im Schneidersitz dagesessen hatte, stand auf, ging mit drei, vier ausladenden Schritten zu ihrem Schlafsack und packte sich ihre PK und setzte eine volle Munitionstrommel ein. "Was glaubst du, was du da gerade tust?" "Na was wohl? Wir gehen los und nehmen uns die Arschlöcher vor." Jules Stimme durchschnitt den Raum: "Nein." Die Frau drängelte sich mit wütenden Schritten an Osburg vorbei und auch einige andere erhoben sich. Jules schmunzelte kurz. Wie sehr ihr diese Reaktion doch zeigte, dass nicht sie es gewesen war, die diese Truppe in den Monaten im wilden Raum zusammengehalten hatte. Sie richtete sich auf, hob den Blick und sah die Söldner unumwunden an. Als sie die brutale Härte in ihren Augen sahen, hielten sie inne. Keiner von ihnen hatte jemals einen Menschen so wütend erlebt. Alle Zweifel, wer das gefährlichste Individuum im Raum war, waren verflogen. Trotzdem wagte die Söldnerin es noch die Stimme zu erheben: "Machen sie sich klar auf welcher seite sie stehen w..." "Wir werden nichts dergleichen tun", unterbrach Jules sie. "Wir waren eben erst bei ihm und er ist gewarnt." Mit einer schwungvollen Bewegung zückte sie ihren PDA und hielt ihn vor sich. "Aber die anderen sind es nicht. Wir haben alle Beweise, die wir brauchen. Wir haben ihre Namen und wissen, wie wir sie aufspüren können. Also lassen wir sie für alles Bluten, was sie getan haben. Uns und anderen."

    Serdar Çakmak hatte seinen Wagen abgestellt, die Tüte mitgenommen, die er auf dem Beifahrersitz gehabt hatte, und ging auf die Polizeiabsperrung zu, mit der eine Gasse unweit der Verladedocks von Avcilar abgeriegelt war. Es dauerte einen Augenblick, bis er die beiden Beamten am Absperrband im diffusen Licht der Nachtbeleuchtung erkannte. Als er jedoch merkte, mit wem er es zu tun hatte, musste er schmunzeln. Er legte ein freundliches Lächeln auf und ging an den Männern, die außerhalb der Absperrung warteten auf die beiden Gesetzeshüter zu. "Hallo die Herrschaften", meinte er an die beiden Polizisten gerichtet, deren düsteren Mienen man ihre mangelnde Begeisterung dafür zu nachtschlafender Zeit hier Wache schieben zu müssen entnehmen konnte. "Irgendetwas interessantes passiert?" Beide hatten ihre Jacken hoch zugeknöpft. Obwohl der Klimawandel echten Winter im Mittelmeerraum auf Meereshöhe selten gemacht hatte, konnten die Märznächte am goldenen Horn immer noch reichlich kalt werden. Entsprechend war die Laune der Beamten, als einer von ihnen antwortete: "Heute nicht, Çakmak. Ich habe keine Lust zusammengestaucht zu werden, wenn ich sie durchlasse." Er hielt den beiden die Tüte hin. "Kleine Aufmerksamkeit für Freunde der Presse." Der Beamte nahm sie ihm aus der Hand und warf einen Blick hinein. Seine Gesichtszüge entspannten sich zu einem Lächeln und er nahm einen der Pappbecher mit dampfendem Kaffee heraus, um ihn an seinen Kollegen weiter zu reichen. "Also gut", sagte er, "sie sind irgendwie an uns vorbei und wir haben sie nicht gesehen. Diskutieren sie alles weitere mit dem Inspektor aus."

    Mit einem breiten Grinsen hob Serdar das Absperrband ein wenig an und ging drunter hinweg. Der Ort des Geschehens war eine schlecht ausgeleuchtete Gasse zwischen zwei alten Backsteinfabrikgebäuden, die von großen Containern gesäumt war, in denen die beiden Betriebe ihre Abfälle entsorgten. Es stank und der Asphalt war von öligen Schlieren bedeckt, die der Regen der letzten Tage durch Undichte stellen aus einem der Container in Richtung der Gullys gespült hatte. Serdar warf einen kurzen Blick auf das Firmenlogo, das auf dem lecken Behälter prangte und zog überrascht die Augenbrauen hoch. Das betreffende Unternehmen stand wegen Verklappung giftiger Chemikalien schon mit einem Bein im Abgrund der Zwangsschließung und die Berichte, die die Polizei heute über den Zustand des Tatortes abliefern würde, würden wahrscheinlich ihr Übriges tun. Mit einem amüsierten Kopfschütteln konzentrierte er sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben und hielt nach dem Inspektor Ausschau. Er entdeckte ihn neben einer im Dreck liegenden Leiche kniend. Als er sich näherte, bemerkte der dem Ermittler gegenüber kniende Kriminaltechniker ihn und gab seinem Gegenüber einen Wink. Der Mann richtete sich auf und ging Serdar entgegen. "Serdar, wer hat dich reingelassen? Na, egal. Was willst du?" "Wie du dir wahrscheinlich denken kannst, Cavit, gehe ich meiner Berufung nach." "Ja. Und bringst mich in Schwierigkeiten. Warte einfach ab, bis wir eine Pressekonferenz zu dieser Sache geben." Serdar schüttelte andeutungsweise den Kopf. "Cavit, lass mich dir eine Grundregel erklären, nach der mein Berufsstand lebt: Istanbul ist überreich an Stoff für gute Artikel. Aber man muss vorher beurteilen, ob eine Sache es Wert ist ihr nachzugehen. Und wenn ich jedesmal erst die Pressekonferenz abwarten würde, hätte ich niemals Zeit für gründliche Recherche."

    Der Ermittler verzog das Gesicht. "Nach deinem Gekritzel über Ermittlungsfehler bei der Mordserie im November hat der Chef Gift und Galle gespuckt." "He, ich hatte den Eindruck wir würden in einer Demokratie leben. Da gehört die Presse als inoffizielle vierte Macht im Staate dazu." "Dann nimm bitte zur Kenntnis, dass einige Amtsträger der offiziellen Gewalten es nicht mögen, wenn man ihnen zu sehr auf die Finger schaut." Serdar zuckte mit den Schultern. "Also gut, du darfst mir nichts sagen. Aber dann lass uns wenigstens ein kurzes Spiel spielen. Daumen hoch, Daumen runter. Ich denke du kennst die Regeln." Der Inspektor, ein mit den Jahren kräftig gewordener Mann mit dichtem Schnauzbart, an dessen von Falten unterlaufenen Augen man erkennen konnte, dass er ein Opfer der Abgründe menschlichen Handelns geworden war, mit denen sich auseinanderzusetzen sein Beruf ihn zwang, blickte ihn sehr finster an. Als der Journalist keine Anstalten machte dem Blick auszuweichen, sagte er: "Also los." Serdar zückte seinen Notizblock und Stift und fragte: "Mord?" "Daumen hoch." "Das Opfer wurde hier ermordet?" Der Polizist nickte. "Waren Drogen im Spiel?" "Daumen hoch." "Dann war es wieder ein Ägypter?" Dieses Mal schüttelte sein Gegenüber den Kopf. "Ein Einheimischer. Wir haben eine halb leere Ampulle Whiplash bei ihm gefunden, nicht mehr. Die Sache hat also wahrscheinlich nichts mit dem Drogenkrieg zu tun." Serdar ließ ein leicht enttäuschtes "Oh" vernehmen warf einen Blick am Beamten vorbei auf die Leiche und den Kriminaltechniker. Seit einigen Monaten ging die Polizei im Hafen verschärft gegen Drogenschmuggler vor, die auf ägyptischen Containerfrachtern Rauschgift aus Zentralafrika in die europäischen Mittelmeerhäfen brachten. Hätte der Mord damit in Zusammenhang gestanden, wäre das der Redaktion einen Aufmacher wert gewesen. Aber so...

    "Für wie wichtig haltet ihr die Sache?" "Es ist ein Mord", antwortete der Beamte mit ernster Stimme, in der ein Hauch von Fatalismus mitschwang. "Nichts als ein Mord, wie er immer wieder passiert, wenn fünfzehn Millionen Menschen so dicht beeinander leben. Such dir eine andere Story. Die hier gibt nichts her." Serdar sah Cavit für einen Augenblick etwas frustriert an, dann nickte er und steckte den Block wieder weg. „Gut, gut. Gab es irgendwelche Zeugen? Vielleicht hat jemand von denen etwas interessantes zu sagen.“ „Ein paar Arbeiter, die in der Fabrik hier“ - der deutete auf das Gebäude rechts von ihnen - „in einer Nachtschicht eine Maschine reparieren mussten. Sie haben Lärm gehört und sind auf die Straße. Sie haben den Mörder noch weglaufen sehen. Ich habe alle zur Vernehmung aufs Präsidium bringen lassen.“ „Wenn einer von denen etwas interessantes zu sagen hat...“ „Dann erfährst du es auf der Pressekonferenz zu diesem Fall. Und jetzt Abflug.“

    Vier Tage später hatte Serdar die Sache am Hafen schon wieder fast vergessen. Sein Redakteur hatte ihn mit einem Artikel über einen Streik auf einer der großen Werften beauftragt, so dass er die letzten Tage mit Interviews mit Gewerkschaftlern und Arbeitgeberfunktionären über die festgefahrenen Tarifverhandlungen verbracht hatte. Es war nicht viel mehr dabei herum gekommen, als die sich alle paar Jahre wiederholenden Argumente und Forderungen. Hätte er einfach einen zwei Jahre alten Artikel aus dem Archiv geholt und das Datum ausgetauscht, wäre es wahrscheinlich kaum jemandem aufgefallen. Er ging gerade über den Parkplatz der Büros der örtlichen Niederlassung der europäischen Metallarbeitergewerkschaft. Als er unwillkürlich zum Himmel sah, fiel ihm auf, dass bereits die Dämmerung aufzog. Mit einem Blick auf seine Armbanduhr stellte er fest, dass der zuständige Verhandlungsführer ihn sage und schreibe drei Stunden aufgehalten hatte. Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck dachte er sich, dass er nun eine wage Vorstellung davon hatte, warum die Gespräche nicht voran kamen. Er hatte selten jemanden getroffen, der mit solcher Folge nichtssagende Phrasen dreschen konnte. Müde rieb er sich die Augen und beschloss, den Artikel zu Hause zu schreiben, anstatt noch einmal ins Büro zu fahren.

    Er fuhr von den auf europäischer Seite am Marmarameer gelegenen Werften quer durch Istanbul bis in die Altstadt von Kadıköy, wo er seinen Wagen auf einem Parkplatz unweit der Straße abstellte, in der er lebte. Als er von dort aus an jenem alten Haus ankam, in dem seine Wohnung lag, und den Innenhof betrat, kamen ihm sofort einige Katzen entgegen gelaufen, kaum dass sie ihn sahen. Zwei maunzten ihn fordernd an, während eine andere ihm um die Beine strich. Er lächelte, ging in die Hocke und kraulte die Vierbeiner. Es waren nicht seine Tiere, sondern Straßenkatzen, die er regelmäßig fütterte. Eine alte Frau, die ihm noch vor einigen Jahren gegenüber gewohnt hatte, hatte zwar versucht sich dafür beim Vermieter über ihn zu beschweren, aber Serdar hatte sich nicht davon abbringen lassen, zumal er für sich die Erfahrung gemacht hatte, dass solches Verhalten vielen Frauen gefiel. Er hatte schon einige Partnerinnen kennen gelernt, die sich für seine Gutmütigkeit gegenüber den Tieren hatten begeistern können. Als er Schritte hinter sich hörte und sich umdrehte, wurde seine Hoffnung auf neue Damenbekanntschaft allerdings enttäuscht. Statt dessen sah er einen Mann von knapp vierzig Jahren, dessen zu einem Pferdeschwanz zurück gebundenes langes Haar aussah, als habe es seit Tagen keine Dusche mehr von innen gesehen und dessen schwarzes T-Shirt dem Betrachter in weißen Lettern die Worte „hasta la victoria siempre“ entgegenschleuderte. Er stellte sich neben Serdar und meinte: „Wenn es darum geht festzustellen, ob du zu Hause bist, sind diese wandelnden Flohteppiche zuverlässiger, als jeder Wachhund.“ Mit einem Grinsen erwiderte der so angesprochene: „Wenn du das sagst. Hallo Victor.“ Der andere erwiderte das Grinsen und sagte: „Ganz sicher. Bei niemand anderem machen die so einen Terz. Ich will noch was trinken gehen. Kommst du mit?“

    Victor Saroyan und Serdar waren langjährige Freunde. Auch der Armenier war Journalist, auch wenn er, anders als Serdar, der für die Cumhuriyet arbeitete, für die Radikal, ein linksgerichtetes Blatt, schrieb. Sein lässiges Auftreten und seine offen zur Schau getragenen politischen Ansichten – es konnte durchaus vorkommen, dass er während einer Diskussion eine Taschenausgabe des kommunistischen Manifests zückte, um seine Aussagen durch Zitate zu untermauern – bereiteten ihm zuweilen Probleme, doch seine Vorgesetzten wussten, dass es kaum einen hartnäckigeren Investigativjournalisten diesseits des Balkan gab. Er hatte sich mit Serdar in eines ihrer Stammcafés, einem von einem in die Jahre gekommenem Altsozialisten geführten Etablissement, dessen Schankraum eine für etwas höher gewachsene Zeitgenossen viel zu niedrige Decke hatte und in dem man sich unter den wachsamen Augen der Porträts großer Revolutionäre seine Getränke zu Gemüte führen konnte gesetzt, wo sich ein Gespräch über ihre Erlebnisse der letzten Tage entsponnen hatte. Als sie schließlich auf die Arbeit zu sprechen gekommen waren erzählte Serdar von seinen Treffen mit den Gewerkschaftlern. Die Schilderungen entlockten Victor ein hämisches Lachen. „Ah, die Streiks. Ich konnte gerade noch rechtzeitig die Flucht antreten, als die Redaktion jemanden für diese Sache suchte. Ich bin an etwas viel besserem dran.“ Serdar wurde hellhörig. Er wusste, dass sein Freund nicht zu überzogener Begeisterung für banale Themen neigte. Wenn er so von etwas sprach, musste es interessant sein. „Lass hören.“

    „Vorgestern ist eine Frau an der Metro-Station Levent vor einen Zug geraten. An sich nichts atemberaubendes, aber...“ Er beugte sich etwas vor und flüsterte mehr, als das er es laut aussprach: „Das Mädchen war Sekretärin von Fahri Mahir.“ „Mahir?“, brach es überrascht aus Serdar heraus. Fahri Mahir war subalterner Wirtschaftskommissar für Griechenland und die südlichen Schwarzmeeranrainer und hatte gute Chancen auf einen Posten in Brüssel. „Ja“, murmelte Victor und bedeutete Serdar dabei mit einer Geste leiser zu sein. „Ich hab nachgehakt und glaube, dass an der Sache was dran ist. Ein Unfall war es nicht, soviel steht fest. Das ist groß. Sehr groß.“ „Sag mir, wenn was dabei rauskommt.“ Der Armenier grinste. „Ich sage dir Bescheid, wenn du dir mal wieder die Radikal kaufen solltest.“

    Am nächsten Tag:

    Victor Saroyan warf in hastigen, ruckartigen Bewegungen Blicke über die Schulter, während er sich weiter durch das Gedränge auf dem Mısır Çarşısı drängelte. Immer wieder stieß er mit Passanten zusammen, deren zum Teil wütende Blicke und aufgebrachte Rufe er ignorierte. Die pure Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, aus dem alle Farbe gewichen war, doch an den wenigen, die davon Notiz zu nehmen schienen, war er zu schnell vorbei, als dass sie Zeit gehabt hätten zu reagieren. Erneut sah er sich um und hielt nach seinem Verfolger Ausschau. Als er seinen Verfolger nicht ausmachen konnte, nutzte er die Gelegenheit und bog schnell in einen abzweigenden Gang ab. Dort blieb er in einer Nische stehen und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Innerlich schalt er sich für seine Unvorsicht. Der ägyptische Markt mochte mit seinen gut überschaubaren Gängen und den zahllosen Menschen, die hier ein und aus gingen, ein guter Ort sein, um sich bei einem Treffen mit einer Quelle in der Menge zu verstecken, doch auch andere konnten den selben Vorteil nutzen und die wenigen Ein- und Ausgänge machten die Markthallen zu einer Falle. Er zog mit nervös zitternden Fingern sein Handy aus einer Tasche und begann eine Rufnummer einzutippen. Doch bevor er fertig war, legte sich auf einmal eine Hand von hinten über seinen Mund und er spürte einen kleinen Stich in der Seite. Er spürte noch, wie man ihn sanft zu Boden gleiten ließ. Dann schwand sein Bewusstsein.

    Einige Stunden später läutete bei Serdar Çakmak im Büro das Telefon. Er tippte kurz mit einer Hand auf die Freisprechanlage des Apparats, während die andere unaufhörlich weiter über die Tasten flog. „Cumhuriyet, Serdar Çakmak.“ „Herr Çakmak, hier ist Emine Ayral“, antwortete eine weibliche Stimme, die er als die der Victor vorgesetzten Redakteurin bei der Radikal erkannte. „Ah, Frau Ayral. Was gibt es?“ Ihre Stimme klang seltsam betreten, als sie weiter sprach, so dass ihm unbewusst schon klar war, dass etwas übles passiert sein musste, bevor er es hörte: „Victor ist vor zwei Stunden tot im ägyptischen Markt gefunden worden.“ Serdar erstarrte in der Bewegung. Einige Augenblicke lang versuchte sein Verstand zu begreifen, was ihm gerade offenbart worden war, dann fragte er: „Was?“ „Ein Händler hat ihn in einem Seitengang gefunden. Die Ärzte konnten nur noch den Totenschein ausfüllen.“ Er stützte die Stirn auf die Hände und fragte: „Was ist passiert?“ „Die erste Diagnose lautete auf Herzversagen. Die Polizei will sich aber erst nach einer Obduktion festlegen.“ „Her... Das kann nicht sein. Er war passionierter Sportler und 4000m-Läufer. So jemand leidet nicht an Herzschwäche.“ Er zögerte einen Moment. Dann meinte er: „Ich habe gestern mit ihm gesprochen. Er meinte er sei an einer großen Story dran. Hat es was damit zu tun?“ „Ich kann es nicht ausschließen. Er wollte sich deswegen mit jemandem treffen, aber genaueres weiß ich selber nicht.“ „Wenn sie erlauben, komme ich vorbei und sehe die Unterlagen durch.“ „Wenn sie möchten.“ „Ich bin in zwanzig Minuten da.“

    Ohne sich mit weiteren Abschiedsworten aufzuhalten schaltete er das Telefon ab, erhob sich in einer schwungvollen Bewegung von seinem Platz und nahm seine Jacke vom Hacken. Auf dem Weg in Richtung Ausgang blieb er an einer anderen Bürozelle stehen und meinte an den dort arbeitenden Mann gerichtet: „Umut, vor drei Tagen ist eine Frau an der Levent-Station vor den Zug geraten. Sieh nach, was du über sie ausgraben kannst.“ Der Angesprochene, ein untersetzter Mann, dessen bis auf einen Kranz dünner Haare geschwundener Haarschopf schon erste graue Strähnen zeigte und der immerzu von Tabakdunst eingehüllt schien, lehnte sich auf seinem Sitz zurück, sah ihn an und meinte: „Ich bin eigentlich beschäftigt.“ „Nicht reden, machen. Was immer du im Moment hast kann nicht so wichtig sein.“ Er schmunzelte. „Solange du den Kopf hinhältst. Irgendetwas, was ich wissen sollte?“ „Das kann ich dir sagen, wenn ich zurück bin.“

    So schnell die Geschwindigkeitsbegrenzungen es erlaubten fuhr Serdar in die Redaktion der Radikal. Er stürmte an der Frau am Empfang vorbei. Für Höflichkeiten war in seinem Denken kein Platz mehr. Alles, was ihn in diesem Moment antrieb, war das brennende Verlangen herauszufinden, was mit seinem Freund passiert war. Mit schnellen Schritten nahm er die Treppe in die Büroetage. Dort herrschte eine drückende Stimmung. Die Nachricht vom Tod eines ihrer Kollegen schien den hier arbeitenden Frauen und Männern die Stimme verschlagen zu haben. Die wenigen Gespräche wurden im Flüsterton geführt und das sonst allgegenwärtige Raunen vieler Stimmen, in das sich das Geräusch der Anschläge an den Tastaturen und das Rascheln von Papier mischten, war verstummt. Er ging mit schnellen Schritten durch das große Büro in die Räume der Redakteurin. Diese fand er an ihrem Schreibtisch vor, wo sie mit einem Stift in der Hand vor einem Briefblock saß und auf das Papier starrte. Mehrere kurze Sätze waren darauf schon durchgestrichen. „Hallo Çakmak“, murmelte sie mit dünner Stimme. „Frau Ayral.“ „Mussten sie schon einmal einen Nachruf für jemanden schreiben, den sie gekannt haben?“ Er schüttelte den Kopf. „Fühlt sich beschissen an.“ Sie seufzte. „Victors Schreibtisch ist der dritte auf der linken Seite. Tun sie sich keinen Zwang an.“

    Serdar ging zurück in den großen Büroraum und setzte sich an besagten Tisch. Schon ein erster Blick auf rundherum aufgehängten Pinnwände verriet ihm, wie intensiv die Recherchen seines Freundes gewesen sein mussten. Er schien sich vor allem auf Kontakte der Verunglückten und ihres Chefs mit einem großen Unternehmen konzentriert zu haben. Sowohl alte Zeitungsartikel, als auch Notizen, die er während Interviews gemacht zu haben schien, deuteten in diese Richtung. Außerdem schien Victor bei dem Vorfall in der Metrostation von Mord ausgegangen zu sein. Serdar legte einige der Zettel beiseite, um sich Kopien zu ziehen, und sah sich danach die letzten verwendeten Dateien auf dem Computer an. Darunter waren Aufnahmen der Überwachungskameras in der Levent-Station. Victor hatte sich jeweils die Abschnitte beschafft, auf denen die Frau zu sehen war. Von jenem Zeitpunkt, zu dem sie die Station betrat, bis zu ihrem Tod, war sie nur wenige Augenblicke nicht auf den Bändern zu sehen. Erst als sie schlussendlich an den Bahnsteig trat, stand sie in einem toten Winkel. Alles was er danach noch sah, waren ein paar andere Fahrgäste, die sich ebenfalls in die gleiche Richtung bewegtet, was allerdings nicht weiter verwunderlich war, war der Bahnsteig zu fraglichem Zeitpunkt doch heillos überfüllt gewesen. Dann sah man nur noch die erschrockenen Reaktionen der Zeugen und schließlich das Eintreffen der Polizei. Er sah sich die Bilder mehrmals bis zum Schluss an. Und als er die Bilder vom Abtransport der Leiche sah, zerfiel die Hypothese der Polizei von Selbstmord vor seinen Augen zu Staub. Der Aktenkoffer, den sie beim Betreten des Bahnhofes noch bei sich gehabt hatte, war nicht mehr in ihrer Hand.

    Er spulte einige Minuten zurück und sah sich sie Szene wieder und wieder an. Es bestand kein Zweifel, dass sie den Koffer bei sich gehabt hatte, bis sie vom Band verschwunden war. Doch die Polizei hatte ihn nicht wieder mitgenommen und im vorliegenden Untersuchungsbericht war nirgends die Rede davon. Die Beamten schienen sich nicht die Mühe gemacht zu haben die Sache genauer zu überprüfen. Nun suchte er die Bänder nach der verschwundenen Tasche ab. Er fand ihn schließlich in der Hand eines Mannes, der mit Schritten, die gerade langsam genug waren, um kein Aufsehen zu erregen, in Richtung des Ausganges ging. Sollte es tatsächlich Mord gewesen sein, hatte er gerade den Hauptverdächtigen vor Augen. Er machte sich einen Abzug des Bildes, kopierte die Materialien, die ihm wichtig erschienen und rief Umut an, um ihm Bescheid zu sagen, dass es wahrscheinlich um Mord ging. Dann warf er noch einen Blick in Victors Emails. Eine fiel ihm dabei ins Auge...

    Gut drei Stunden später stand er auf einem Platz zwischen den hoch aufragenden Wolkenkratzern Levents und ließ seinen Blick immer wieder über seine Umgebung schweifen. Der Platz war in das diffuse Spiel reflektierten Lichts getaucht, das von den Fassaden der umstehenden Gebäude dutzendfach zurückgeworfen und gespiegelt wurde. Alles war von Leuten in feinem Zwirn erfüllt, die nach getanem Tagewerk zu den Metrostationen strömten. Einige von ihnen warfen auch jetzt noch immer wieder Blicke auf die weltweiten Aktienkurse, die an den Fassaden vieler Bankgebäude holographisch projiziert wurden, und redeten durch ihre Telefone heftig auf undefinierbare Gesprächspartner ein. Für einen Spezialisten für die Behandlung von Magengeschwüren musste das hier das El Dorado sein.

    Serdar selbst hatte versucht sich irgendwie in die Szenerie einzufügen, indem er sich seinen besten Anzug angezogen hatte und sich bewusst am Rand hielt. Victor hatte sich mit einer Quelle treffen wollen, die ihm kurz nachdem er zum geplanten Treffen aufgebrochen war noch eine Mail geschickt hatte, in der sie davor gewarnt hatte, dass ihre Gespräche wohlmöglich aufgeflogen waren und sie beide unter Beobachtung standen. Victor hatte die Nachricht nicht mehr erhalten und war auf den ägyptischen Markt gegangen... Serdar hatte sich nun mit fraglicher Person in Verbindung gesetzt. Er hatte nicht mehr gehabt, als eine anonyme E-Mail-Adresse, aber es hatte ausgereicht unter der Behauptung Victor zu sein ein neues Treffen auszumachen. Dieses Mal hatte die Quelle darauf bestanden sich hier, im Schatten der Wolkenkratzer der Finanzinstitute zu treffen. Er konnte nur vermuten, dass dieser Ort dem natürlichen Umfeld des Informanten gleich kam, so dass es nicht sofort Verdacht erregte, wenn er sich hier mit jemandem traf.

    Während er wartete, meldete sich sein Messenger. Als er das Gespräch annahm, erschien Umuts etwas mürrisch dreinblickendes Gesicht mit einer Zigarette zwischen den Zähnen auf dem Bildschirm. „Hallo Serdar“, murmelte er. „Bereit für ein paar Informationen?“ „Habt ihr etwas über die Tote herausgefunden?“ „Abgesehen davon, dass ich in der falschen Branche arbeite? Ich könnte meine komplette Wohnung ohne Probleme im Wohnzimmer deiner Freundin unterbringen.“ Er schmunzelte. „Jep, abgesehen davon.“ „Hm. Besonders ergiebig war die Sache nicht. Vielleicht hätten wir mehr herausfinden können, wenn wir gewusst hätten, wonach wir suchen sollen.“ „Das weiß ich selbst noch nicht wirklich.“ „Dann muss das wohl reichen. Hör zu: Wir haben uns in der Wohnung etwas umgesehen. Ist alles schon durchsucht worden. Die Festplatte des Computers und die meisten Akten fehlten...“ „Sagen sie es einfach“, hörte Serdar eine andere Stimme im Hintergrund, die er als die einer jungen Mitarbeiterin der Redaktion erkannte, „wir sind eingebrochen.“ Umut drehte kurz den Kopf weg und erwiderte: „So was nennt man gründliche Recherche.“ Dann, wieder an seinen Messenger gewandt, erklärte er: „Die Wohnung war so sauber, dass man die Frau fast für einen Roboter ohne eigene Persönlichkeit hätte halten können. Aber ich habe eine unter den Schreibtisch gefallene Notiz gefunden. Die Frau wollte sich vor ein paar Tagen mit jemandem treffen. Nicht ganz beruflich, wie es scheint. Esin und ich haben zwei Stunden lang die Nachbarn ausgehorcht. Die Frau hat sich in der Woche vor ihrem Tod immer wieder mit zwei Männern getroffen. Mein Gefühl sagt mir, dass das mehr als eine einfache Dreiecksgeschichte war. Außerdem hat irgendjemand die Frau abgehört. Ich habe eine Wanze in der Wohnung gefunden. Ich schicke dir alles.“ „Danke. Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.“

    Es dauerte einige Augenblicke, dann meldete das Gerät in seiner Hand einen Dateneingang. Er warf einen Blick auf die Informationen und rief danach Inspektor Cavit an. Nach einem kurzen Austausch von Nettigkeiten, der etwas von gegenseitigem Belauern an sich gehabt hatte, sprach er das eigentliche Thema an: „Inspektor, ich brauche Informationen über jemanden. Der Mann heißt Ender Mardin.“ Für einen Moment hörte er nur das Geräusch von Tippen auf einer Tastatur. Dann fragte Cavit: „An was arbeiten sie im Moment, Çakmak?“ „Ist das wirklich wichtig?“ „Auf jeden Fall. Ganz abgesehen davon dass ich gegen ein halbes Dutzend Vorschriften verstoße, wenn ich sie die Akte lesen lasse, ist der Kerl gefährlich. Hat fünf Jahre wegen Totschlags abgesessen.“ „Was hat er angestellt?“ „Er hat mit bloßen Händen einen Kleinkriminellen erledigt, der sich das falsche Opfer für einen Überfall ausgesucht hat. Weil er Ex-Soldat ist, entschieden die Richter, dass er dabei wusste, was er tat und verweigerten die Einstufung als Notwehr. Bevor ich also ein einziges weiteres Wort verrate, will ich mehr wissen.“ Serdar rang kurz mit sich. Dann resignierte er und erzählte vom Tod seines Freundes und dessen letzter Story.

    Er konnte hören, wie Cavit förmlich an die Decke ging. „Lassen sie es“, fuhr er ihn an. „Hier zu ermitteln ist Sache der Polizei. Und bleiben sie bloß von Mahir fern. Als meine Ermittlungen in seine Richtung wiesen, waren mehrere Stellen sofort da, um mich zurückzupfeifen. Was immer auch hier vorgeht ist gefährlich. Und selbst wenn ich ihre penetrante Art dann nicht mehr ertragen müsste, will ich nicht demnächst ihre Leiche aus dem Hafenbecken fischen müssen. So etwas verursacht nur endlosen Papierkrieg.“ Serdar wollte zu einer entsprechenden Erwiderung ansetzen. In diesem Augenblick sah er aber einen Mann, der das vereinbarte Erkennungszeichen, zwei verschiedenfarbige Schuhe, trug aus einem der Gebäude kommen. „Ich muss Schluss machen, Inspektor. Ich rufe sie später noch mal an.“

    Er ging auf den Mann, der sich immer wieder verstohlen umsah, zu und fragte: „Sind sie Pharao?“ Der Fremde musterte ihn von oben bis unten und zeigte keine Reaktion auf die Erwähnung des in den E-Mails erwähnten Decknamens. „Ich habe keine Ahnung wovon sie reden. Wenn sie mich bitte entschuldigen würden, ich muss zu meinem Zug.“ Er wollte sich abwenden und gehen, doch als Serdar sagte „Gestern: Korrespondenz aufgeflogen, empfehle neues Treffen. Und dann heute: Kommen sie zur Büyükdere Caddesi, Vorplatz des Cezayirli-Komplexes, 17 Uhr“, hielt er inne. „Sie sind nicht Saroyan.“ „Nein. Aber er war ein guter Freund.“ Der Fremde drehte wieder sich um. „Heißt das...?“ „Er hat ihre Warnung nicht mehr bekommen. Ich will jetzt wissen, was dahinter steckt.“ „Ihnen dürfte klar sein, dass das alles nicht unbedingt förderlich für meine Motivation ist. Ganz zu schweigen davon könnte mein Leben jetzt auch in Gefahr sein.“ „Sie wollten Victor etwas erzählen. Sagen sie es mir, dann verstehe ich vielleicht warum mein Freund sterben musste.“

    Der Fremde überlegte einen Moment. Dann meinte er: „Gut. Wären sie damit beauftragt mich zum Schweigen zu bringen hätten sie mich wohl kaum so angesprochen. Ihr Freund hat mich darauf angesprochen, dass ich einige Jahre für Sunay-Arms gearbeitet. Ich war damals in der Rechtsabteilung für Risikobewertungen zuständig.“ Er trat unschlüssig von einem Bein auf das andere und dachte einen Moment lang nach. Dann fragte er: „Erinnern sie sich noch an die Iran-Affäre?“ „Sie meinen die Waffengeschäfte nach dem Bürgerkrieg?“ Der Fremde nickte. „Sunay hat damals bei der Auflösung der Arsenale der Streitkräfte Leitsysteme für Raketen nach Teheran verschoben. Als dann ein paar Jahre später die Abrechnung kam, wäre auch sein Name im Untersuchungsausschuss der EU gefallen. Aber dann ist der Vorsitzende überraschend ausgestiegen und der Posten ging an einen Newcomer.“ „Fahri Mahir.“ Der Fremde nickte erneut. „Zwei Wochen später fiel mir bei der Durchsicht von Unterlagen auf, dass Sunay über einige Strohfirmen mehr als vier Millionen Euro an Mahir gezahlt hatte. Und sein Name tauchte nie wieder in irgendwelchen Unterlagen des Ausschusses auf.“

    Hätte man ihm in diesem Moment einen Spiegel vorgehalten, hätte Serdar sehen können, wie plötzlich schiere Begeisterung in seinen Gesichtszügen zu lesen war. „Die personifizierte Integrität der Politik im östlichen Mittelmeer hat sich kaufen lassen?“ „Er hat. Und das sogar recht billig, bedenkt man in welcher Lage Sunay damals steckte. Aber es ging wohl nicht nur um die Waffengeschäfte. Ich weiß nicht was es war, aber der Chef wollte noch etwas deutlich größeres vertuschen, auf das der Ausschuss zu stoßen drohte. Als ich versucht habe etwas genaueres herauszufinden hat man mich versetzt und versucht zum Schweigen zu bringen. Zum Glück habe ich die Zeichen rechtzeitig erkannt und mir einen neuen Job gesucht.“ Aufgeregt hakte Serdar nach: „Können sie irgendetwas davon beweisen?“ Sein Gegenüber lachte. „Das ich es kann ist der einzige Grund, dass man mich so ungeschoren hat davonkommen lassen. Ich habe damals Kopien wichtiger Unterlagen gezogen und...“ - sein Tonfall änderte sich, als wolle er für den Fall, dass sein Gesprächspartner nicht der war, der er zu sein vorgab, sicher gehen, dass seine Worte ankamen - „habe Vorkehrungen getroffen, dass alles in an die Staatsanwaltschaft geht, sollte mir etwas zustoßen.“

    Serdar machte einen halben Schritt auf ihn zu und sagte: „Ich schulde es Victor seine Recherche zu Ende zu führen. Wenn sie die Sache ein für alle Mal beendet sehen wollen, schicken sie Kopien ihrer Beweise an meine Redaktion.“ Er reichte ihm eine Visitenkarte. Der Fremde nahm sie, warf einen Blick darauf und antwortete: „Sie gehen ein großes Risiko ein, Herr Çakmak. Ihr Freund ist schon gestorben, weil er den falschen Leuten zu offen Fragen gestellt hat.“ „Vielleicht. Aber sie haben versucht ihn zu warnen. Zwei Stunden vor dem vereinbarten Treffen. Das reicht mir. Überlegen sie es sich, guter Mann. Auf Wiedersehen.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging zurück zu seinem Wagen. Als er eingestiegen war, zückte er einen Notizblock und begann sich einige Stichpunkte aufzuschreiben.

    Während er damit beschäftigt war, meldete sich sein Messenger. Mit einem Blick auf das Display stellte er fest, dass der Inspektor ihm eine Nachricht geschickt hatte. „Ich sollte ihnen eigentlich nichts sagen, aber ich mag es nicht, wenn man mir ohne Begründung einen Fall verbietet. Im Anhang sind alle Infos über den Mann, nach dem sie gefragt haben. Außerdem haben wir den Toten vom Hafen auf Überwachungsvideos einer Metro-Station, wie er einige Stunden vor seinem Tod eine Telefonzelle benutzt. Die Anrufprotokolle beweisen, dass er mit Mahirs Büro telefoniert hat. Mir ist klar, was sie jetzt tun werden. Hören sie dabei ein einziges Mal auf mich: Seien sie vorsichtig.“ Im Anhang an die Meldung war ein Auszug aus der polizeilichen Akte von Ender Mardin. Serdar schmunzelte und schrieb sich die Details raus, bevor der den Anhang an seinen Rechner im Büro weiter schickte und die Nachricht löschte. Glaubte man der Akte, war Mardin ein Kriegsveteran, bis auf jenen unglückseligen Vorfall mit einem Kleinkriminellen, ein nahezu unbeschriebenes Blatt. Nur ein sechs Jahre in den Zwanzigern umfassende Frist, deren Einträge verschlüsselt waren, machte ihn stutzig. Einträge dieser Art dienten normalerweise als Werkzeug, um wichtige Arbeit im Staatsdienst zu vertuschen oder als geheim eingestufte Informationen zurückzuhalten. Eins war klar: Die Sache gewann mit jedem Schritt, der er der Lösung näher kam, mehr an Dynamik.

    Er beschloss die frühen Abendstunden zu nutzen, um einen Blick auf Mardin zu werfen. Er nahm eine der Brücken über den Bosporus auf die asiatische Seite. Mardin wohnte in Maltepe, einem großen Stadtviertel, das in weiten Teilen von Wohnsiedlungen aus den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt war. Auf dem Weg zu der Wohnsiedlung, in der Mardin gemeldet war, bot die Stadt ihm einen Blick auf eine jener Veränderungen dar, die Alteingesessenen wie ihm wie eine Umkehrung angestammter Verhältnisse schienen. So waren die alten Gecekondus, illegal errichtete Siedlungen oft armer Migranten, in diesem Teil der Stadt zum neuen Refugium der Wohlhabenden geworden, die in einer Imitation unabhängigen Lebens ihre eigene Spießigkeit zu verbergen versuchten, während die großen Wohnblöcke mehr und mehr die Verlierer der Veränderungen anlockten: Arme Schlucker und Arbeitslose, Armutsflüchtlinge, illegale Einwanderer und solche, die die selbst für eine Großstadt bemerkenswerte Anonymität in diesen Häusern schätzten, deren Bewohner den stillschweigenden Pakt geschlossen hatten keine Fragen nach dem Woher, dem Wohin oder dem Namen zu stellen. Er stellte seinen Wagen schließlich einige Straßen entfernt von seinem Ziel ab und ging den Rest des Weges zu Fuß.

    Das Haus in dem Mardin wohnte war einer jener alten Plattenbauten, an denen in den letzten Jahrzehnten nicht viel mehr geschehen war als notwendig, um einen Einsturz zu verhindern. Schon die Eingangstür schloss nicht richtig, viele Scheiben im Erdgeschoss waren zerbrochen und es stank nach von Feuchtigkeit durchtränktem Mauerwerk. Weder die Besitzer noch die Stadtverwaltung taten hier etwas. Zwar hatte die EU wiederholt Mittel für eine Sanierung des Viertels bereit gestellt, doch korrupte Hauseigentümer hatten das meiste in undurchsichtigen Kanälen verschwinden lassen. Serdar hatte einmal einen Artikel über die maffiösen Strukturen auf dem Mietmarkt dieses Viertels geschrieben, das man verrotten ließ, bis es zusammenbrach und die Verantwortlichen sich mit genug Geld hatten absetzen können. Es hatte danach viele Absichtsbekundungen gegeben die Lage zu verbessern, doch verändert hatte sich nicht wirklich viel. Die Aufzüge funktionierten nicht, so dass er in den achten Stock hinauf die Treppe nehmen musste. An der Wohnung angekommen klingelte er mehrmals. Niemand öffnete. Er wollte gerade die Türklinke probieren, als ihn jemand ansprach.

    Von links hörte er fragen: „Suchen sie jemanden?“ Er drehte sich um und musste sich beherrschen, um seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu behalten. Vor ihm stand Mardin. Sah man davon ab, dass seine Haare etwas länger waren und er sich seit einigen Tagen nicht rasiert zu haben schien, war sein Erscheinungsbild genau das selbe, wie auf den Fotos der Polizei. Doch das erschreckende war nicht sein plötzliches Auftauchen, sondern das Funkeln in seinen Augen, aus dem sich nur mühsam unterdrückte Aggressivität herauslesen ließ. Zudem hielt er zwar in der linken eine Einkaufstüte, hatte die Rechte aber hinter den Rücken geschoben. Serdar wollte es nicht darauf ankommen lassen herauszufinden, ob Mardin bewaffnet war oder ihn angreifen würde, so dass er sich einfach nur bemühte ein unverfängliches Gesicht zu machen und sagte: „Ja. Einen gewissen Ender Mardin. Ich stehe nicht zufällig vor ihm?“ Mit lauernd wirkendem Blick schüttelte der andere den Kopf. „Nein. Ich wohne hier nur zur Untermiete. Ender ist im Moment unterwegs. Ich weiß nicht wann er wiederkommt. Soll ich ihm sagen, dass sie hier waren?“ Serdar hob verneinend die Hände. „Das wird nicht nötig sein. Ich versuche es morgen noch einmal.“ Er wandte sich ab und ging. Als er hörte wie Mardin die Tür aufschloss, riskierte er es mit der Kamera seines Messengers möglichst unauffällig ein Foto von ihm zu machen. Dann erreichte er das Treppenhaus.
    Geändert von Protheus (16.02.2010 um 20:13 Uhr)
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  7. #26
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    Als er um die Ecke gebogen war, blieb er erst einmal stehen und atmete tief durch. Dann warf er einen Blick auf das Bild. Er grinste triumphierend, als er merkte, dass Mardin voll drauf war. Er ließ das Gerät den betreffenden Ausschnitt vergrößern und sah ihn genau an. Dabei fiel ihm etwas auf: Ein Ring an Mardins rechter Hand, die den Schlüssel im Schloss drehte, wie er ihn schon einmal gesehen hatte. Dann hörte er plötzlich erneut eine Tür gehen und Schritte auf dem Flur. Hastig steckte er den Messenger weg und ging nach unten. Als er zwei Treppenabsätze hinter sich gebracht hatte, erreichte Mardin das Treppenhaus und sah sich um. Als ihre Blicke sich trafen, beschleunigte er auf einmal seine Schritte. Serdar reagierte sofort, indem er es ihm gleich tat. Er schaffte es etwas Abstand zwischen sie beide zu bringen, so dass er als erstes die Eingangstüren erreichte. Nur würde er seinem Verfolger draußen nicht entgehen können und bis zu seinem Wagen waren es mehrere hundert Meter und drei Straßenecken.

    Er sah sich um. Sein Atem beschleunigte sich und er spürte Angst in sich aufsteigen. In diesem Moment wünschte er auf Cavits Warnungen gehört zu haben. Kurzentschlossen lief er durch die Tür, die in die Tiefgarage des Hauses führte. Dort huschte er im Halbdunkel – gut die Hälfte der Neonleuchten an der Decke funktionierte nicht – hinter das nächste Fahrzeug und duckte sich. Aus seinem Versteck heraus konnte er in einer Spiegelung in der Karosse eines geparkten Wagens nach gut einer halben Minute Mardin mit schnellen Schritten im Durchgang vom Treppenhaus her auftauchen. Der Mann sah sich um und machte einige langsame Schritte vorwärts. Dabei zog er auf den ersten Blick absonderlich geformte Pistole und ging dann die Reihen der Fahrzeuge ab. Serdar schlich geduckt weiter und versuchte immer einige Hindernisse zwischen sich und seinem Verfolger zu halten. Als Mardin schließlich nur noch eine Gasse von ihm entfernt war, hörten beide andere Schritte und Stimmen. Eine Gruppe anderer Anwohner betrat die Garage und ging sich angeregt unterhaltend zu einem Lieferwagen. Mardin versteckte sich für einen Moment hinter einer Säule und Serdar ergriff seine Chance. Er schlich vorwärts und sprang auf den Wagen auf, als er an ihm vorbeifuhr. Er schaffte es einen Fuß auf die Trittstufe am Heck des Wagens zu setzen und sich irgendwie festzuhalten. Er sprang erst ab, als sie einige hundert Meter vom Wohnblock entfernt waren.

    Er machte sich sofort auf den Rückweg zur Redaktion. Während der Fahrt rief er noch einen Ägypter an, der ihn zuweilen mit Informationen versorgte. Er wusste von ihm, dass er seine Finger im Straßenhandel mit Whiplash hatte, auch wenn er es immer abstritt. Er verfügte über die nötigen Kontakte, um mehr über den Toten vom Hafen herauszufinden. Zurück in der Redaktion ging er zuerst zu seinem Arbeitsplatz, um die Akten der Polizei auszudrucken. Dabei traf er Umut, der gerade dabei war an einem eigenen Artikel zu schreiben. Dabei stapelten sich die Zigarettenstummel im Aschenbecher neben ihm schon über den Rand hinaus und er nahm in kurzen Abständen immer wieder einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Die Arbeit schien eher schleppend voran zu gehen. Als er Serdar bemerkte, sah er von seinem Bildschirm auf und meinte: „Ah, hallo. Hast du noch was herausgefunden?“ „Sagen wir einfach der Tag war etwas aufregender, als mir lieb ist. Aber eins kann ich versprechen: Victors Story ist zehnmal größer, als alles was wir im letzten halben Jahr hatten.“ Er holte sich die Papiere aus dem Drucker und meinte dann: „Ich muss ins Archiv. Vielleicht kann Hakan mir ein paar offene Fragen beantworten. Kommst du mit?“

    Gemeinsam fuhren sie mit dem Aufzug in den Keller, wo das Archiv lag. Schon bevor sie dort ankamen hörten sie eine laute Baritonstimme. Umut verzog bei diesem Klang spöttisch das Gesicht und grinste breit. Der Archivar Hakan neigte dazu während seiner Arbeit laut zu singen. Er selbst sprach davon die Stille im Archiv übertönen zu wollen. Die meisten anderen vermuteten dass er eher versuchte Besucher fern zu halten. Als sie die Archivräume betraten, machte Serdar mit lautem Klopfen an der offen stehenden Tür auf sich aufmerksam. Einige Augenblicke später tauchte Hakan zwischen einigen Regalen auf. Er war ein in die Jahre gekommener Mann, der sein Archiv nur zu verlassen schien um zu essen und zu schlafen. Sein ergrautes Haar war stets streng zurückgekämmt und Auftreten schien einer anderen Zeit entsprungen. Er war überzeugter türkischer Nationalist und machte keinen Hehl daraus, dass er der europäischen Einigung ablehnend gegenüberstand. Böse Zungen spotteten er würde mit einem Bild von Attatürk unter dem Kopfkissen schlafen und versuche den Veränderungen in der Welt zu entkommen, indem er sich in seinem Archiv vergrub. Er sah die beiden Journalisten fragend an und meinte: „Was kann ich für sie tun?“

    „Ich wüsste gerne ob unser Archiv etwas über einige Sachen hergibt.“ Er legte Mardins Akte und das Foto vor. Dabei deutete er auf den Ring und meinte: „Irgendwo habe ich solche Schmuckstücke schon mal gesehen. Aber ich kann mich nicht mehr genau erinnern wo.“ Hakan winkte ab. „Kein Problem. Warten sie bitte einen Moment.“ Mit diesen Worten verschwand er zwischen den Regalen, um einige Minuten später mit diversen Zeitungen unter dem Arm wieder aufzutauchen. Er war mit dem geschlagen, was man umgangssprachlich als photographisches Gedächtnis bezeichnete, so dass er den Inhalt jeder einzelnen Ausgabe, die er hier archiviert hatte, bis ins Detail kannte. Vielleicht war das der Grund warum er das elektronische Archiv immer mied, als sei es Teufelswerk und lieber das Gefühl von Papier in den Händen und Druckerschwärze an den Fingern erlebte: Er brauchte den Computer nicht. „Der Ring“, erklärte er, „zeigt ein Abzeichen einer paramilitärischen Einheit, über die wir 2026 berichtet haben. Angesichts der Vergangenheit dieses Mannes würde ich vermuten, dass er dazu gehörte.“ „Sie meinen weil er Kriegsveteran ist?“ Hakan schmunzelte. „Oh, er ist weit mehr als das. Er ist ein wahrer Held.“

    Er legte Serdar und Umut ein Exemplar einer Ausgabe aus dem Frühjahr 2009 vor. Der Leitartikel war mit dem Wort 'Sieg' überschrieben. Es war eine Schilderung der Ereignisse um die Schlacht von Dakara, die den Wendepunkt des Ori-Krieges markiert hatte. Als er das Foto darunter betrachtete, fiel Serdar die Kinnlade herunter. Es zeigte irdische Soldaten beim Sturm auf den Tempelberg von Dakara. Und einer davon war unzweifelhaft Ender Mardin. „Ihr Freund“, meinte Hakan, „war Soldat im Freiwilligenkorps, dass die Streitkräfte 2008 zur Unterstützung der Sternentornationen ausgehoben haben. Seine Kompanie war in der zweiten Welle der Landung, die den Tempel von den Ori zurückgeholt und die alte Maschine dort zerstört hat.“ Serdar überflog den Artikel und blätterte einige Seiten weiter zu einem ausführlichen Bericht. Dort war ein zweites Foto auf dem auch Mardin zu sehen war. Es zeigte Überlebende seiner Einheit zusammen mit deutschen Soldaten um eine eroberte Standarte der Orikrieger stehen.

    „Die gehören zur zweiten Kompanie, die bei der Rückeroberung dabei waren“, erklärte der Archivar. „Eine Einheit junger Freiwilliger, die während des Goa'uld-Krieges ausgehoben worden und für den Kampf gegen die Ori ein zweites Mal mobilisiert worden war. Unerfahrene Grünschnäbel, die an allen Fronten das schlimmste erlebt haben. Aber hier waren sie Helden.“ „Und was ist aus ihnen geworden?“ „Darüber haben wir nie berichtet. Aber ich weiß, dass das Freiwilligenkorps nach dem Krieg aufgelöst und die Angehörigen aus dem Dienst entlassen wurden. Ich vermute dass die Deutschen ähnlich verfahren sind.“ Serdar nickte und legte die Zeitung wieder beiseite. „Und zu welcher Einheit gehört der Ring?“ Hakan zog die Zeitung von 2026 hervor. „Konzernsöldner von Ganymed“, konstatierte er lakonisch und warf das Blatt auf den Tisch. Der Leitartikel zeigte Jupiter und den Sklavenmond. Serdar murmelte einige unverständliche Dinge vor sich hin. Dann brach plötzlich aus ihm heraus: „Hakan, ich brauche die Ausgaben der letzten zwei Wochen. Internationales und Wirtschaft.“

    Der Archivar brachte die verlangten Zeitungen. Serdar schlug einige Artikel darin nach. Dann, als er die letzte Zeitung mit einer ruckartigen Bewegung wieder schloss und auf den Tisch legte, meinte er: „Alles fügt sich zusammen. Umut, ich weiß was hier vorgeht.“ „Und was?“ „Nein, nicht jetzt. Mir fehlt noch ein letztes Glied in der Kette. Ich warte noch auf einen Anruf von Bilal. Dann kann ich alles erklären.“ „Moment. Whiplash-Bilal?“ „Ja.“ Umut verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. „Kein Wort von dem Kerl wäre auch nur den Knüppel wert mit dem ich ihm am liebsten den Schädel einschlagen würde. Als Quelle taugt er nichts.“ Serdar hob beschwichtigend die Hände. „Ich hoffe auch nur darauf, dass er für mich jemand verlässlicheren findet. Mit etwas Glück... Ich muss jetzt zurück ins Büro. Je schneller ich die Sache zu Papier bringe, desto besser.“

    Im Verlauf des nächsten Tages bekam er tatsächlich einen Anruf vom Ägypter. Dieser hatte bei einigen Dealern auf der Straße herumgefragt und in Erfahrung gebracht, dass der Tote sich mit dem Diebstahl von Handtaschen und Aktenkoffern das Geld für die Drogen beschafft hatte. Einer konnte auch eine Freundin benennen, mit der der Tote seit einiger Zeit zusammenlebte. Niemand kannte die Bleibe der Beiden, so dass Serdar nicht viel mehr übrig blieb als mit einer Beschreibung einige Junkietreffpunkte der Stadt abzuklappern. Es wurde früher Nachmittag bis er schließlich fündig wurde. Die Frau trieb sich in einer Parkanlage. Vor neugierigen Blicken versteckt trafen sich gescheiterte Existenzen hier an einem schattigen Platz. Als Serdar sich näherte – anständig gekleidet und körperlich gut in Form war er eindeutig niemand, der hauptberuflich an der Nadel hing – zerstreute die Gruppe sich. Es gelang ihm mit einigen schnellen Schritten zu der Frau aufzuschließen, die vorher nur auf einer Parkbank gesessen und mit gepeinigtem Blick ins Leere gestarrt hatte. „Moment“, sagte er, „ich will mit ihnen reden.“

    Sie musterte ihn, schlang die Arme um den Körper als sei ihr kalt und sagte mit zittriger Stimme: „Ich bin nicht so eine.“ Serdar riss überrascht die Augen auf, als ihm klar wurde worauf sie hinaus wollte. „Was? Nein, nein. Ich möchte nur ein paar Fragen stellen.“ „Was immer es auch ist, ich war's nicht.“ „Es geht auch um ihren Freund. Altan.“ Sie kniff die Augen misstrauisch zusammen. „Hat er ihnen Geld geschuldet?“ „Nein. Ich hoffte nur etwas über ihn in Erfahrung bringen zu können.“ Er deutete auf einen der durch den Park führenden Wege. „Klären wir das unter vier Augen.“ Sie zögerte kurz, nickte dann aber und folgte ihm. Er ging mit ihr auf eine große und gut zu überblickende Wiese, wo er sicher sein konnte, dass kein unerwünschter Lauscher in der Nähe war. „Ich bin Reporter“, erklärte er, „und glaube, dass sein Tod im Zusammenhang mit meinen Recherchen steht.“

    „Es geht um diesen verdammten Koffer, nicht wahr?“, wollte sie wissen. Serdar nickte. Sie drehte ihm den Rücken zu, sah einen Moment lang ins Leere und schniefte. Dann sagte sie: „Ich hab ihm gesagt er soll das Ding einfach wegwerfen. Aber er hat geglaubt damit ganz groß Geld machen zu können. Wollte diesen Geldsack erpressen. Und dann ist er nicht wieder gekommen.“ Mehr aus Pietät, als ehrlichem Empfinden heraus schwieg Serdar einen Moment und meinte dann: „Es tut mir Leid.“ Eine Aussage, die kaum unwahrer hätte sein können. Nicht dass ihn unnötiger Tod unberührt lassen würde, doch letztlich war ihm ein Mord an einem Kleinkriminellen egal. Der einzige Tod der ihn interessierte war der seines Freundes. Die Frau lachte leise. „Ist egal. Er wollte es unbedingt anstatt mir zuzuhören. Soll er doch verrotten.“ „Wissen sie was in dem Koffer war?“ Sie drehte sich wieder um. „Ich habe ihn noch...“ „Was?“ „Altan hat zu dem Treffen einen leeren Koffer mitgenommen, weil er Angst hatte das man ihn übers Ohr hauen wollte. Und ich wusste irgendwie nicht was ich mit dem Ding machen soll. Wollen sie ihn haben?“ Er nickte. „Das kostet sie aber was.“

    Er lächelte verlegen. Er hatte zwar nicht damit gerechnet wichtige Informationen umsonst zu bekommen, doch zugleich bestand kein Zweifel wofür die Frau das Geld ausgeben würde. Sie zeigte alle Anzeichen kalten Entzugs von Whiplash und er genug darüber gelesen um zu wissen, dass für Leute in diesem Zustand jede Sekunde ohne die nächste Dosis eine Tortur war. „Wissen sie“, sagte er, „ich habe eine Regel: Niemals einem Betrunkenen einen auszugeben.“ Für einen Moment sah sie ihn mit unverändertem Blick an, dann brach sie unvermittelt in leises Wimmern aus. Sie nahm eine Hand an den Mund und kaute nervös auf ihren Nägeln herum. „Ich brauche was.“ Er schüttelte den Kopf. „Bei fast allem anderen würde ich Ja sagen, aber nicht dieses Mal. Das Zeug, das sie nehmen, bringt jedes Jahr mehr Leute um als Koks und H zusammen.“ Sie begann zu zittern. „Nein, nein, nein. So läuft das nicht. 300 oder ich behalte den Koffer.“ Er machte einen vorsichtigen Schritt näher und streckte eine Hand nach ihr aus. Als er sie an der Schulter berührte schlug sie seine Hand weg. Als er jedoch ein zweites Mal zufasste und sie vorsichtig bei der Hand nahm, blieb sie ruhig. „Kommen sie. Ich bringe sie zu jemandem, der ihnen helfen kann.“

    Er fuhr sie zur Praxis eines mit ihm bekannten Arztes, den er überredete ihr ein Mittel zu geben, dass die Entzugserscheinungen linderte und die Entgiftung fördern sollte. Als ihre Schmerzen nachließen sagte sie Serdar schließlich wo er den Koffer finden konnte. Danach bestand der Arzt darauf dass sie ein paar Stunden schlafen sollte. Er fand im genannten Versteck schließlich einen teuren Lederkoffer, der unzweifelhaft derselbe war, den Mahirs Assistentin in der Metrostation bei sich gehabt hatte. Darin fand er Papiere, die offenbar Kopien von Dossiers über gut zwanzig Personen waren. Vergangenheit, Persönlichkeitsprofile, Fähigkeiten, bekannte Aufenthaltsorte der Gruppe... Und der Name auf dem Dossier, das oben auflag, ließ sein Herz höher schlagen.

    Am Abend desselben Tages ging er durch eine wenig belebte Straße in einem alten Industriegebiet von Kartal, in dem sich mittlerweile vor allem Wohnungen befanden. Sein Ziel war eine der hiesigen Bars, die Ender Mardin in der Zeit der polizeilichen Ermittlungen gegen ihn öfter besucht hatte. Serdar hoffte, dass er seine Gewohnheiten in dieser Hinsicht nicht geändert hatte. Er war sich zwar mittlerweile völlig sicher, dass von Mardin keine unmittelbare Gefahr für ihn ausging, aber das Verhalten des ehemaligen Söldners bei ihrem letzten Treffen hatte Bände gesprochen: Er hatte Angst und das machte ihn aggressiv. Vor diesem Hintergrund schien es logischer nicht noch einmal nach Maltepe zu gehen. Die Straße selbst war relativ leer. Zwei Männer standen ein kurzes Stück von der Bar entfernt in einem Hauseingang, ein weiterer und eine Frau direkt davor und einige Autos fuhren vorbei. Ansonsten war alles ruhig.

    Als er die Bar betrat und sich umsah, entdeckte er Mardin tatsächlich. Dieser saß neben einem anderen Mann an der Bar und unterhielt sich leise mit ihm. Als er Serdar bemerkte, fixierte er ihn für einen Moment und sein Blick wurde schlagartig hart. Um keine Eskalation zu riskieren hielt Serdar erst einmal Abstand und setzte sich an einen der Tische. Er ließ sich von der Kellnerin einen heißen Tee bringen und wartete. Es dauerte nicht lange, da verließ Mardins Gesprächspartner die Bar und der Veteran selbst setzte sich zu dem Reporter an den Tisch. Dabei behielt er eine Hand unter der Tischplatte. Serdar glaubte das Leise klicken einer Waffe zu hören, beschloss aber es zu ignorieren. „Man könnte meinen“, meinte Mardin, „dass sie Todessehnsucht verspüren sich so offen zu zeigen.“ Serdar grinste und erwiderte: „Nicht wirklich. Eigentlich bin ich nur hier, weil ich verhindern will, dass sie und ihre Freunde halb Istanbul in Blut tränken. Ihr Feldzug hat schon genug Tote gefordert.“ Mardin schüttelte den Kopf. „Sie haben keine Ahnung.“ „Ich weiß mehr, als sie glauben. Und ich habe etwas, das sie wollen. Aber bevor ich mein Wissen mit ihnen teile, will ich mit Julia Thora sprechen.“

    Der Name schien für einen Moment zwischen ihnen nachzuhallen. Mardin starrte für einen Moment die Tischplatte an. Dann zog er wortlos eine Zigarette aus einer Jackentasche, und steckte sie sich zwischen die Zähne. Während er noch mit dem Feuerzeug hantierte meinte er: „Was soll ich jetzt mit ihnen machen? Im Bosporus versenken? Erschießen? Einfach hier sitzen lassen?“ „Bringen sie mich einfach zu ihrer Anführerin.“ „Wenn sie soviel wissen, wie sie vorgeben, dann ist ihnen auch klar, dass ich das nicht riskieren kann.“ „Welches Risiko würden sie eingehen? Ich bin allein und unbewaffnet. Ich bin für niemanden in ihrer Gruppe ein Risiko.“ Mardin überlegte noch einen Moment lang. Dann wies er Serdar an aufzustehen und die Bar zu verlassen. Draußen wurde er in einen fensterlosen Lieferwagen gebracht, wo man ihm die Hände mit Kabelbinder fesselte. Es folgte eine längere Fahrt, an deren Ende er aus dem Wagen und direkt durch eine Tür geschoben wurde.

    Da er seine Umgebung nicht hatte wahrnehmen können, konnte er nur vermuten wo er war. Es schien allerdings ein Lager- und Büroraum im Wartungsbereich der Metro zu sein, wo man ihn an einen Tisch setzte. Außer den beiden Männern die ihn zusammen mit Mardin hier her gebracht hatten, waren noch drei andere und zwei Frauen im Raum. Jeder von ihnen trug Schutzkleidung und war bewaffnet. Er erkannte die Gesichter von den Dossiers wieder. Nach kurzer Zeit öffnete sich die zweite Tür, die in den Raum führte und eine Frau trat hindurch, bei deren Anblick er sich unwillkürlich erhob. Julia Thora trug eine alte Offiziersuniform der Ganymedes-Söldner und sah noch praktisch genauso aus, wie auf den Bildern von 2017, dem Jahr in dem sie für tot erklärt worden war. Oder zumindest hätte sie es getan, wäre ihre rechte Gesichtshälfte nicht genauso wie Teile ihres rechten Armes unter einem Verband verborgen gewesen und ihr Bein nicht geschient. Sie stützte sich auf eine Krücke und sah ihn aus ihrem nicht verdeckten Auge abschätzend an.

    „Meine Leute haben mir gesagt ein Gespräch mit ihnen könnte sich lohnen. Allerdings wissen wir nicht, was wir von ihnen halten sollen.“ Sie setzte sich ihm gegenüber. Zwischen buchstäblich hunderten Fragen hin und her gerissen, die ihm in den Sinn kamen, brauchte er einen Moment, um seine Sprache wieder zu finden. Dann sagte er: „Ich bin Serdar Çakmak, Journalist bei der Cumhuriyet. Einer meiner Freunde hat den Mord an ihrer Verbündeten an der Levent-Station untersucht und ist dabei gestorben. Ich fühlte mich verpflichtet die Sache aufzuklären.“ Jules zog überrascht ihre Augenbraue hoch. „Was haben sie herausgefunden?“ „Zum Beispiel, dass in den letzten zwei Wochen vier Geschäftsmänner getötet wurden, von denen gemunkelt wurde sie hätten Mitverantwortung für den Konzernkrieg getragen. Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass sie dafür verantwortlich zeichnen. Dann kamen sie nach Istanbul, um Sunay zu töten. Doch er hat mehr Gegenwehr geleistet, als die anderen. Er benutzte seinen Freund Mahir, um Attentäter anzuheuern, die sie aus dem Weg schaffen sollten. Als die ihnen zunehmend Probleme bereiteten, haben sie sich an Ender Mardin gewandt, der mit ihnen im Sold von Ganymed gestanden hat. Für einen Mann mit seinem Gesicht war es kein Problem Mahirs Assistentin zu umgarnen und auf ihre Seite zu ziehen. Sie wollte ihnen Informationen darüber beschaffen wer ihre Gegner sind und wie viel sie wissen. Nur ist ihr Verrat nicht unbemerkt geblieben. Als ihre Gegner sie für ein Sicherheitsrisiko hielten, haben sie sie beseitigt. Aber der Koffer mit den Informationen wurde dem Attentäter gestohlen, bevor er ihn seinen Auftraggebern zurückbringen konnte. Und jetzt habe ich ihn.“

    Sie schlug die Hände zweimal zum Applaus zusammen. „Es ist faszinierend wie die Dinge sich manchmal entwickeln. Ich überlebe zwei der größten Kriege der Menscheitsgeschichte ohne ernsthafte Verletzung und werde dann von einem dahergelaufenen Leibwächter in Singapur beinahe durch den Wolf gedreht. Und nachdem wir diese Verbrecher einen nach dem anderen aus dem Verkehr ziehen kommen uns nicht etwa FBI und CIA auf die Spur, sondern ein einfacher Schreiberling. Das Universum ist eben doch ein wundervoller Ort. Ich würde nirgendwo anders leben wollen.“ Sie beugte sich etwas vor. „Mit alledem was sie jetzt schon wissen können wir gut getrennte Wege gehen. Geben sie uns einfach den Koffer, schreiben sie ihren Artikel und genießen sie das Leben. Dann kommen wir gut miteinander klar.“ „Nein.“ Sie blinzelte und ließ einen amüsierten Laut vernehmen. „Bitte was?“ „Ein sehr guter Freund ist durch das Alles hier gestorben. Bevor sie irgendetwas von mir bekommen will ich eine Antwort auf eine Frage: Warum? Was soll diese Selbstjustiz.“

    Jules dachte kurz nach. Dann antwortete sie: „Es hat nichts mit Selbstjustiz zu tun. Justiz würde bedeuten, dass hier Gerechtigkeit geschieht. Aber nichts was wir diesen Kerlen antun können käme ihren Verbrechen gleich.“ Sie stand auf und begann um den Tisch herum zu gehen. Sie zog das verletzte Bein dabei etwas nach. „Weltliche Gerechtigkeit würde Ganymed und Mura nicht einmal annähernd ebenbürtig.“ Sie tat noch einige Schritte und blieb neben ihm stehen. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und flüsterte: „Mura zu befreien war ein Akt der Sühne. Jeder von uns hatte dort irgendeine Schuld abzuzahlen. Danach fanden wir sogar eine größere Aufgabe. Aber sie ließen sie uns nicht erfüllen. Statt dessen hintergingen sie uns und töteten die Besten von uns.“ Sie richtete sich wieder auf und sprach weiter: „Es hängen soviel mehr Schicksale von unserem Kampf ab, als sie sich vorstellen können. Jetzt heißt es nur noch: Nie wieder. Diese Leute haben zahllose Millionen Leben zerstört. Jetzt sind wir die personifizierte Rache, die über sie kommt und sie ein für alle Mal aufhält.“ Sie schien kurz ins leere zu starren. „Einige Sachen kann man nicht vergeben.“


    Jules beobachtete den alten Butler dabei, wie er ihren Tee frisch aufgoss. Ihm dabei zuzusehen weckte Erinnerungen, die in einer obskuren Vergangenheit irgendwann vor dem durchdringenden Schmerz, den die Gewehrkugeln verursacht hatten, mit denen im Herbst 2017 ihre persönliche Zeitenwende gekommen war, zu ungewissen Schatten verschmolzen, konturlos und ohne wirkliche Bedeutung. Alles musste vor dem verblassen, was sie im letzten Jahr erlebt hatte und weswegen sie hier war. Sie wandte ihrem Blick von dem Butler ab, der das edle Gebräu in einer Jahrhunderte alten Meißener Tasse vor ihr auf den Tisch stellte und sah zu Gideon, der ihr gegenüber in einem wuchtigen Ohrensessel saß. An den Butler gewandt meinte er: „Danke, Aharon. Halten sie sich zu meiner Verfügung.“ Der alte Mann verbeugte sich und verließ den Raum. Gideon hatte seine Augen unterdessen auf Jules gerichtet und meinte mit einem freundlichen Lächeln: „Was ist los? Du hast in deiner Nachricht ziemlich aufgebracht geklungen.“

    Jules zögerte einige Sekunden, bevor sie antwortete. Es war kein Lächeln, das sie von früher kannte. Es war eine in tausenden Verhandlungen erprobte Maske, die Verkleidung eines Geschäftsmannes, die mehr verbarg, als Stoff oder Schminke es je vermocht hätten, in der zu lesen unmöglich war. Trotzdem sagte sie schließlich: „Ich muss mit dir über das reden, was wir da draußen erlebt haben. Wir…“ Sie zögerte für einen Moment. Auszusprechen, was ihr gerade durch den Kopf ging, hätte bedeutet ihrem Mann eine schwerwiegende Anschuldigung an den Kopf zu werfen. In ihr brodelte es. Wut, Unverständnis, ja regelrechte Angst machten es ihr schwer sich zu zügeln. Am liebsten hätte sie sich alles von der Seele geschrieen, hätte ihn gezwungen ihr alle Fragen zu beantworten, alle Ungewissheiten zu beseitigen, die an ihr nagten. Und noch wichtiger: Ihr zu sagen, dass alles, für das sie Beweise gesehen hatten, nur die Einbildung eines überreizten Geistes war. Sie atmete noch einmal tief durch und fragte dann: „Was weist du über das, was auf Mura passiert ist?“ „Mura?“, fragte er mit einiger Überraschung in der Stimme, die Jules jedoch nicht zu täuschen vermochte. Sie kannte ihn gut genug, um bei ihm echte Gefühlsregungen von der Maske unterscheiden zu können, die er jetzt zeigte. Er behauptete: „Ich weis nicht mehr, als sie in den Nachrichten gebracht haben. Es war davon die Rede, sie hätten ein zweites Ganymed befreit.“ Sie kämpfte, ohne so recht zu wissen wogegen: Tränen oder Wut. In jedem Fall aber darum ruhig zu bleiben. „Bitte“, sagte sie, „lüg mich nicht an.“

    Gideons Gesichtsausdruck verhärtete sich schlagartig. Er taxierte Naumer, der Osburg und Volkov hinter dem Sofa stand, auf dem Jules platz genommen hatte, mit wütenden Blicken. „Haben sie sie also gegen mich aufgehetzt? Ich hätte es voraussehen müssen…“ „Er hat gar nichts getan“, fiel sie ihm ins Wort. „Es war nicht besonders schwer darauf zu kommen, sobald man die Teile in der Hand hatte. Einer der Sklavenjäger, gegen die wir gekämpft haben, kannte deinen Namen. Er war nicht einmal überrascht, dass wir mit dir zu tun hatten, obwohl dein Name nie offiziell im Zusammenhang mit Ganymed aufgetaucht ist. Außerdem hast du einen homoziden Computer auf uns angesetzt. Und… wir haben einen Beweis. Schwarz auf weiß.“ Sie zog ihren PDA hervor und rief einige Dateien auf. Bevor sie sich den Weg aus dem Konsulat auf Kyoto freigeschossen hatten, hatten sie die Unterlagen, die sie im Büro des Konsuls gefunden hatten, eingescannt. Sie rief eine bestimmte Seite des Vertrages auf und hielt Gideon das Gerät hin. „Das ist deine Unterschrift“, konstatierte sie. „Nicht dein Name aber deine Schrift.“

    Er schmunzelte ohne das irgendwelche Freundlichkeit darin gelegen hätte. Dann rief er den Butler zurück und sagte: „Einen Whisky, Aharon.“ Während der so angesprochene an den Spirituosenschrank trat, zündete Gideon sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und sah Jules dann in die Augen. „Ich kann es nicht leugnen“, meinte er. „Nach Ganymed war es mir eigentlich zu riskant noch einmal etwas Ähnliches aufzubauen, aber meine Geschäftspartner traten an mich heran und baten mich um meine Dienste als Makler. Ich mache Geschäfte mit Pjöngjang, so dass ich ohne Schwierigkeiten für sie einen Deal mit dem Konsul auf Kyoto aushandeln konnte. Er befördert ihre Ladung, deklariert alles Diplomatenfracht und ich bekomme eine üppige Provision. Ein wirklich gutes Geschäft.“ Voller Bitterkeit erwiderte Jules: „Diese Bastarde haben hunderttausende Menschen versklavt und viele davon jämmerlich verrecken lassen. Brauchtest du das Geld wirklich so dringend?“ Er lachte kurz auf. Dann zuckte er mit den Schultern und antwortete „Nein. Nicht einen Cent davon.“

    Sie sprang auf. „Warum dann? Und erzähl mir nicht, du hättest nicht gewusst, was passieren würde.“ „Natürlich wusste ich es. Wer nicht alle Variablen kennt, macht es nicht lange.“ „Warum?“ Er nahm noch einen Zug von der Zigarette, drückte diese aus und sagte: „Um sie zu züchtigen.“ Für einen Moment herrschte fassungsloses Schweigen. Dann stammelte Jules: „Was? Züchtigen… Wen?“ „Diese weltfremden Träumer und Usurpatoren, die Europa an sich gerissen haben. Sie nannten uns schuldig, haben uns vorgeworfen wir würden die Demokratie und den sozialen Frieden zerstören, nur weil wir getan haben, wozu sie uns Jahrzehnte lang ermuntert und angefeuert haben. Sie wollten uns die Ketten ihrer Ideologie anlegen.“ Er schüttelte den Kopf. „Im einen Moment loben sie uns noch für all die Verdienste um das Land, die sie uns zuschreiben, im nächsten wollen sie uns der Privilegien berauben, die uns zustehen. Aber das schlimmste von allem war, was sie dir angetan haben. Als ich dich in dieser Kryokammer habe liegen sehen, da wusste ich, dass ich sie bestrafen musste. Also habe ich geholfen ihnen den einzigen Schmerz zuzufügen, den sie noch verspüren können: Wir haben ihnen die Binde von den Augen gerissen und ihnen gezeigt, wie die Menschheit wirklich ist: Der Stärkere überlebt. Der Rest ist es nicht wert einen Gedanken an ihn zu verschwenden. Daran haben wir sie erinnert und ihnen klar gemacht, dass sie nicht anders sind.“

    Jules Unsicherheit wandelte sich zuerst in Entsetzen, dann in blanke Wut. „Versuch nicht mich als Ausrede zu instrumentalisieren.“ „Ich instrumentalisiere nicht. Ich benenne Fakten.“ Auch er erhob sich. „Aber so etwas gerade von dir zu hören… Du hörst dich an wie eine von ihnen. Was hat dich nur so verändert?“ „Ich bin immer noch die gleiche, wie vor zwanzig Jahren. Öffne die Augen: Ich bin nicht die abartige Version meiner selbst, die du dir im Schmerz erdichtet hast.“ Er schüttelte den Kopf. „So störrisch. Aber das lässt sich mit genügend Zeit alles korrigieren.“ Bevor sie oder einer der Söldner etwas erwidern konnten, mischte der Butler sich ein. Er trat mit einem Glas Whisky auf einem kleinen Silbertablett zu Gideon und sagte: „Ihr Getränk, Herr von Sachleben.“ Der Magnat nahm das Glas und sagte: „Danke, Aharon. Und jetzt räum hier auf. Aber füg ihr keinen Schaden zu.“ „Natürlich.“ Der ergraute Mann verneigte sich. Jules und ihre Begleiter zögerten eine Sekunde, die sie brauchten, um zu begreifen, was Gideon gerade gesagt hatte. Mehr Zeit brauchte Heinrich nicht. Mit einer Geschmeidigkeit, die Jules bei einem Mann seines Alters nie für möglich gehalten hätte wirbelte er aus der Verbeugung heraus herum und warf kleine Messer, die wie von Zauberhand in zwischen seinen Fingern aufgetaucht waren.

    Jules sah nicht mehr als ein silbernes Aufblitzen, als zwei Messer an ihr vorbeiflogen. So schnell sie konnte wirbelte sie herum und sah, wie eine der Klingen sich Naumer in die Stirn gebohrt hatte. Der Söldner schien es noch geschafft zu haben einem der Messer auszuweichen, dem Butler damit aber verraten, wohin er sich bewegen würde. Binnen eines Lidschlages hatte dieser also das zweite Messer hinterher geworfen, sicher, dass es treffen würde. Sie hörte ein Geräusch hinter sich, das vom dicken Teppich fast zur Unhörbarkeit gedämpft wurde. Sie drehte sich wieder um und sah gerade noch, wie der alte Mann über den Tisch gesprungen und nur noch eine Armeslänge von ihr entfernt war. Sie zweimal rasch hintereinander nach ihm, doch er schien die Treffer nicht einmal zu bemerken. Stattdessen schlug er selbst mehrere Male zu. Jeder Schlag traf einen empfindlichen Nerv. Heftiger Schmerz durchzuckte sie und sie ging unfähig ihren Körper unter Kontrolle zu behalten zu Boden. Volkov hatte indessen seine Waffe gezogen. Sobald Jules aus der Schusslinie war, feuerte er. Nur war sein Ziel nicht mehr da. Die Laserstrahlen zuckten wirkungslos durch den Raum und zerfetzten die Vertäfelung der gegenüberliegenden Wand. Der Butler hatte sich unter den Schüssen weggeduckt und war zur Seite hin ausgewichen. Er hechtete über das Sofa hinweg, versetzte Osburg dabei einen Tritt und stand vor Volkov. Schneller als dieser reagieren konnte, brach er ihm das Genick. Praktisch in der gleichen Sekunde war Osburg bei ihm und schlug nach ihm. Die beiden Männer prügelten für ein paar Augenblicke aufeinander ein, dann verpasste Aharon dem Söldner einen Schlag, der ihn zu Boden beförderte, wo er regungslos liegen blieb.

    Der Alte deutete eine Geste an, als habe er gerade als Kampfsportler einen Turnierkampf gewonnen und wandte sich wieder Gideon zu. Der lächelte, ging zu Jules, hockte sich neben ihr hin und streichelte ihr sanft über den Kopf. „Keine Sorge, Liebling“, flüsterte er, „ich kümmere mich um dich.“ Unfähig sich zu Bewegen oder etwas zu sagen starrte Jules ihn nur hasserfüllt an, was ihm aber entweder zu entgehen schien, oder was er zu ignorieren beschlossen hatte. Er richtete sich wieder auf und befahl dem Butler: „Aharon, beseitigen sie die Leichen und sorgen sie dafür, dass der Rest dieser Truppe aufgespürt wird. Ich will, dass angemessen mit ihnen Verfahren wird. Meine Geschäftspartner werden sich freuen zu hören, dass Plage beseitigt ist.“ Der Butler verneigte sich wortlos und begann sich ohne ein sichtbares Zeichen von Anstrengung den toten Körper von Volkov auf die Schultern zu laden. Im gleichen Moment riss ihn jedoch etwas von den Füßen. Jules konnte nur erkennen, wie er fiel und unter der Leiche des massigen Russen begraben wurde. Dann hörte sie das Klicken des Verschlusses eines Pistolenhalfters und sah, wie der alte und Osburg buchstäblich gleichzeitig wieder auf die Füße kamen.

    Osburg hatte seine Pistole gezogen, beging aber anders als Volkov nicht den Fehler zu glauben er könne sein Gegenüber einfach über den Haufen schießen. Stattdessen hatte er die Waffe am Lauf gefasst und benutzte sie, um mit dem Knauf zuzuschlagen. Die beiden Männer gingen aufeinander los und lieferten sich einen rasenden Schlagabtausch. Der Butler schlug in einer schnellen Kombination nach mehreren wichtigen Organen seines Kontrahenten, der aber jeden einzelnen Schlag abblocken konnte und zum Gegenangriff überging. Sie kämpften einige Zeit miteinander, dann schien der Butler gewillt die Sache zu beenden. Er schlug mit so brutaler Kraft nach Osburg, dass dieser einen Schritt zurücktaumelte, als er den Schlag mit hochgerissenen Armen abblockte. In dem Sekundenbruchteil, in dem der Söldner darum kämpfte nicht das Gleichgewicht zu verlieren, packte er sein rechtes Handgelenk und versuchte ihm die Waffe zu entwinden. Dieser nutzte diesen Schritt aber sofort für einen Gegenangriff. Er zog seinen eigenen Arm und damit auch den seines Gegners nach oben und öffnete so die Verteidigung des Alten, um ihm eine brutale Kopfnuss zu verpassen. Der Butler ließ seinen Gegner wieder los und taumelte. Dann verpasste Osburg ihm in rasender Folge einen Schlag gegen den Kehlkopf, brach ihm eine Rippe und war mit einem Satz an ihm vorbei, um ihm den Griff der Pistole mit solcher Wucht auf den Hinterkopf zu schlagen, dass der Schädel brach.

    Für einen Moment blieb Osburg schwer atmend stehen. Dann ging er zu seinen toten Freunden, riss ihnen je eine Hundemarke vom Hals und ging dann zu Jules. Er hob sie sich auf die Schulter – Gideon hatte sich inzwischen aus dem Staub gemacht, als er bemerkt hatte, dass sein Leibwächter ins Hintertreffen geraten war – und rannte mit ihr nach draußen.


    Serdar drehte sich zu ihr um und fragte mit ungläubigem Tonfall: „Deshalb tun sie das alles? Um zu verhindern, dass sich die Verbrechen eines Sunay oder eines Gilbert wiederholen?“ „Stört sie etwas daran?“ Er lachte kurz auf. „Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Selbst wenn es nicht gegen alle Prinzipien zivilisierten Handelns verstoßen würde wäre ihr Vorgehen noch völlig wirkungslos.“ Jules schüttelte den Kopf. „Eine alte Kriegsregel: Nimm den Offizier aus dem Gefecht und der Feind stellt keine Gefahr mehr dar.“ „Das wird so nicht funktionieren.“ Er atmete einmal tief durch und bemühte sich zu erklären: „Hören sie: Ich habe im Bürgerkrieg gekämpft. Ich habe diese Stadt während der Belagerung mit dem Gewehr in der Hand gegen die Islamisten verteidigt und weiß, dass ein Feind auf dem Schlachtfeld ohne seine Anführer kaum noch eine Gefahr darstellt. Aber hier kämpfen sie nicht gegen eine feindliche Armee, sondern gegen Organisationen, die funktionieren wie gut geölte Maschinen. Die Maschine interessiert sich nicht dafür wer am Schalthebel sitzt. Sie wird auch auf sich gestellt weiterlaufen. Die Männer gegen die sie vorgehen stehen an der Spitze von Unternehmen, die so groß geworden sind, dass die Vorstände jederzeit austauschbar sind. Jemand aus der zweiten Reihe wird nachrücken und nichts wird sich ändern. Einen solchen Gegner können sie nicht mit Waffengewalt besiegen. Es gibt nur ein Mittel eine Organisation solcher Größe aufzuhalten: Informationen.“

    Jules wollte gerade dazu ansetzen etwas auf diese Worte zu erwidern, kam aber nicht mehr dazu. Die Tür, durch die Serdar in den Raum gebracht worden war, wurde aufgestoßen und ein Mann stürzte herein. Er salutierte vor Jules und sagte: „Polizei auf der Hauptstraße. Ein mobiles Einsatzkommando mit mindestens 30 Leuten.“ Sie nickte in Richtung der zweiten Tür. „Alles raus hier.“ Dann, mit einem Blick in Serdars Richtung, fügte sie hinzu: „Sie haben Glück: Ich glaube nicht, dass sie diese Leute in irgendeiner Form wissentlich hier her geführt haben. Ansonsten hätten sie jetzt ein ernsthaftes Problem. Auf Wiedersehen, Schreiberling.“ Die Söldner verließen den Raum in Richtung der Metrotunnel, wobei zwei direkt bei Jules blieben und verhinderten, dass sie zurückfiel. Ihr Gast blieb einfach zurück. Einige Minuten später wurde die Tür in seinem Rücken ein zweites Mal geöffnet. Mehrere Polizisten in Schutzkleidung und mit Maschinenpistolen stürmten herein. Zwei gingen an der anderen Tür in Stellung, die anderen durchsuchten alle Winkel des Raumes. Als sie fertig waren, gab einer von ihnen durch: „Raum gesichert. Der Entführte ist in Sicherheit.“ Dann öffnete er die andere Tür und signalisierte seinen Leuten weiter vorzurücken.

    Während sie ihre Ziele in die Tunnel verfolgten, kamen weitere Männer und Frauen in den Raum. Die meisten, ebenfalls Einsatzpolizisten, stürmten einfach hindurch in die Tunnel. Doch auch Cavit war unter ihnen. Er trug eine Schutzweste, die über seinem Bauch spannte und hielt eine Schrotflinte in Händen. Als er Serdar sah, sagte er: „Sieht aus als seien wir gerade noch rechtzeitig gekommen, was Çakmak?“ Er legte die Flinte auf den Tisch, zückte ein Messer und schnitt die Fesseln um Serdars Hände durch. Dieser schmunzelte und meinte: „Ansichtssache. Ich war gerade dabei alles zu erfahren. Und woher wussten sie überhaupt, wo sie mich finden konnten?“ Der Polizist lächelte verlegen und antwortete: „Sagen wir einfach ich habe darauf gehofft, dass sie nicht einfach aufgeben würden.“ „Moment mal: Haben sie mich beschatten lassen?“ „Tun sie nicht so scheinheilig. Wir alle haben unsere Methoden. Und letzten Endes zählt doch nur, dass sie funktionieren.“ Serdar rieb sich die Handgelenke. Er bedachte den Beamten mit einem mürrischen Blick und sagte: „Ansichtssache. Ich setze wenigstens mein eigenes Leben aufs Spiel.“ Cavit schnaubte verächtlich und sagte mit theatralischem Tonfall: „Oh, wie konnte ich nur. Bitte, öffnen sie mir die Pulsadern. Sie elende Mimose waren doch genauso hinter ihrer Story her wie ich hinter meinen Mördern.“ „Ja. Und wenn ich mich beeile erwische ich meine Story vielleicht noch.“

    Serdar verließ den Raum in Richtung Straße. Dabei lief er beinahe in einen Mann im langen Trenchcoat hinein, der den Polizisten folgte. Dieser schenkte ihm keine weitere Beachtung, sondern ging weiter in den Lagerraum. Dort trat er neben Cavit und meinte: „Sie scheinen ein Problem mit Befehlsketten zu haben, Inspektor. Sie hatten doch Weisung dem Fall nicht weiter nachzugehen.“ Der Kriminalist legte eine Unschuldsmiene auf und erwiderte: „Ich habe alle Untersuchungen in der Mordsache ruhen lassen. Das hier war nur eine Geiselbefreiung.“ „Nennen sie es wie sie wollen: Sie haben gerade vielleicht zwei Monate Arbeit ruiniert. Wenn wir zu viel Druck ausüben tauchen diese Kerle unter und wir bekommen weder unsere Mörder, noch die hinter denen sie her sind.“ „Ich mag Europol nicht. Also verstecken sie sich einfach wieder in ihrem Büro, und mischen sie sich nicht unpassender Weise in meine Arbeit.“ Der andere zog einen Mundwinkel zu einem verächtlichen Grinsen hoch. „Sie kennen die Hierarchie. Das sind meine Ermittlungen.“ Er sah sich um. „Wo ist dieser Journalist, von dem die Rede war?“ „Oh, den haben sie gerade verpasst.“

    Serdar hatte sich sofort in Richtung des nächsten Taxistandes aufgemacht. Bevor er jedoch dort ankam hielt ein Wagen neben ihm, in dem zwei Männer in Anzügen saßen. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und fragte: „Serdar Çakmak?“ „Möglich. Was wollen sie?“ Der Mann hielt den Wagen an und reichte Serdar einen Dienstausweis. „Europol. Wir bringen sie nach Hause. Steigen sie bitte in den Wagen.“ Er tat, wie ihm geheißen. Sie fuhren wieder los. Nach einigen Augenblicken fragte der eine der Männer: „Sie haben mit den Tätern gesprochen?“ Er nickte. „Und wissen sie, was sie im Bezug auf Sunay unternehmen wollen?“ Nun stutzte Serdar. „Sie wissen davon?“ „Es ist keine überragende intellektuelle Leistung einen Zusammenhang zwischen dem Tod mehrerer mutmaßlicher Verantwortlicher von Ganymed, dem Auftauchen eines der Verdächtigen hier in Istanbul und der Tatsache, dass Sunay seit Tagen untergetaucht ist herzustellen. Wir sind an diesen Leuten dran, seit sie vor einer Woche einen Industriellen in Mailand getötet haben.“ Serdar schüttelte den Kopf. „Meine Sympathie gilt in diesem Fall den Tätern. Selbst wenn ich etwas wüsste, würde ich es ihnen nicht sagen.“ „Unser erstes Interesse gilt nicht dem Schutz Sunays oder seiner Freunde. Wir haben diese Kerle seit zehn Jahren im Visier. Dass hier jetzt jemand Racheengel spielt zeigt uns nur, dass wir auf der richtigen Spur sind. Mit etwas Glück kommen wir jetzt endlich an die Beweise, die wir brauchen um sie alle festzunageln. Wenn wir dann noch diese Selbstjustizler verhaften können, ist das nur ein netter Bonus. Überlegen sie es sich also. Wenn sie irgendetwas hilfreiches haben, kommen sie zu uns.“

    Die Beamten setzten Serdar zu Hause ab. Er konnte den Abend aber nicht einfach ungenutzt verstreichen lassen. Er machte sich sofort auf in die Redaktion, um weiter an seinem Artikel zu schreiben. Als er im Büro ankam, lief er auf dem Flur seinem Redakteur über den Weg. „Serdar“, sprach dieser ihn direkt an, „wir müssen uns mal unterhalten. Sie haben den Artikel über den Arbeitskampf nicht geliefert und ich musste erst von ihren Kollegen erfahren, dass sie sich eigenmächtig ein neues Thema gesucht haben. Das ist so nicht hinnehmbar. Sie müssen mit mir reden.“ „Ich habe schon verstanden. Ich kann es leider nicht mehr ändern. Aber ich liefere ihnen dafür eine Geschichte, wie man sie nur einmal im Leben bekommt.“ Der ältere Mann nickte. „Ich kann es mir vorstellen. Jemand hat heute einen Stapel Unterlagen für sie abgegeben. Ich habe es mir durchgelesen. Wir können Fahri Mahir damit Bestechlichkeit nachweisen. Aber das kann doch noch nicht alles sein.“ „Es geht um eine weltweite Mordserie. Ich bringe ihnen alles vorbei.“ „Gut. Und da ist noch was. Ein paar Leute sind vorbeigekommen und wollten mit ihnen reden. Sie warten in meinem Büro.“

    Die beiden gingen zusammen in das Büro des Redakteurs. Dort saß auf einem Sofa niemand geringeres als Julia Thora. Sie hatte ihre Uniform gegen Zivilkleidung ausgetauscht und eine getönte Brille aufgesetzt, doch Serdar erkannte sie sofort wieder. „Hallo“, sagte sie mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Es gefällt mir zwar nicht, aber sie haben einigen Eindruck bei meinen Leuten geschunden. Sie sind zum Schluss gekommen, dass unsere Methoden aus den Kolonien nicht wirklich für die Erde geeignet sind. Wenn sie mir also helfen können diese Sache zu Ende zu bringen, tun sie es.“ Sie wirkte bei diesen Worten müde, als sei sie das ständige Kämpfen Leid. Serdar hatte das Gefühl, dass das souveräne Gesicht, das sie in Gegenwart ihrer Männer in der Metro an den Tag gelegt hatte, nur verbergen sollte wie nahe ihr die jüngsten Ereignisse wirklich gingen. Er schnappte sich einen der im Raum stehenden Stühle und setzte sich Jules gegenüber. Während sein Redakteur es ihm gleich tat, sagte er: „Haben sie irgendwelche Beweise, die ihre Ziele überführen könnten?“ Sie zuckte mit der gesunden Schulter. „Nicht viel. Und nichts davon ist gesetzeskonform erworben. Ich glaube nicht, dass es reichen würde ein schwerfälliges Gericht zu überzeugen.“ „Irgendetwas müssen sie haben. Was wissen sie über die Verantwortlichen?“

    Mit gequälter Miene sagte sie: „Es sind noch elf von ihnen am Leben. Fünf haben wir erledigt. Gilbert, Saturdja, Jia, Falconi und Cavendish. Verdammt, dieser englische Bastard hat uns sogar noch Respekt abgenötigt, als wir ihn an die Wand gestellt haben.“ Sie sah zu Serdar. „Hätten alle so erbärmlich gewinselt, wie Falconi, wäre es irgendwo leicht gewesen. Aber es ist kein Vergnügen einen Mann zu erschießen, der nicht wegläuft, vor seinem Tod noch fragt, ob es zu spät sei Bedauern auszudrücken und einen auch dann noch auffordert zu schießen, wenn man 'nein' sagt.“ Serdar tauschte einen Blick mit seinem Redakteur aus. Er konnte dem älteren Mann ansehen, dass dieser zwischen dem Verlangen weiter zuzuhören und die Polizei zu rufen hin und her gerissen war. Immerhin hatte jemand gerade in seiner Gegenwart mehrere Morde gestanden. Um ihm die Entscheidung abzunehmen, lenkte Serdar das Gespräch in eine andere Richtung. „Was waren das für Männer? Warum haben sie kooperiert? Aus gegenseitigem Vertrauen heraus?“

    Sie schüttelte den Kopf. „Einige vielleicht, aber im großen und ganzen nicht. Sie hassen einander vielleicht nicht, aber sie trauen keinem der anderen auch nur einen Millimeter über den Weg.“ „Der Boss...“, sagte einer der beiden Männer, die Jules begleiteten, korrigierte sich dann aber, „von Sachleben. Er hat immer Beweismaterial gegen die anderen in der Hinterhand gehalten. Ich habe ihn einmal sagen hören, dass die anderen es ähnlich machen.“ Nun schaltete sich der Redakteur ein: „Dann haben wir etwas, wo wir ansetzen können. Wenn die Männer, die sie erwähnt haben, die sind, von denen ich es glaube, dann müssen sie an Sunay herankommen. Oder an jemanden aus seinem Umkreis.“ „Sein Stellvertreter“, schlug Serdar vor. „Ja. Wir laden ihn zu einem kleinen Gespräch ein. Beschaffen sie uns die Informationen, die wir brauchen, Serdar. Ich sorge dafür, dass das ganze in der Ausgabe von Übermorgen auf die Titelseite kommt.“

    Die Nacht war geprägt von hektischen Vorbereitungen. In einem kleinen Hotel am Stadtrand stellte einer der Journalisten der Cumhuriyet einige Aufnahmegeräte auf und verwanzte den Nebenraum. Gleichzeitig beschaffte Serdar sich möglichst viele Informationen über ranghohe Mitarbeiter von Sunay-Arms. Am nächsten Morgen fing er schließlich einen von Sunays engsten Mitarbeitern in einem Cafe in Maslak, dem Stadtteil, in dem sich die Firmenzentrale befand, ab. Der Mann hatte sich an einen der Tische gesetzt und war dabei sein Frühstück zu verzehren und dabei die Schlagzeilen der auf einem in einer Ecke aufgehängten Bildschirm zu sehenden Nachrichten zu verfolgen. Als Serdar sich mit einem Kaffee zu ihm an den Tisch setzte und ihn breit anlächelte, schenkte er ihm einen abschätzigen Blick und sagte: „Verzeihung, aber ich bevorzuge es meine Ruhe zu haben.“ „Natürlich. Nichts liegt mir ferner, als das nicht zu respektieren. Aber sie sollten mich sprechen lassen. Ich bin hier, um ihnen zu helfen.“ „Wovon sprechen sie?“ „Oh, das will ich ihnen gerne erklären.“

    Mit diesen Worten legte er dem Mann seine Visitenkarte hin. Der besah sie sich kurz und sagte: „Wenden sie sich an unseren Pressesprecher.“ „Die Angelegenheit um die es geht ist sehr delikat. Ihr Pressesprecher könnte damit überfordert sein.“ „Das glaube ich nicht. Wenn sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“ Er legte etwas Geld auf den Tisch, stand auf und verließ das Cafe. Serdar folgte ihm nach draußen. Dabei sagte er: „Wenn sie jetzt einfach gehen, kann ich ihnen nicht helfen.“ „Was macht sie glauben, dass das nötig sein sollte?“ „Weil sie vor acht Jahren noch die Rechtsabteilung ihres Unternehmens geleitet haben und meiner Redaktion Unterlagen vorliegen, die Beweisen, dass sie damals die Bestechung von Fahri Mahir abgewickelt haben.“ Nun blieb der Mann stehen. „Wovon sprechen sie?“ Serdar zog eine Kopie eines der Dokumente aus der Tasche, die er von Victors Informanten bekommen hatte und reichte es seinem Gegenüber. Der las es sich durch und fragte dann: „Was wollen sie?“ „Sie auf ein Gespräch einladen.“

    Er brachte den Mann in das vorbereitete Hotelzimmer. Dort konfrontierte er ihn mit allem, was er in Erfahrung gebracht hatte und versuchte ihn danach auszuhorchen, ob sein Boss Informationen über seine Geschäftspartner gesammelt hatte. Zuerst versuchte er noch verbal auszuweichen. Alles was ihn davon abhielt einfach zu gehen, so drängte sich der Eindruck auf, waren die Beweise gegen ihn persönlich, die wie ein Damoklesschwert über ihn schwebten. Als das Gespräch im Sand verlief verließ Serdar den Raum und ging ins Nachbarzimmer. Dort saßen sein Kollege, sein Redakteur und Ender Mardin, der als Mittelsmann für Julia Thora anwesend war. Der ehemalige Söldner blickte finster drein und meinte: „So kriegen sie nichts aus ihm raus. Der hat mehr Angst vor seinem Boss, als vor dem Gericht.“ „Abwarten.“ „Ach was. Lassen sie mich einfach rüber gehen und schalten sie für fünf Minuten ihre Geräte ab. Dann weiß ich alles, was wir brauchen.“ „Vergessen sie es“, antwortete der Redakteur. „Wir lassen ihn erst einmal eine Zeit lang schmoren. Wenn du wieder rein gehst, Serdar, zieh die Daumenschrauben etwas an. Wenn er Angst vor seinem Boss hat, sollten wir das ausnutzen.“ „Kein Problem. Ich brauche nicht lang. Wenn ich wieder reingehe können sie die Polizei rufen.“

    Gut eine Stunde später betrat er das Hotelzimmer wieder. Der Manager hatte in der Zwischenzeit in denkbar unfrommer Weise einige Gläser des Weins aus der Minibar geleert. Von seiner souveränen Fassade war nicht viel übrig geblieben. Er starrte den Journalisten nur mit unverholener Abneigung an. „Was soll ich überhaupt noch hier? Egal was ich tue, ich lande vor Gericht. Eine kleine Weisheit aus dem Geschäftsleben: Wenn sie etwas von mir wollen, müssen sie mir etwas anbieten.“ Serdar lächelte und setzte sich. „Genau das tue ich. Wissen sie, ich liebe meinen Beruf. Bevor ich Journalist wurde, habe ich die Sieben-Tage-Erzählungen in der Torah und der Bibel nie verstanden. Aber mittlerweile weiß ich, dass das Wort, gesprochen wie geschrieben, tatsächlich Macht hat. Wenn ich einen Artikel schreibe, gibt mir das Macht über die Personen, um die sich alles dreht. Ich habe ihnen erzählt, was ich weiß und ihnen dürfte klar sein, dass ich damit schon genug habe, um ihren Boss zu Fall zu bringen. Wir können ihm Bestechung und Anstiftung zum Mord in mehreren Fällen. Dazu kommen die Veröffentlichung seiner unschönen Verwicklungen in den iranischen Waffenschiebereien und den Konzernkrieg. Seine Partner dürfte das auch in einige Erklärungsnöte zu bringen. Und die Presse kann die ganze Sache hinstellen, wie sie ihr passt. Wenn wir das wollen, sind sie in diesem Artikel auf einmal unser Hauptzeuge. Das dürfte ihren Arbeitgebern überhaupt nicht gefallen.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „In knapp zehn Minuten kommen einige Mitarbeiter von Europol durch diese Tür. Wenn sie denen helfen an Sunay heranzukommen, könnte das positiv auf sie zurückfallen. Wenn nicht, übergeben wir alles, was wir über die Bestechung haben und sie können morgen früh ihren Namen ganz groß in der Zeitung lesen. Überlegen sie es sich.“

    Um 2 Uhr früh am nächsten Tag saß Serdar in seinem Büro vor seinem Rechner. Der fertige Artikel stand vor ihm auf dem Bildschirm. Er hatte noch ein letztes Mal drüber gelesen und betrachtete sein Werk nun mit leicht verträumtem Blick. Er hätte wahrscheinlich Triumph ob des unbestreitbaren Höhepunktes seines Schaffens empfinden sollen. Doch da war nur ein Gefühl der Ruhe. Nach einigen Augenblicken murmelte er: „Ruhe in Frieden, Victor.“ Dann schickte er den Artikel an die Druckerei. Während der Ladebalken, der den Fortschritt der Übertragung anzeigte, sich füllte lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und rieb sich die Augen. Es war vorbei. Der Manager hatte geredet, als die Polizisten gekommen waren. Er hatte verraten, wo im Firmenarchiv Unterlagen zu finden waren, die halfen fast alle Vorgänge seit 2018, als Sunay auf Ganymed investiert hatte, zu rekonstruieren und alle daran beteiligten Firmen und Funktionäre zu überführen. Keine Stunde später hatte die Polizei die Firmenzentrale durchsucht und alle nötigen Beweise beschlagnahmt. Wenn alles der Justiz übergeben war, würde der folgende Prozess wahrscheinlich der größte seit der Vereinigung Europas werden.

    Er blieb noch einige Minuten so sitzen, bis sein Telefon klingelte. „ Serdar Çakmak. Etwas außerhalb der üblichen Bürozeiten.“ „Hallo“, antwortete Julia Thora. Er konnte im Hintergrund ein deutliches Rauschen, wie von einem mangelhaft schallisolierten Flugzeug oder einem Auto hören, was vermuten ließ, dass sie schon wieder dabei war die Stadt zu verlassen. „Ich wollte mich bei ihnen bedanken.“ Er lächelte. „Noch ist die Sache nicht ausgestanden. Wir haben die Hunde von Europol auf die richtige Spur gesetzt. Aber es gibt keine Garantie, dass sie auch alle Schuldigen erwischen werden. Außerdem habe ich gehört, dass man sie und ihre Freunde wegen mehrfachen gemeinschaftlichen Mordes anklagen will.“ „Wir werden es überleben. Aber ich meinte etwas ganz anderes. Sie haben es mir erspart meinen eigenen Mann töten zu müssen.“ „Ihren Mann?“ „Ja. Er wäre der letzte auf unserer Liste gewesen. Aber irgendwie weiß ich, dass ich es nicht gekonnt hätte. Auch nach allem, was er getan hat.“ „Dann freut es mich, dass ich ihnen helfen konnte.“ Er schwieg für einen Moment. Dann fragte er: „Was werden sie jetzt tun?“ „Wir werden wo anders gebraucht. Sie werden davon hören, wenn es soweit ist.“


    Die Pressestimmen:

    „Ein Echo nach 10 Jahren. Verwicklung mehrerer internationaler Wirtschaftsgrößen in den Konzernkrieg aufgedeckt.“ Cumhuriyet, März 2036

    „Gideon von Sachleben auf der Flucht. Industrieller entzieht sich den Behörden.“ FAZ, März 2036

    „Konzerne am Pranger. Untersuchungsausschuss des Kongresses tritt zusammen, um die Anschuldigungen gegen mehrere Unternehmen zu prüfen.“ New-York Times, Mai 2036

    „Prozessauftakt in Straßburg. Der europäische Gerichtshof erhob zum Beginn der Mura-Prozesse Anklage gegen mehr als 3000 Mitarbeiter von 5 in Europa ansässigen Unternehmen. Die Hauptangeklagten sind mehrere ehemalige Vorstandsmitglieder.“ Hamburger Abendblatt, August 2036

    „Neuer Großinvestor für abgewickelte Sachleben-Unternehmensgruppe. Nach der auf richterliche Anweisung erfolgten Zerschlagung der Sachleben-Gruppe kauft eine Investorengruppe um den auf Kaimaninseln ansässigen Fonds Prospero mehrere alte Firmenteile auf.“ Financial Times, Januar 2039

    „Der Pate von George Town. Gerüchte um eine Verwicklung des flüchtigen Gideon von Sachleben in die Investmentgesellschaft Prospero reißen nicht ab.“ Passauer Neue Presse, September 2039

    „Neues Label der Prospero-Gruppe vorgestellt. Die von der Investmentgesellschaft Prospero aufgekauften Unternehmensteile der ehemaligen Sachleben-Gruppe werden künftig unter dem Namen Divita Inc. geführt. Der neu berufene Unternehmensvorstand kündigte eine Verlegung des Hauptsitzes des Unternehmens auf den Mars an.“ Radio-Meldung, Oktober 2039

    „Aktie der Divita Inc. als Papier mit der besten Wertentwicklung des letzten Jahres ausgezeichnet. Das Raumfahrttech-Unternehmen hat sich erneut als führender Hersteller des terranischen Raums auf dem Segment des Baus von kleinen und mittelgroßen Frachtschiffen etabliert.“ Financial Times Mars, März 2041
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  8. Danke sagten:


  9. #27
    Gehasst, Verdammt, Vergöttert Avatar von Colonel Maybourne
    Registriert seit
    24.11.2004
    Ort
    Im Harz
    Beiträge
    3.843

    Standard

    Das war ein sehr gutes Kapitel und mir blieb erstmal die Spucke weg, als ich gesehen habe wie lang es ist.
    Bei dem Film den du meinst, dachte ich zuerst an The International, der sehr gut ist, aber da war glaube noch Stay of Play, den ich nicht kenne.

    Es hat mir gefallen, wie der Journalist versuchte, alles zusammen zu setzen und ihr auch geholfen hat.
    Er hat sicher die Story seines Lebens geschrieben und wird dafür sicher mit Medienpreisen überhäuft.

    Jules kam ebenfalls super rüber und der Racheengel in ihr hat dann auch gnadenlos wieder zugeschlagen.
    Außerdem hat sich Gideon noch eine weitere Option offen gehalten, dass sie mit ihm abrechnen kann.
    Und das kann sie auch, ohne ihm ein Haar zu krümmen...

    Bis dann.
    Das Leben ist ein Schwanz und wir die Eier, die mitgeschleift werden.


    Meine aktuellen Fanfiction:


    TGE Combined Season 1 Fire of War:

    http://www.stargate-project.de/starg...ad.php?t=11836




  10. #28
    dumm geboren und nix dazugelernt:P Avatar von Santanico Pandemonium
    Registriert seit
    23.09.2007
    Ort
    hier und dort
    Beiträge
    709

    Standard

    Na Holla, was ein Kapitel! Und ja, eindeutig State of Play mit Russel Crowe, den Film hab ich auch gesehen.
    Was soll ich noch sagen, wunderbar detailreich, niemals langweilig, logische Schlussfolgerungen, Drehbuchreif
    WEIR: ... putting your life and other people's lives at risk. You destroyed three quarters of a solar system!
    McKAY: Well, five sixths. It's not an exact science.
    WEIR: Rodney, can you give your ego a rest for one second?

    Ein Jahr später:
    Spoiler 
    CARTER: About a year ago, your brother came across an abandoned alien experiment called Project Arcturus.
    CARTER: It was an attempt to generate zero point energy.
    JEANIE: That would be virtually limitless power. What happened?
    McKAY: A slight problem. It was the creation of exotic particles in the containment field.
    CARTER: He destroyed a solar system.
    JEANIE: Meredith! (She smacks his arm.)
    McKAY: It was uninhabited!

  11. #29
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    Moin zusammen, es geht weiter. Zuerst zum letzten Kapitel:

    @Colonel Maybourne: Danke für die freundlichen Worte. Ansonsten ganz richtig erkannt, es war State of Play. Allerdings habe ich Gideon eher deswegen entkommen lassen, weil er zu meinen Lieblings-Bösewichten gehört. So jemanden lässt man nicht zwischen Tür und Angel bei einem Rachetripp seiner durchgeknallten Gattin umkommen.

    @Santanico Pandemonium: Wie gesagt, es war State of Play. Nun stellt sich mir nur die Frage, ob nur das Geschehen auf der Kinoleinwand drehbuchreif war, oder auch das in diesem Kapital

    @Azrael, Dante21 und Feretti: Danke für das Betätigen des Buttons.

    Und nun zum neuen Kapitel. Entgegen meiner beabsichtigten Politik zweimal hintereinander etwas mit Jules. Das ganze ist recht actionlastig, ist als Doppelfolge konzipiert und bringt eine Zäsur im Geschehen. Länge 17 Seiten. Viel Spaß beim Lesen.


    Episode 6: Die Schlacht von Kyoto, Teil 1


    Vor den Augen des Konzils schien eine kleine Galaxie aus Licht inmitten der Dunkelheit zu schweben. „Ihr sagtet ihr sähet eine Bedrohung, Legat. Glaubt ihr diese Menschen könnten sich gegen uns wenden?“ Ein Mann in der Uniform des ranghöchsten Offiziers des Imperium Lanteanum trat hinter dem Hologramm hervor vor die neun Ratsmitglieder, die die verbliebenen Kolonien der Antiker repräsentierten. Das Ehrenzeichen der blutenden Flamme prangte rechts über seinem Herzen und in seinem Lächeln lag ein Ausdruck absoluter Selbstsicherheit. „Sie sind Menschen“, erklärte er, „es liegt in ihrer Natur barbarisch und aggressiv zu sein.“

    Er ging mit langsamen Schritten vor ihm auf und ab und machte eine Geste, auf die hin mehrere Sterne im Hologramm hervorgehoben wurden. „Bisher verlaufen unsere Vorbereitungen für eine Rückkehr planmäßig. Wir haben mehrere unserer alten Kolonialwelten ausgekundschaftet und auf elf davon Außenposten errichtet, um eine Wiederbesiedlung vorzubereiten. Auf dreien dieser Planeten hat sich uns ernstzunehmender Widerstand entgegen gestellt. Auf Dagona war es ein Verräter aus unserem eigenen Volk, der uns sabotierte. Auf Larush und Sahal waren es Menschen, die dem Goa'uld Dumuzi dienen. Er ist die wahre Bedrohung. Mit den Menschen der Erde und ihren Alliierten hat es bisher noch keine Konfrontation gegeben.“ „Trotzdem sollten sie die Möglichkeit nicht außer Acht lassen“, warf einer der Ratsherren ein. „Diese Menschen haben die Goa'uld und die Ori besiegt. Wir sollten sie nicht unterschätzen.“ Der Legat hob beschwichtigend die Hände. „Ich versichere ihnen, Ratsherr, dass wir alle erforderliche Vorsicht walten lassen. Aber halten eine Änderung unserer Pläne nicht für nötig. Alle unsere bisherigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Terraner mehr damit beschäftigt sind sich selbst zu zerfleischen, als zu kooperieren. Solche Barbaren können uns nicht daran hindern zurückzuerlangen, was rechtens uns gehört....“

    Andernorts in der Milchstraße:

    Die Augen des Mannes waren starr und leer nach vorne gerichtet, während er einen Fetzen Stoff, den er vom dreckigen Boden der Zelle vielleicht 4x8 Meter messenden geklaubt hatte, zwischen den Fingern zerdrehte. Er schien seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen oder strafte sie mit harter Missachtung, denn sein Blick hatte sich nicht ein einziges Mal von der gegenüberliegenden Wand gelöst und nichts was seine Mitinsassen getan hatten, hatte irgendeine Reaktion provoziert. Die anderen hatten es mittlerweile aufgegeben aus dem alten Mann schlau werden zu wollen und schenkten dem ergrauten, für sein Alter noch erstaunlich athletischen Kerl, in dessen schmutzigem und in der schwülheißen Luft von Schweiß glänzenden Gesicht nichts anderes als erbitterte Härte zu lesen war, keine Beachtung mehr. Es war offenkundig, dass er mit irgendetwas haderte, doch wenn er es vorzog zu schweigen, würde niemand weiter nachhaken.

    Einer der anderen Insassen lief ruhelos in der Zelle auf und ab und warf dabei immer wieder flüchtige Blicke zu den beiden nordkoreanischen Soldaten, die im Flur auf der anderen Seite der Gitterstäbe auf und ab gingen. Ein dritter, der auf einer Pritsche saß und eifrig damit beschäftigt war sich den Getreidebrei des alten Mannes, den dieser wieder einmal schnöde hatte stehen lassen, zu Gemüte zu führen, murmelte dabei mit halb vollem Mund: „Wollen sie den ganzen Tag weiter wie besessen im Kreis laufen, Mortimer? Ich verstehe ja dass es nicht leicht fällt, aber sie sollten versuchen sich zu beruhigen.“ Der hochgewachsene Engländer warf dem anderen einen schrägen Blick zu. Dann schüttelte er heftig den Kopf, wobei seine schulterlangen, nach mehreren Tagen in diesem Gefängnis schon schmutzigen blonden Haare wild hin und her geworfen wurden und streckte eine Hand mit mahnend erhobenen und in einem Fieber unterdrückter Energie zitternden Zeigefinger. „Mich beruhigen? Wie könnte ich? Ich bin verdammt noch mal hier um einen Bericht über die Kämpfe zu schreiben. Aber dann setzt man mich in diesem vermaledeiten Lager fest, stiehlt mir meine Aufzeichnungen und gibt mir nicht einmal einen Notizblock.“ Sie verständigten sich auf Englisch, das ihre Wärter wie sie bereits festgestellt hatten nicht verstanden, so dass der Andere keine Scheu hatte breit zu grinsen und zu erwidern: „Nicht dass es sie davon abgehalten hätte ihre Beobachtungen festzuhalten.“

    Der Journalist starrte ihn sehr finster an und begann wieder auf und ab zu laufen. Er hatte alles, was er seit seiner Inhaftierung mitbekommen hatte nachts mittels eines kleinen Bleistifts, den er irgendwie hatte verstecken können – sein Gesprächspartner wollte gar nicht wissen wo am Körper er bei der Leibesvisitation irgendetwas hatte verstecken können – auf Klopapier niedergeschrieben, das er tagsüber in einem Loch im Mauerwerk versteckte. Es war das einzige, was ihn davon abhielt hier verrückt zu werden. Jeder der in dieser Zelle, die eine von sechzehn in diesem Gebäudetrakt war, hatte seine eigene Strategie mit der Situation umzugehen. Sei es schlichte Akzeptanz, innere Einkehr in absurder Form... oder weibisches Heulen. Die halb nach einem Wimmern klingende Stimme des vierten Insassen, des Direktors des einzigen internationalen Hotels von Kyoto. drang an Mortimers Ohr: „Das sie sich noch Sorgen über Schreibpapier machen können...“ Der zusammengekauert in einer Ecke sitzende, rundliche Mann beendete den Satz nicht, sondern zog den Kopf noch etwas enger an die Schultern und sah in Richtung der Gitterstäbe. Der Brite riss die Hände hoch, atmete einmal tief ein und stieß dann eine Kanonade derber Flüche von solcher Lautstärke aus, dass der vierte Mann noch einmal am ganzen Leib zuckte und ihre beiden Bewacher sich erschrocken umdrehten.

    Als er sich wieder halbwegs beruhigt hatte, sah er mit zornesrotem Gesicht auf den zu einem Häuflein Elend zusammengesunkenen Mann hinab und meinte: „Was zur Hölle ist ihr Problem? Warum können sie sich nicht wenigstens ein Beispiel an unserem schweigsamen Zellengenossen hier nehmen und ihre verschissene Fresse halten?“ Mit einem Blick zu Nummer drei, der spöttisch grinste, während er den Blechnapf in seiner Rechten sorgsam mit dem Löffel auskratzte, meinte er: „Da sehen sie warum ich mich nicht abregen kann. Nicht weil ich ohne ein Verbrechen begangen zu haben und ohne dass man meinen Diplomatenpass auch nur eines Blickes gewürdigt hätte in einer stinkenden und vor Dreck starrenden Zelle sitze, sondern weil ich es mit Typen die dem da tun muss.“ „Keiner von uns wird hier lebend rauskommen!“, erwiderte der so diffamierte in einem kläglichen Versuch verbalen Aufbäumens. Mortimer drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen wieder zu ihm um. „Das ist ihre Angst? Dann kann ich sie beruhigen. Uns wird nichts passieren. Sicher, wir werden hiernach eine ziemlich lange Dusche brauchen, aber man wird uns weder foltern, verstümmeln oder töten. So was macht sich nicht gut.“ „Woher wollen sie das bitteschön wissen?“ Mortimer schmunzelte. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich das Vergnügen habe von koreanischen Truppen interniert zu werden. Ich war damals während der Invasion von Japan in Tokyo. Sie haben damals auch General Hwang von der Kette gelassen. Und der hat alle ausländischen Staatsbürger zusammentreiben lassen, sie ein paar Wochen festgehalten, damit die Angehörigen in der Heimat genug Zeit hatten öffentlich Druck zu machen und sich danach das Leben von jedem den er freigelassen hat von dessen Regierung mit 50000 Dollar vergüten lassen, die er in die eigene Tasche gesteckt hat. Für Chinesen und Koreaner hat er natürlich nichts bekommen, aber trotzdem ist der Mann damals binnen weniger Wochen mehrfacher Milliardär geworden. Er finanziert von diesem Geld seine eigenen politischen Ambitionen. Wir sind lebend für ihn also mehr wert, als tot.“

    Er trat an das kleine Fenster, das einen Blick auf die Umzäunung des vormaligen Stadtgefängnisses der Kolonie, das Hwangs Truppen kurzerhand geräumt und für eigene Gefangene benutzt hatten, und die in der Senke des Flusstals liegende Millionenstadt freigab, lehnte sich gegen die Wand und sah hinaus. Nach einiger Zeit seufzte er und sagte: „Andererseits haben sie mir damals meinen Laptop gelassen. Ich konnte also wenigstens vernünftig arbeiten. Aber jetzt... Ich sehe es schon kommen. Ich bin der einzige Berichterstatter, der rechtzeitig im Krisengebiet war und werde als einziger keinen vernünftigen Artikel zu Stande bringen.“ Plötzlich mischte sich eine heftige Explosion in das Rattern der Gewehre, das der Wind immer wieder in unregelmäßigen Abständen aus der Stadt oder dem Umland herübertrug. Mortimer sah überrascht hinaus. Als der Hotelier ängstlich fragte was gerade passiert sei, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen, auch wenn in seinen Zügen eine Spur von Mitleid lag. „Tut mir Leid, aber das war gerade ihr Hotel.“ Der Andere riss die Augen auf und sprang förmlich auf die Füße. Er eilte ans Fenster und drängte Mortimer beiseite. Klein gewachsen wie er selbst war musste er sich selbst auf die Zehenspitzen stellen und den Hals recken, um durch das hoch angebrachte Fenster sehen zu können. Als er die gewaltige Rauchfahne sah, die dort aufstieg, wo sich zuvor sein Hotel aus dem Häusermeer erhoben hatte, sank er wieder zusammen und schlug ein paar Mal mit der Faust gegen die Wand.

    „Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt“, kam es ihm leise über die Lippen. „Verdammt sei dieser elende Krieg.“ „Womit haben sie gerechnet?“, wollte Mortimer wissen. Den wütenden Ausdruck, der daraufhin in den Augen des nunmehrigen Ex-Hoteliers aufblitzte, richtig deutend schaltete sich der dritte Insasse ein. „Meine Herren, beruhigen sie sich doch bitte. Sehen sie es positiv.“ Er streckte sich auf der Pritsche aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sagte: „Das gute daran den Krieg im Internierungslager zu verbringen ist den Krieg nicht im Krieg zu verbringen, nicht wahr? Zumindest solange die Idioten vom Widerstand es darauf anzulegen scheinen Kyoto mit in den Untergang zu reißen.“ Plötzlich geschah etwas, mit dem keiner der drei gerechnet hätte: Der Alte zeigte eine Reaktion. Er schnaubte spöttisch und sah zu den anderen Männern auf. Dann sagte er mit deutlich hörbarem irischen Akzent: „Reden sie keinen Müll. Ich gäbe viel darum dort draußen zu sein. Berichterstatter im Krieg zu sein, Soldat im Krieg zu sein oder Idiot vom Widerstand im Krieg zu sein ist besser, als träge in einer Zelle zu liegen und sich die Risse im Putz an der Decke einzuprägen. Es ist immer besser etwas zu bewegen.“ Nummer drei sah ihn einfach nur perplex und Sprachlos an, während Mortimer in die Hände klatschte. „Gut gesprochen, Paddy. Leider ändert es nichts an unserer Lage. Aber ich kann mir nicht helfen: Diese Worte wecken bei mir irgendwie den Eindruck, dass du nicht nur ein einfacher Zivilist bist.“ Er trat neben den Alten und ging in die Hocke. „Siehst auch mehr aus wie ein Ex-Offizier, als wie ein Journalist oder Diplomat.“ Der Alte erwiderte Mortimers Blick aus dem Augenwinkel und fragte: „Warum sollte das von Belang sein?“ „Na ja, ich bin immer auf der Suche nach einer guten Story. Sollte ich nun tatsächlich mit jemandem in einer Zelle gelandet sein, der mehr über diesen Krieg erzählen kann, wäre das ein Fingerzeig Gottes ein Interview zu führen.“ Zur Überraschung seines Gesprächspartners schmunzelte der Alte sogar. Dann sagte er allerdings: „Ich habe nicht wirklich etwas, das ich erzählen könnte. Aber geben sie die Hoffnung nicht auf.“ Mit diesen Worten richtete er seinen Blick wieder geradeaus und schwieg.

    Es wurde später Abend – im Lager lief gerade die Wachablösung – bis auf einmal etwas seine Aufmerksamkeit zu erregen schien. Es war wieder Gewehrfeuer zu hören. Dieses Mal war es allerdings deutlich näher. Morgiger, der sich in eine Ecke gesetzt und heimlich begonnen hatte seine Aufzeichnungen fortzuführen, sah von seiner Schreibarbeit auf. Erschrocken drehte er den Kopf nach links und rechts, um abzuschätzen aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Dann sah er den Alten, der den Blick gehoben hatte und über das ganze Gesicht kalt lächelte. In den darauf folgenden Minuten wurde das Gewehrfeuer dichter und lauter. Dann erschütterte auf einmal eine Explosion das Gebäude. Die beiden anderen Insassen, die sich schon Schlafen gelegt hatten, wurden davon aus ihrem Schlummer geweckt und Schrapnelle flogen durch den Flur vor den Zellen. Eine der Wachen wurde von einem im Gesicht getroffen, presste reflexartig beide Hände auf die Wunde und schrie vor Schmerz auf, während man den außer Sicht befindlichen anderen etwas rufen und sein Gewehr durchladen hörte. Einige Schüsse fielen. Dann war alles ruhig. Nur die vorsichtigen Schritte einiger Personen in schweren Stiefeln waren zu hören.

    Drei Soldaten in zerschlissenen, bei einem an mehreren Stellen geflickten Uniformen der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte kamen den Flur entlang. Einer trug noch ein hoffnungslos veraltetes NTK-62 Maschinengewehr, während die anderen AK149-Sturmgewehre in Händen hielten, an denen bei genauem Hinsehen noch die mit Messern ausgekratzten Markierungen zu erkennen waren, die sie als Beutewaffen von Mura verrieten. Sie warfen hastige Blicke in alle Zellen. Dann blieben sie vor jener Zelle stehen, die Mortimer seit Wochen nicht mehr verlassen hatte. Der Anführer der Gruppe salutierte plötzlich und sagte etwas auf Japanisch. Überrascht sahen die anderen drei Insassen, wie der Alte sich leise ächzend auf die Füße drücke und an die Gitterstäbe trat, wo er sich mit einer Hand den verspannten Nacken rieb und wartete, dass die Soldaten öffneten. Dabei reichte einer ihm durch die Gitterstäbe eine Waffe, eine Jacke im Flecktarndesign und eine Offiziersmütze, an deren Stirnseite das Emblem der goldenen Chrysantheme zu sehen war. Gemächlich zog der alte Ire sich die Kleidungsstücke an und befestigte den Pistolenholster an seinem Gürtel. Als das Gitter offen war, drehte er sich noch einmal zu den anderen drei Männern um und meinte: „Nicht dass mir ihre Gesellschaft unangenehm gewesen wäre, aber viel länger hätte ich es in einer Zelle mit ihnen dreien nicht ausgehalten. Auf wiedersehen, Gentlemen.“

    Auf dem Flur sah Finlay McGrath den seine Retter anführenden Unteroffizier mit undurchschaubarem Gesichtsausdruck an. „Wer hat im Moment das Kommando?“, fragte er auf Japanisch. „Lieutenant Kutaragi, Sensei. Er bekämpft mit dem zweiten Trupp die Wachleute am Haupttor.“ Er zog die Pistole und entsicherte sie. „Gut. Zuerst werde ich ihn küssen und danach schlage ich ihn dafür zu Brei, dass er so viele Männer riskiert, nur um mich rauszuhohlen.“ Er wollte noch etwas hinzufügen, dann hörten sie jedoch hinter einer Biegung des Ganges, wo dieser Gebäudetrakt in den Hauptflügel einmündete, Schritte. Hastig wichen die Soldaten einige Meter zurück und gingen in Wandnischen in Deckung. Finlays Zelle hatte sich am unteren Ende des Ganges befunden, so dass sie nur wenige Meter von der Biegung trennten. Finlay hingegen drückte sich direkt an die Flurecke und wartete. Er hörte mindestens vier Mann in schweren Kampfstiefeln. Und die Sprache in der einer von ihnen den anderen Befehle zurief, war kein Japanisch. Als die koreanischen Soldaten um die Ecke bogen, erwischte einer der Widerstandskämpfer den ersten sofort mit einer Kugel am Kopf. Er wurde von der Wucht des Treffers umgerissen und stoplerte gegen den hinter ihm laufenden, so dass dieser um sein Gleichgewicht kämpfen musste. Dann riss Finlay seine Waffe hoch und erschoss die anderen beiden binnen zwei Sekunden. Der letzte hatte gerade den Leichnam seines Kameraden von sich gestoßen, wurde dann aber von schwieligen Händen gepackt, die ihn mit eisernem Griff festhielten. Finlay entwand ihm das Gewehr und rammte danach seinen Kopf einen wütenden Urschrei ausstoßend mehrmals mit solcher Kraft gegen die Wand, dass der Schädel brach.

    Er drehte sich den Japanern zu, von denen einer sofort losstürzte, um die Munition der Getöteten aufzusammeln und sagte dem Unteroffizier mit leidvollem Gesichtsausdruck: „Bitte sagen sie mir, dass sie etwas dabei haben.“ Doch der schüttelte nur den Kopf. Finlay verzog frustriert das Gesicht, stampfte einmal mit aller Kraft auf und ließ einen wütenden Laut vernehmen. Eine Woche lang hatte er in der Zelle gesessen und dagegen ankämpfen müssen im vom Tritoninentzug verursachten Wahn seine Mitinsassen mit bloßen Händen umzubringen. Er atmete ein paar Mal tief durch. Dann deutete er auf das Loch in der Wand, wo sich die Japaner in das Gefängnis hinein gesprengt hatten und sagte: „Suchen wir ein paar koreanische Soldaten. Ich muss mich abreagieren.“

    Zur gleichen Zeit einige Lichtjahre entfernt:

    Die 'Fidelity' fiel einige Flugminuten entfernt vom Asteroidengürtel, der ihr Zielsystem durchzog, aus dem Hyperraum. Jules sah auf der Brücke zu ihrem an der Kommunikation sitzenden Mitstreiter und meinte: „Kündigen sie uns an.“ Der Söldner nickte und sandte eine Identifizierungsnachricht in den Gürtel hinein. Kurz darauf kam eine Antwort und sie setzten ihr Schiff wieder in Bewegung. Das Feld war einige zehntausend Kilometer breit, so dass sie mit der höchsten Geschwindigkeit, die die Umstände zuließen, noch mehr als eine Viertelstunde fliegen mussten, bevor sie die Sammelzone erreichten. Der Anblick, der sich bot, als sie den letzten Asteroiden umflogen hatten, ließ Jules finster Lächeln. Elf Reetou-Schiffe schwebten vor ihnen im Raum. Die meisten waren nur leicht bewaffnete Zivilschiffe, doch es waren auch zwei vor Strahlengeschützen starrende Kriegsschiffe, eine Fregatte und ein Kreuzer, dabei. Jedes dieser Schiffe hatte einen scheibenförmigen Rumpf, aus dessen einer Seite Hangars, Frachtrampen und die mächtigen Antriebe herausragten und aus der anderen Aufbauten, wie Wohneinheiten oder Sensoren, so dass die Zivilschiffe beinahe wirkten, als wären Städte aus niedrigen Wolkenkratzern darauf errichtet worden. Nur die beiden Kriegsschiffe hoben sich davon ab, da die Aufbauten ihrer Stirnseiten niedriger und sehr viel stärker gepanzert waren und die axialen Hauptgeschütze trugen.

    Das größte Schiff der Formation war allerdings die 'Yamato'. Das mächtige Schlachtschiff ähnelte noch stark den während der Goa'uld-Kriege eingesetzten BC501, besaß aber einen längeren Hauptrumpf und bereits voll in den Hauptpanzergürtel eingebundene Hangars. Hinzu kam das augenscheinlichste Merkmal ihrer Herkunft: Die Brückenaufbauten, deren Form an die der historischen Seeschlachtschiffe 'Yamato' und 'Musashi' angelehnt war. In den letzten Wochen war die Besatzung offenbar bemüht gewesen möglichst viele der Schäden, die das Schiff während seiner wilden Flucht nach Kyoto vor sechzehn Jahren genommen hatte, wieder zu beheben. Zudem waren auch einige Umbauten vorgenommen worden. Die Triebwerke waren teilweise verändert und an der Unterseite des Schiffes saß nun eine Konstruktion, deren Zweck sich Jules nicht sofort erschloss. In jedem Fall aber wirkte das Schiff kampfbereit. Sie klopfte auf die Lehne des Pilotensitzes und deutete auf das Schlachtschiff. „Bringen sie uns in den Hangar.“

    Sie verließ die Brücke und ging in Richtung der Laderampe – das Schiff hatte keine Separate Gangway, so dass man es nur auf diesem Weg verlassen konnte. Ein Lächeln umspielte dabei ihre Lippen. Der Gedanke an die bevorstehende Schlacht half ihr die Wunden zu vergessen, die die Ereignisse der letzten Wochen ihr geschlagen hatten. Sie war eine leidgeprüfte Seele und wusste, dass sie, auch wenn ihr verletztes Bein schon fast verheilt war und sie kaum noch behinderte, einige Dinge nicht mehr würde vergessen können. Zu eng waren die Erinnerungen an Verrat und Rache mit zwei Männern verbunden, die ihr etwas bedeutet hatten und immer noch bedeuteten. Sie konnte nicht sagen, ob sie Gideon noch liebte oder ob sie Naumer wirklich geliebt hatte und hasste diese Unklarheit. Es gab keine klare Grenze zwischen Freund und Feind mehr und der Kampf ging ihr näher, als sie bereit gewesen wäre es zuzugeben. Ein leichter Ruck ging durch das Schiff, als die Landestützen Grundberührung bekamen. Zusammen mit einigen ihrer Mitstreiter verließ sie das Schiff. Der Hangar, in dem bei ihrem letzten Aufenthalt auf diesem Schiff noch drei Staffeln Kampfflieger gestanden hatten, war nahezu verwaist. Nur einige Techniker, die an einer alten Walküre arbeiteten, waren zu sehen. Als sie durch die Türen trat, die den Hangar vom Rest des Schiffes trennten, kam ihr ein japanischer Offizier, den Rangabzeichen nach der XO des Schiffes, entgegen. Der Mann verneigte sich höflich vor ihr und sagte: „Willkommen an Bord, Thora-san. Wir hatten schon befürchtet ihr würdet nicht mehr rechtzeitig zur Offensive eintreffen.“ Sie legte den Kopf fragend zur Seite. „Wie meinen sie das? Wann soll es los gehen?“ Er sah sie mit ersten Gesichtsausdruck an und antwortete: „Es hat bereits begonnen.“

    Auf Kyoto:

    Bezwinger Japans, blutiger General, Schlächter von Tokio. Seok Hwang wusste was für Namen man ihm im Rest der Welt gegeben hatte. In den Sommermonaten des Jahres 2023, als er an der Spitze seiner Truppen den verbliebenen Widerstand auf den japanischen Inseln bekämpfte, hatte der große Führer Kim Jong-un selbst aus China eine scharf formulierte Protestnote ob der Brutalität seiner Methoden erhalten. Sollten sie doch denken was sie wollten. Er war stolz auf seine Beinamen und auf die Reputation, die er sich erarbeitet hatte, denn sie zeigten nur, dass er sein Handwerk verstand. Eines Tages, da war er sich sicher, würden die Historiker seinen Namen als den eines der größten Feldherren der Geschichte benennen. Selbst wenn man ihn in eine Reihe mit Attila und Dschingis Kahn stellen sollte, so würde er doch ein Werk hinterlassen, dessen man sich auf ewig erinnern würde. Diese Welt war für ihn nur eine weitere Seite darin, die beschrieben werden wollte. Nur waren die Herausforderungen größer, als sie es noch vor zwölf Jahren gewesen waren.

    Mit einem gleichmütigen Gesichtsausdruck, der über den Zorn hinwegtäuschte, gegen den er ankämpfte, warf er den blutverschmierten Hammer zurück auf die Kiste, auf der er seine Werkzeuge ausgebreitet hatte, und sah auf den Japaner hinab, der am Stuhl vor ihm angebunden war. Die Bewohner von Kyoto waren ein anderer Menschenschlag als die verschreckten Zivilisten, mit denen er während der Invasion zu tun gehabt hatte. Ein Jahrzehnt des ständigen Kampfes, sei es gegen Truppen der Volksarmee oder einfach nur gegen die harschen Lebensbedingungen auf diesem Planeten, hatte sie hart gemacht. Der Japaner, ein Widerstandskämpfer, der an diesem Morgen von einer Kompanie gefangen genommen worden war, die Hwang persönlich angeführt hatte und die die Spur des Feindes mehrere Tage verfolgt hatte, hatte in drei Stunden des Verhörs nicht ein Wort gesagt. Der General ging quer durch den Raum zu einem Tisch, auf dem eine Schüssel mit Wasser stand und begann sich die Hände zu waschen. Er kannte viele Wege, wie einem Mann Schmerzen zuzufügen. Keiner davon war subtil und nur wenige hinterließen keine dauerhaften Wunden, aber in diesem Moment war er mit seinen Fähigkeiten am Ende. Unter normalen Umständen hätte er eine solche Widerstandskraft bewundert, doch in den letzten Tagen beherrschten andere Dinge sein Denken.

    Der Widerstand hatte sich nach der Landung schneller formiert, als er es nach einer so langen Phase des relativen Friedens angenommen hätte und unablässige Angriffe gegen seine Truppen begonnen. Doch vor ungefähr einer halben Woche hatten sie begonnen ihre Vorgehensweise zu ändern. Zuvor hatten mehr als einhundert verschiedene Einheiten um die größeren Siedlungen des Planeten herum operiert, Sprengfallen und Hinterhalte gelegt und kleinere Posten überfallen. Jeden Tag hatte es zahllose kleine Schusswechsel gegeben. Dann aber waren die Angriffe deutlich schwächer geworden. Einige seiner Offiziere glaubten der Widerstand habe sich an ihrer Armee aufgerieben und sei endgültig gescheitert, doch alle Instinkte in ihm protestierten gegen eine derart einfache Lösung. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass der Feind eine Gegenoffensive vorbereitete. Aber solange Ort und Zeit unbekannt waren, war es unmöglich sich wirklich effektiv darauf vorzubereiten.

    Er trocknete sich die Hände und ging in Richtung des Ausganges. Im Vorbeigehen sagte er dem Gefangenen: „Sie haben keinen Wert mehr für mich.“ Bei diesen Worten zog er seine Pistole und schoss ihm durch den Kopf. Als er aus dem kleinen Nebengebäude hinaus auf den Hof trat, zog er eine Schachtel Zigaretten aus einer Tasche seiner Uniform und steckte sich eine davon an. Nachdem er einen paar Züge genommen hatte, sagte er an einen der Soldaten, die vor dem Gebäude Wache gestanden hatten, gerichtet: „Machen sie die Sauerei da drinnen weg und packen sie mein Werkzeug wieder zusammen.“ Er wandte sich wieder ab und ging weiter in Richtung des Hauptgebäudes. Sie hatten den Feind gut sechzig Kilometer weit verfolgt und waren auf den schlechten Straßen Kyotos fast eine Tagesdistanz von der Hauptstadt entfernt, so dass sie einen abgelegenen Bauernhof, der in all seiner Idylle einen krassen Gegensatz zur brutalen Realität geboten hatte, akquiriert hatten. Die Freude der Bauern darüber sie beherbergen zu dürfen hatte sich zwar sichtlich in Grenzen gehalten, aber im Angesicht einer ganzen Kompanie der besten Soldaten, die Korea aufzubieten vermochte, waren sie klug genug gewesen zu schweigen. Er hatte das Gebäude gerade erreicht und wollte eintreten, als die Tür vor ihm aufschwang und einer seiner Unteroffiziere mit gehetztem Gesichtsausdruck heraus kam. Sie liefen beinahe ineinander, doch der General machte gerade noch rechtzeitig einen Schritt zur Seite. Der andere Mann war bleich, als habe er einen Gespenst gesehen. Er salutierte und sagte: „General, wir haben gerade eine Meldung erhalten. Die Flotte wird angegriffen.“

    Kurz zuvor im Orbit:

    Colonel Miyu Akamatsu beobachtete die koreanischen Einheiten, die langsam im Orbit ihre Bahnen zogen und rechnete dabei im Kopf mögliche Anflugvektoren durch. Ohne die Bordinstrumente musste sie die Entfernungen schätzen und alle Kalkulationen mit Zettel und Stift ausführen. Und egal wie oft sie alles durchrechnete, das Ergebnis gefiel ihr nicht. Seit vier Tagen krochen die Maschinen von fünf Jagdgeschwadern nun schon mit niedriger Unterlichtgeschwindigkeit auf Kyoto zu. Sie hatten alle Systeme bis auf ihre Funkempfänger abgeschaltet, flogen abgedunkelt und ließen sich von ihrer Massenträgheit vorwärts treiben, um nicht auf den Sensoren der Verteidigungsflotte aufzutauchen. Der Kommandostab hatte sich zu keinem Zeitpunkt Illusionen über die Erfolgsaussichten eines offenen Angriffes gemacht. Der Feind war selbst für ihre vereinte Flotte zu stark. Also galt es das Kräfteverhältnis ein wenig zu korrigieren.

    Der Plan, den man gefasst hatte, war tollkühn genug, um ihr unter normalen Umständen ein Lächeln blanker Vorfreude abzuringen. Nur ruhte durch ihn nun alle Verantwortung auf ihren Schultern. Sie musste den richtigen Augenblick für den ersten Angriff auswählen und sicher stellen, dass der Feind schwer genug getroffen wurde, um einen Einsatz der schweren Verbände riskieren zu dürfen. Sie rechnete ein letztes Mal einen möglichen Angriffskurs durch, dann klatschte sie den Stift voller Frustration auf den Notizblock und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Ihre Haut fühlte sich nach mehreren Tagen im Cockpit schmutzig und fettig an, so wie ihre Kleidung mittlerweile praktisch an ihrer Haut klebte und die in den letzten Tagen vom Notfallsystem fausendfach aufbereitete und umgewälzte Luft im Cockpit mit ihrem Körperduft geschwängert war. Sie schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Danach warf sie noch einmal einen Blick auf ihre Notizen und setzte sich ihre Atemmaske auf. Probehalber versuchte sie ihre eingeschlafenen Beine zu bewegen. Sie konnten aus ihrer jetzigen Position nur eines der feindlichen Schlachtschiffe und zwei Kreuzer attackieren. Weit weniger Ziele, als sie gehofft hatte. Es würde irgendwie reichen müssen. Sie legte einen Schalter um, um das Funkgerät zu aktivieren und gab durch: „To ra! to ra! to ra! Alle Maschinen zum Angriff übergehen!“

    Gleichzeitig schob sie die Schubhebel bis zum Anschlag nach vorne und fuhr die Waffensysteme wieder hoch. Keine hundert Kilometer vom Feind entfernt ließ das Geschwader seine Maske fallen. Die Beschleunigung presste sie in den Sitz und sie lenkte Ihre Maschine auf das Schlachtschiff zu „Daichi, Hinata, an meine Flanken!“ Als sie sich dem Ziel auf fünf Kilometer genähert hatten, erwachten dort die ersten Abwehrgeschütze zum Leben. Das Feuer war vereinzelt und unkoordiniert, kam aber schneller als sie erwartet hatte. Sie befahl: „Zielerfassung deaktivieren. Fliegt manuell!“ Mit einem schnellen Griff nach dem entsprechenden Knopf schaltete sie die elektronische Zielerfassung, deren ständiges Peilsignal für zielsuchende Raketen auch von der gegnerischen Abwehr erfasst werden konnte, ab. Nur einen Sekundenbruchteil später war sie gezwungen einer Salve einer feindlichen Railgun auszuweichen, schaffte es aber wieder auf Kurs zu gelangen. Als sie nur noch wenige hundert Meter von ihrem Ziel entfernt war – die Technik ihrer Raketen war zu alt um die Eloka der Kriegsschiffe zu überwinden, selbst wenn diese nach den Maßstäben der großen Raumflotten lachhaft war, so dass sie auf kürzeste Distanz manuell zielen musste – löste sie die beiden schweren Flugkörper aus, mit denen ihr Flieger bestückt worden war. Die beiden schiffszerstörenden Marschflugkörper, Überbleibsel aus dem letzten Krieg um Kyoto, die die letzten 8 Jahre auf den Waffendecks der 'Yamato' Staub angesetzt hatten, schlugen knapp oberhalb des Maschinenraums in den Rumpf des Schlachtschiffes ein und rissen mehrere Panzerplatten ab. Nur einen Augenblick später feuerten auch ihre Flügelmänner. Ihre Raketen explodierten in der entweichenden Atmosphäre ihres Ziels mit solcher Gewalt, dass das Heck des Schiffes weggerissen wurde. Während sie der Explosion zu entkommen versuchten, heulte Miyu triumphierend lenkte ihre Maschine in flachem Winkel in die obere Atmosphäre des Planeten. Wie einen flachen Stein, den man über die Oberfläche eines Sees springen ließ, ließ sie ihren Flieger mehrere Male von der Atmosphäre abprallen, bevor sie ihn wieder hochzog. Ein Blick auf ihre Sensoren verrieten ihr, dass das Schlachtschiff und einer der Kreuzer zerstört waren, während der zweite schwer angeschlagen an Höhe verlor. Sie entschied, dass es reichen musste. Dann setzte sie ihren Ruf an die Flotte ab.

    Auf der 'Yamato':

    Jules wurde in einen Raum geführt, in dem Offiziere aller am bevorstehenden Schlag beteiligten Kräfte versammelt waren. Ein Heerführer des Weltenschiffes und ein japanischer Colonel standen über eine Karte der Hauptstadt gebeugt, auf der sie offenbar bekannte Positionen des Feindes markierten, während einige Flottenoffiziere einen ausgedruckten Funkspruch studierten. Als der Oberst sie bemerkte, straffte er sich und sagte: „Ich bin sehr erfreut euch zu sehen, Julia Thora. Ich hoffe ihr seid hier, um mit an unserer Offensive teilzunehmen.“ Sie nickte. „Der XO meinte der Angriff habe bereits begonnen...“ „Hei. Unsere Kampfpiloten führen einen Angriff auf die feindlichen Kräfte im Orbit durch. Sobald wir eine Erfolgsmeldung erhalten haben, werfen wir unsere Flotte ins Gefecht und versuchen die geschlagene Bresche offen zu halten und unsere Truppen zu landen.“ „Und wenn sie am Boden sind?“ Er deutete auf die Karte, die das direkte Umland der Hauptstadt zeigte. „Captain McGrath und Lieutenant Kutagari haben in den letzten zwei Wochen den Widerstand unserer Truppen auf dem Planeten aufrecht gehalten. Wir konnten uns durch sie ein ungefähres Bild der Lage verschaffen.“ Er deutete auf einige Punkte auf der Karte. „Unsere wichtigsten Ziele sind alle im Stadtgebiet. Was wir dank unserer neuen Freunde an gepanzerten Einheiten haben wird Artillerie- und FlaRakstellungen am Stadtrand und in den Vorstädten angreifen, während die Infanterie mit drei Bataillonen die Stadt zu umfassen versucht und die restlichen Einheiten über die Hauptstraßen vorstoßen. Wenn es sein muss, holen wir uns die Stadt Häuserblock für Häuserblock zurück. Wir rechnen mit Unterstützung durch örtliche Widerstandsgruppen. Aber das wichtigste Ziel befindet sich hier.“

    Er klopfte mehrmals mit dem knochigen Finger auf einen Häuserblock im Stadtzentrum und erklärte: „Die Koreaner haben ihr Hauptquartier im Gebäude des Stadtrats, mitten im Zentrum, bezogen. Von dort aus koordinieren sie alle Einheiten im Stadtgebiet und im Umland. Im Moment stehen fast die Hälfte der feindlichen Soldaten 30 oder mehr Kilometer außerhalb des Siedlungsgebiets. Wenn wir diese Einheiten von ihrer Kommunikation abschneiden, können sie ihre Gegenangriffe nicht koordinieren und wir haben eine reale Chance. Sie haben alle umliegenden Gebäude befestigt und bei jedem Zivilisten in die oberen Stockwerke gesperrt. Ein großangelegter Angriff, selbst mit Panzern, würde in einem Blutbad enden. Und bevor wir aus der Luft angreifen könnten, müssen wir die Gebäude räumen. Die Situation macht das ganze zu einer Aufgabe für eine schnell operierende Spezialeinheit.“ Jules grinste, als er fortfuhr: „Man sagte mir eure Einheit sei für ein solches Vorhaben geeignet.“ „Was für Einheiten stehen dort?“ „Das volle Programm: Schützen, Grenadiere, Trupps mit schweren Waffen. Außerdem mindestens eine Kompanie mechanisierter Infanterie für schnelle Reaktion im Stadtgebiet. Wir werden so viele Gegner wie möglich rauslocken. Aber rechnen sie mit heftigem Widerstand.“ Sie machte eine abschätzige Geste mit der Hand. „Nichts womit wir nicht schon fertig geworden wären, Colonel.“ Der Japaner schmunzelte zufrieden und sagte: „Sie landen zusammen mit Captain Takeos Truppe. Melden sie sich bei ihm im Transporthangar, sobald sie bereit sind.“

    Zurück auf der Fidelity rief Jules alle Besatzungsmitglieder direkt in die Waffenkammer. Während sie auf die letzten Nachzügler warteten, lauschte sie den Gesprächen einiger Anwesender. Einige mutmaßten sie würden sich am Angriff beteiligen, doch sie hörte auch Stimmen, die sagten, sie hätten schon mehr für die Japaner getan, als alle Länder der vereinten Nationen zusammen während der letzten 12 Jahre. Ein anderer stellte auch die Aktion an sich in Frage. Er sprach davon auf der Erde seien nicht zu viele, wohl aber die falschen Leute gestorben. Er sah die Seele der Einheit verloren. Jules wartete, bis alle versammelt waren. Dann stellte sie sich vor die Truppe und sagte: „Ich habe mit dem japanischen Kommandanten gesprochen, der die Offensive anführen wird. Wir werden gebraucht um eines der am schwersten verteidigten Ziele des ganzen Planeten einzunehmen. Ich habe unsere Unterstützung zugesagt.“ Einige der Söldner steckten flüsternd die Köpfe zusammen. Anderen war deutlich anzusehen, dass sie mit der Entscheidung unzufrieden waren. Jules ging vor ihnen auf und ab und meinte: „Ich bin nicht blind. Mir ist klar, dass unsere Verluste schmerzhaft waren und mir ist nicht entgangen, dass einige von ihnen es lieber jetzt beenden würden. Aber der Spruch vom Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende gilt hier nicht. Wir haben diese ganze Entwicklung in Gang gesetzt. Wären wir nicht gewesen, hätten die Leute, die sich hier und Heute zur Schlacht sammeln, sich zerstreut und niemand stünde zwischen Kyoto und den Invasoren. Wir können diesem Kampf nicht ausweichen. Ich verlange noch ein letztes Mal von ihnen Soldaten zu sein. Sobald das hier vorüber ist, unterwerfe ich mich ihren Entscheidungen. Aber nicht heute. Wir haben uns vor bald einem Jahr für diesen Weg entschieden. Gehen wir ihn zuende.“

    Sobald sie fertig war, scheuchten die ranghöheren unter den Anwesenden, allen voran Osburg und Salim, die Truppe an sich kampfbereit zu machen. Der harsche militärische Befehlston auch jene, die nicht gerade von Vorfreude auf den Kampf übermannt wurden, spuren. Sie legten ihre Ausrüstung an, bewaffneten sich und nahmen vor der Laderampe Aufstellung. Als Jules das Schiff als letzte verließ, kam sie nicht umhin etwas wie Stolz zu empfinden. Die neunzehn Männer und Frauen, jene neunzehn von achtunddreißig, die die letzten neun Monate überlebt hatten, in ihren mattgrauen Rüstungen und mit den Laserwaffen in den Händen, die hier in Reih und Glied angetreten waren, waren keine der alten ST-Einheiten und Jules machte sich in diesem Punkt auch keine Illusionen. Die alten Zeiten waren vorbei. Aber sie hatte immer Glück gehabt und mit guten Leuten zusammen gekämpft. Und wenn man die richtigen Kameraden an seiner Seite hatte, konnte eine Schlacht so gut sein wie jede andere. Sie schritt die Reihe noch einmal mit einem aufmunternden Lächeln ab. Dann deutete sie in Richtung des nächsten Aufzuges und sagte: „Vorwärts.“

    Die Transporthangars waren lang gestreckte Hallen zu beiden Seiten des Schiffsrumpfes, die außen auf dem Hauptpanzergürtel saßen. Auf der Backbordseite, wo Jules und ihre Leute sich hin begaben, standen ein Dutzend großer Landungsshuttles, die jeweils eine komplette Kompanie in einer Kampfzone absetzen konnten. Jules entdeckte Captain Takeo vor einem der Shuttles, wo er gerade seine Leute dabei beobachtete an Bord zu gehen. Er war ein stämmiger, vernarbter Veteran, in dessen Blick Jules einen Ausdruck zu erkennen glaubte, wie sie ihn schon bei vielen Offizieren gesehen hatte, die wussten, dass nur die wenigsten ihrer Soldaten den Tag überleben würden. Als sie neben ihn trat und salutierte, sagte er: „Ah, sie müssen die Kommandoeinheit sein, von der die Rede war.“ Sie nickte und deutete auf ihre Begleiter. „Wir sollen uns für die Landung ihnen anschließen.“ „Nicht nur dort“, erwiderte der Japaner. „Meine Jungs und ich werden sie fast drei Kilometer durch die Kampfzone bringen müssen.“ Er zückte einen alten Stadtplan, auf dem er einige Markierungen gemacht hatte. „Unsere Landezone ist hier“, erklärte er und zeigte dabei auf eine relativ freie Fläche außerhalb der Stadt. „Meine Einheit gehört zu denen, die entlang des Flusses vorstoßen sollen. Wir müssen die Uferstraßen oder dicht dran verlaufende Parallelstraßen entlang und die zweite Brücke besetzen. Der Weg dahin führt durch die reinste Todeszone, aber wenn wir uns an der Brücke verschanzen können, hindern wir die Koreaner daran ihre Einheiten von der Westseite ranzuführen. Wenn wir an der Brücke sind, kommen sie zum Zug.“

    Er ließ seinen Finger über dem alten Stadtkern kreisen und erklärte: „Bevor die Stadt mit Flüchtlingen überschwemmt wurde, war eine Untergrundbahn im Bau. Wir haben einige der Tunnels schon damals benutzt, um Leute und Material ungesehen durch die Stadt zu bringen, bis die Koreaner da unten alles mit Saringas überflutet und versiegelt haben. Widerstandszellen haben während der letzten Jahre einige Eingänge wieder geöffnet. Es gab Wassereinbrüche und Einstürze, so dass wir nicht wissen welche Tunnel passierbar sind, aber wenn sie es bis zur Zentralstation schaffen, sind sie nur noch wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt. Folgen sie einfach immer der Linie 3.“

    Auf der Brücke warf indes der Rudergänger einen nervösen Blick zu jenem Mann namens Atreos, unter dessen Anleitung das Schiff modifiziert worden war. Die hagere, hoch aufgeschossene Gestalt, die durch ihren langen schwarzen Mantel noch schmaler wirkte als sie ohnehin schon war und vor deren von hellen Tätowierungen bedecktem bleichen Gesicht jedermann unwillkürlich mit dem Blick auszuweichen versuchte, stand etwa einen Meter hinter ihm und beobachtete die Anzeigen der Antriebskontrolle. Als er die Aufregung des Unteroffiziers bemerkte, sagte er: „Keine Sorge. Es wird funktionieren.“ Der Japaner zwang sich zu einem ausdruckslosen Gesicht – ein Versuch zu lächeln hätte unweigerlich seine Angst für jedermann sichtbar gemacht – und sagte: „Natürlich. Ich muss euch in dieser Sache vertrauen.“ Der Fremde nickte. „Seid sicher, es wird funktionieren.“ Der Rudergänger nickte und atmete noch einmal tief durch. Dann griff er nach den Reglern für den Antrieb. Er hatte dieses Schiff schon auf seiner großen Flucht vor 12 Jahren gesteuert und es sicher in dieses Asteroidenfeld hinein gelenkt. Es waren weder die Kraft der gewaltigen Triebwerke, noch der Kurs, die ihn beunruhigten. Es war der neue Überlichtgeschwindigkeitsantrieb.

    Als Atreos versucht hatte ihm technische Details zu erklären, hatte er kaum ein Wort verstanden. Er wusste nur, dass das Triebwerk irgendwie auf Quantenebene eine Verbindung zwischen zwei Orten schuf und zwischen diesen zwei Punkten eine Versetzung des Schiffes in Nullzeit ermöglichen sollte. Er hatte keine Ahnung welche Kräfte er wecken würde, wenn er diese Hebel umlegte. Und das war es, was ihm Angst machte. Kurz nachdem er alles gemäß den ihm gegebenen Instruktionen eingestellt hatte, kam das Signal der Jagdgeschwader und der Kapitän befahl den Sprung. Als der Rudergänger zögerte, sagte Atreos erneut: „Es wird funktionieren.“ Der Japaner unterdrückte ein Zittern seiner Hand und schob die Hebel bis zum Anschlag nach vorne. Atreos schmunzelte und murmelte leise: „Hoffe ich zumindest.“ Drei Sekunden spürten sie während verschiedene Kraftfelder sich um das Schiff aufbauten etwas wie ein Ziehen im Hinterkopf, aus dem für einen kurzen Moment ein stechender Schmerz wurde, während die meisten Muskeln am Körper sich verkrampften. Dann fiel auf einmal die künstliche Schwerkraft aus. Einige Crewman übergaben sich, andere klammerten sich an ihre Sitze. Für einen Moment herrschte Verwirrung. Doch während die Besatzung ihre Sinne noch ordnete, ging auf einmal ein heftiger Ruck wie nach einem Raketeneinschlag durch das Schiff und aus der schiffsinternen Kom drangen Anfragen der Geschützstationen um Feuererlaubnis. Verwirrt war der Rudergänger einen Blick aus den Brückenfenstern. Sie waren da. Über ihnen schwebte Kyoto wie eine blaue und grüne Perle.

    Die 'Yamato' war inmitten eines heftigen Kampfes zwischen Jägern der goldenen Chrysantheme und der koreanischen Flotte aufgetaucht. Auf der Brücke brüllte der Kapitän in das Mikrophon seines Headsets: „Alle CIWs, Feuer nach eigenem Ermessen! Holt diese Bastarde vom Himmel!“ Gleichzeitig wandte er seinen Blick in Richtung des Radarschirms. Der daran sitzende Unteroffizier rief: „Ittō Kaisa, wir orten zwei Schlachtschiffe an den Lagrange-Punkten des Planeten. Eines hat bereits Kurs auf uns gesetzt, das andere führt ein Wendemanöver aus.“ „Rudergänger“, befahl er, „bringen sie uns mit maximaler Beschleunigung in den LEO. Aussetzen der Landungsshuttles vorbereiten. Achtung, Kampfgeschwader Hito gehen sie in Formation mit uns und halten sie sich bereit die Shuttles zu eskortieren.“

    Das japanische Schlachtschiff strebte mit aller Kraft, die die alten Triebwerke noch zu entfesseln vermochten, dem Planeten entgegen. Sein unvermitteltes Auftauchen hatte den Feind kalt erwischt, doch die koreanischen Einheiten reagierten schnell. Während die beiden Schlachtschiffe sich für ein Zangenmanöver formierten, stiegen hunderte Jagdmaschinen vom Planeten oder von Trägerschiffen auf. Die schweren koreanischen Einheiten eröffneten schon auf große Distanz aus ihren Raketenbatterien das Feuer. Die Geschosse hämmerten auf die 'Yamato' ein und sandten Erschütterungen durch das Schiff, die die Offiziere auf der Brücke zwangen sich festzuhalten. Der Kapitän stand an der taktischen Anzeige und klammerte sich mit beiden Händen am Rand der Konsole fest. Sein XO rief: „Punktverteidigungsgeschütze feu...“ „Befehl ignorieren“, unterbrach er ihn, „der Panzergürtel muss das aushalten.“ „Ittō Kaisa, wir müssen uns verteidigen.“ „Ich weiß, was ich tue.“ „Feindliche Jäger im Anflug“, erscholl eine andere Meldung. „Zwei Geschwader auf direktem Abfangkurs. Drei weitere blockieren unseren Flugvektor.“ Schnell ließ er sich die Informationen auf die Anzeige geben. Während die Daten beinahe stroboskopisch über den Schirm flackerten, dachte er fieberhaft nach. Der Feind stand dicht genug, um die Landung zu gefährden. Dann sah er die großen Objekte, die von den Sensoren als Hindernisse im niedrigen Orbit eingestuft wurden: Die Trümmer der feindlichen Kreuzer. „CIW: Feuer auf die anfliegenden Jäger konzentrieren. Achtung, Hauptgeschütze: Feuer in Richtung 30 0 1.“

    Nur Sekunden später hatten die Geschützcrews die beiden noch funktionstüchtigen schweren Massebeschleuniger am Bug ausgerichtet und spien ihrem Ziel die Geschosse entgegen. Mehrere 150 kg schwere Geschosse schlugen mit fast 100 Kilometern pro Sekunde in die Trümmer ein und ließen sie zu einer Wolke aus zahllosen bis zu einer Tonne schweren Bruchstücken zerbersten, die immer schneller auf den Planeten zustürzte. Auf der Brücke befahl der Kapitän: „Die Landungsshuttles so schnell wie möglich starten. Kampfgeschwader Hito, Transportpiloten, fliegen sie in die Trümmerwolke und benutzen sie sie als Deckung für ihren Landeanflug. Rudergänger, bringen sie uns wieder in einen höheren Orbit, sobald die Shuttles gestartet sind. Wir brauchen Platz zum Manövrieren.“

    Jules hatte sich kurz vor dem Sprung auf eine der schlichten Sitzreihen im Shuttle, die sich nicht im Mindesten von dem unterschieden, was sie früher in Transportflugzeugen der Bundeswehr kennen gelernt hatte, gesetzt und war, nachdem sie ihre eigene Verwirrung nach dem Sprung niedergerungen hatte, gerade dabei ihre Sicherheitsgurte anzulegen, als plötzlich ein heftiger Ruck durch das Schiff ging und es in Richtung der Startluke gezogen wurde. Sie rutschte beinahe vom Sitz, fand aber noch rechtzeitig halt und schloss den Gurt. Sekundenbruchteile später wurde sie heftig hinein gepresst, als der Flieger aus dem Hangar geschossen wurde und seine eigenen Triebwerke zündete. Zuerst wurde sie nur von der Beschleunigung leicht zur Seite gepresst, spürte aber ansonsten kein Gewicht. Dann begann langsam die Schwerkraft von Kyoto zu wirken und sie bekam jede noch so kleine Kurskorrektur mit. Vorsichtig beugte sie den Oberkörper etwas vor und erhaschte einen Blick in das Cockpit hinein und durch die Frontfenster. Zuerst blinzelte sie erschrocken, dann wurde ihr klar, dass die Flieger der Angriffswelle inmitten einer Wolke von Trümmern hinunter kamen. War die 'Yamato' getroffen worden? Sie erkannte noch, dass die Geschosse koreanischer Abfangjäger mit den Trümmern kollidierten, bevor sie eine der Maschinen treffen konnten. Dann drückte der neben ihr sitzende Offizier sie wieder in ihn ihren Sitz zurück. Sie wurden noch einige Augenblicke lang heftig durchgeschüttelt und ein lautes Brüllen ging durch das Shuttle, während der Schein der feurigen Aura aus Reibungshitze, die die Maschine umtanzte, den ganzen Innenraum in ein diffuses Farbenspiel tauchte.

    Als der Flug schließlich ruhiger wurde und der Pilot das Tempo drosselte, ging jedoch auf einmal eine heftige Erschütterung durch die Maschine, die die Soldaten mit solcher Wucht in ihre Sitze warf, dass der Soldat, der Jules gegenüber saß und seinen Helm noch nicht aufgesetzt hatte, sich beim Aufprall an die Wand das Genick brach. Die Maschine begann sich zu überschlagen und wild zu trudeln. Aufgeregte Stimmen aus dem Cockpit verrieten, dass die Piloten noch versuchten den Kurs zu stabilisieren, doch es war vergeblich. Mit der Grazie und den Flugeigenschaften eines Backsteins bekam der Transporter schließlich Grundberührung. Er schlug irgendwo ins Erdreich, wurde von seiner Bewegungsenergie noch einige hundert Meter weit getragen und kam schließlich zum stehen, als er dumpf auf etwas großes aufprallte und kopfüber liegen blieb.

    Kaum dass die Maschine stand, schüttelte Jules ihre Benommenheit ab, löste die Gurte, hielt sich an der Sitzbank fest und ließ sich elegant auf den Boden fallen. Während einige Soldaten es ihr gleich taten, nahm sie ihr Gewehr vom Rücken und sah in Richtung des Cockpits. Einer der Piloten schien beim Aufprall umgekommen zu sein, doch der andere stöhnte noch leise vor Schmerzen. Sie zu ihm. Doch als sie das Cockpit betrat, durchschlugen einige Kugeln die schon von Bruchlinien wie von den Fäden eines Spinnennetzes durchzogene Cockpitscheibe und töteten den Mann. Sie ließ sich sofort zu Boden fallen, entsicherte ihr Gewehr und zielte nach draußen. Sie sah zwei Männer in koreanischen Uniformen, einer mit einer Maschinen-, der andere mit einer Reihenfeuerpistole, die durch das Fenster hinein spähten. Ohne weiter nachzudenken ignorierte sie die Aufforderung des Captains zu warten und drückte ab. Wo die Pistole des Koreaners drei Schüsse gebraucht hatte, um durch das verstärkte Glas zu schlagen, schnitt das Lasergewehr einfach hindurch. Ihr erster Schuss brannte ihrem Gegner, der nicht einmal eine Schutzweste trug, ein Knie beinahe weg. Der zweite und dritte gingen direkt in den Kopf. Dann erledigte sie den zweiten Soldaten, stand auf und trat mehrmals mit voller Wucht dort gegen das Glas, wo es durchschossen worden war. Nach dem fünften Tritt gab die Scheibe endlich nach und sie konnte ins Freie.

    Draußen sah sie den Grund für ihre harte Landung. Der Flieger war auf einem morastigen Feld unweit der Stadt niedergegangen und war schließlich durch die seitliche Kollision mit der Schanze einer koreanischen FlaRak-Stellung, den Splittern einer QW2-Flugabwehrrakete in den Triebwerken des Shuttles nach wahrscheinlich jene, von der sie abgeschossen waren, gestoppt worden. Sie hatte gerade, noch halb unter dem Wrack liegend, einen vorsichtigen Blick in die Umgebung geworfen, als sie Geräusche aus der Schanze hörte. Sie drückte sich in die Hocke hoch und warf sich gegen den Erdwall. Während sie sich schussbereit machte, sah sie einige Koreaner, die aus der Stellung heraus kamen und zur Heckluke des Shuttles gingen. Zwei hatten bereits Handgranaten gezückt, während die anderen ihre Gewehre bereit hatten. Sie überlegte nicht lange, sondern legte an und schoss. Mit einer schnellen Salve traf sie drei Männer, von denen zwei zu Boden gingen. Die Koreaner fuhren sofort herum und erwiderten das Feuer. Ein Schuss streifte Jules an der Schulter und sie konnte sich nur rechtzeitig in Sicherheit bringen, indem sie sich über den Rand des Walls in die Schanze hinein zog. Sie kroch ein paar Meter weiter in eine bessere Position, dann erhob sie sich wieder und feuerte. Sie lieferte sich einen kurzen Schusswechsel mit den Koreanern. Dann tauchten einige Japaner, die ebenfalls durch das zerstörte Cockpit gekrochen waren, neben dem Wrack auf und die Hecktür wurde abgesprengt, als jemand von innen heraus die Notfallladungen zündete, die an der Hydraulik angebracht waren. Die Soldaten stürmten heraus und mähten die Koreaner nieder.

    Als Jules sich wieder aufrappelte, wurde sie auf einmal von zwei kräftigen Händen gepackt und gegen das Flugabwehrgeschütz geschleudert. In der nächsten Sekunde sah sie in das grimmige Gesicht des Captains, der sie dem rechten Arm an ihrer Kehle gegen die Lafette drückte. „Das nächste mal warten sie auf meine Anweisungen“, sagte er wütend. Sie funkelte ihn an und erwiderte mit gepresster Stimme: „Die hätten uns abgeknallt, wie Ratten in der Falle.“ Er schüttelte den Kopf. „Versuchen sie gar nicht erst zu widersprechen. Die Passagierkabine des Transporters ist schwer genug gepanzert. Aber solche Einzeltouren sind tödlich. Also merken sie sich die Spielregeln: Egal wie Recht die Situation ihnen hier gegeben hat, wir sind 5 zu 1 unterlegen und haben kaum 200 Schuss pro Mann. Ohne genaue Koordination kommt keiner von uns hier lebend raus. Also ersparen sie mir ihre Einzelkämpferaktionen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Widerwillig nickte sie, freilich ohne sich irgendeiner Schuld bewusst zu sein. Er ließ sie los und meinte: „Gut.“ Dann ließ er seinen Blick über das Land schweifen und zog einen Kreiselkompass hervor. „Wir sind auf der Westseite gelandet“, konstatierte er nach einigen Augenblicken. „Nicht gut. Gar nicht gut.“ Er bestimmte ihre genaue Position, dann rief er mit lauter Stimme: „Männer, wir sind auf der falschen Seite des Flusses gelandet. Zwischen uns und der Brücke liegen zwei Kilometer über das Feld, vier durch Stadtgebiet und feindliche Truppen in unbekannter Stärke. Aber das ändert nichts an unserem Auftrag. Also Bewegung.“ Er deutete gen Osten. Die Truppe fächerte sich in eine breite Formation auf und marschierte los.

    Während sie vorrückten, bekamen sie eine Ahnung der Kämpfe, die am anderen Ufer des Flusses tobten. Das Donnern von Explosionen und Schusswechseln drang bis zu ihnen hinüber und immer wieder schossen von großen Explosionen aufgewirbelte Wolken aus Staub und Feuer gen Himmel. Das wenige, dass sie erkennen konnten, verriet ihnen, dass die Landung die Koreaner kalt erwischt haben musste und einige Einheiten schon mehr als einen Kilometer tief in die Stadt eingedrungen sein musste. Nun hatte sich der Gegner jedoch seinen Schock überwunden und schien sich entschlossen gegen den Angriff zu stellen. Die Kampflinie schien irgendwo kurz hinter der äußeren Ringstraße zum Stehen gekommen zu sein und der Feind hatte begonnen Hubschrauber und Skimmer in die Luft zu bringen. Jules begann Captain Takeos Nervosität zu verstehen. Die Landung war keineswegs der Auftakt zu einer schnellen Entscheidung gewesen, sondern zu einer sehr blutigen Schlacht.

    Kurz vor der Stadt ließ Takeo zwei Aufklärungstrupps ausschwärmen, um Stellungen in den Außenbezirken auszukundschaften. Die Koreaner hatten als Folge des Raketenbeschusses durch Einheiten des Widerstandes in die Wohnbezirke zurückgezogen, wo ihre Gegner in einer derart dicht besiedelten Stadt zwangsläufig Zivilisten treffen mussten, wenn sie mit genügend Feuerkraft angriffen, um die Volksarmisten schnell zu überwältigen. So konnten sie einige Straßenzüge tief in die Stadt eindringen, wobei sie die großen Hauptstraßen umgingen und sich ihren Weg durch Hinterhöfe und über Mauern bahnten, bevor sie auf erste Feinde trafen. Es waren einige mit Sandsäcken befestigte MG-Nester, die an die zu beiden Seiten der Straße aufragenden Häuser geschmiegt eine kleine Nebenstraße blockierten, die für sie den schnellsten Weg zum Fluss darstellte. Jules meinte durch die Gefechtssensoren ihres Helms auch einen Granatwerfer auf einem Dreibein zu erkennen. Sie hatten sich durch einige enge Gassen seitlich genähert. Takeo dirigierte seine Männer gerade per Handzeichen in Angriffsposition, als eines der Maschinengewehre das Feuer eröffnete. Die Geschosse ließen die Mauerecke, hinter der sich einer der Soldaten verborgen hatte, zu einer Wolke aus Staub und Splittern zerstieben. Der Mann selbst wurde von einer einzelnen Kugel am Rücken getroffen, die eine blutige Wunde riss und ihn zusammenklappen ließ. Unfähig wieder aufzustehen blieb er für einen Moment schreiend liegen und versuchte dann sich mit den Armen vorwärts zu ziehen. Eine zweite Kugel beendete sein Leiden.

    Praktisch im gleichen Moment reagierten Jules und ihre Leute. Sie rief ihren Leuten zu: „Einnebeln!“ Sekunden später flogen drei Granaten auf die Straße und legten dickte Rauschwaden zwischen die Kompanie und den Feind. „Bereithalten!“ Sie zückte ihre Pistole und Takeo verstand. Er gab seinen Leuten einen Befehl auf Japanisch, auf den hin drei Männer mit Maschinengewehren ihre Deckung aufgaben und Sperrfeuer in die Straße legten. Jules lief zusammen mit zwei Begleitern los. Sie machten einen Schritt auf die Straße hinaus, ließen sich dort zu Boden fallen und krochen in Richtung der MG-Nester. Nur eine Hand breit über ihnen fegten die Salven des Sperrfeuers hinweg und ein Stakkato dumpfen Kraches verriet, dass der Granatwerfer das Feuer eröffnet hatte. Explosionen und Schmerzensschreie hallten laut durch die Häuserschluchten und auch wenn es Bedeutete, dass ihre Mitstreiter starben, war sie dankbar dafür, denn sie übertönten alle Geräusche, die sie selbst machen konnte. Die Sichtweite lag in diesem Nebel bei nur knapp einem Meter, so dass sie die MG-Stellung erst bemerkte, als die Sandsäcke nur eine Armeslänge vor ihr auftauchten. Sie kroch seitlich neben die Barrikade und signalisierte den Japanern durch ein kurzes Knacken über das Funkgerät das Feuer einzustellen. Als die Maschinengewehre in ihrem Rücken schwiegen, richtete sie sich auf die Knie auf und erhaschte einen Blick in die Stellung. Sie sah drei Koreaner, zwei am MG und einer mit einem Sturmgewehr. Während der MG-Schütze immer noch in den Nebel hinein schoss, zögerte der Mann mit dem Sturmgewehr und sah sich misstrauisch um. Nachdem die Japaner so plötzlich das Feuer eingestellt hatten, schien er genau das zu erwarten, was sie gerade versuchten. Vielleicht war es das Knirschen von Staub unter ihren Stiefeln oder auch nur ihr Atem, aber im gleichen Moment, in dem sie ihre Waffe hob, wirbelte er herum und richtete sein Gewehr in ihre Richtung. Sie war einen Lidschlag schneller. Ein Laserschuss löste sich aus ihrer Pistole und verbrannte sein Gesicht zur Unkenntlichkeit. Sein Finger zuckte noch unkontrolliert am Abzug und jagte zwei Schüsse in die Holzdecke der Stellung, dann brach er zusammen. Den beiden MG-Schützen blieb keine Zeit mehr zum Reagieren. Gleichzeitig schalteten ihre Begleiter die zweite Stellung aus.

    Der Lärm des Schusswechsels musste über mehrere Straßenzüge zu hören gewesen sein. So schnell ihre Füße sie trugen bewegten sie sich die Straße entlang in Richtung Fluss. Jeder weitere Widerstand erschöpfte sich in kurzen Schusswechseln mit Einheiten, die kaum mehr als Zugstärke hatten, aber die verzweifelten Funksprüche von der anderen Seite des Flusses verrieten, wo die feindlichen Truppen standen. Kurz vor der Brücke trafen sie meldeten die Späher eine größere feindliche Truppe, die mit mehreren Scharfschützen in einem Hochhaus Stellung bezogen hatte. Takeo hatte die Truppe in einem Hinterhof Halt machen lassen und seine Unteroffiziere zu sich gerufen. Während er mit seinem Messer eine Skizze in den Dreck kratzte, erklärte er: „Der Gegner sitzt hier im Hochhaus am alten Elektrowerk. Scharfschützen haben von dort aus ein wahnsinniges Schussfeld. Die jetzt noch umgehen zu wollen würde bedeuten mindestens zwei Kilometer in die falsche Richtung gehen zu müssen. Wir müssen aber daran vorbei. Also gibt es nur den Weg mitten hindurch. Ich greife mit dem ersten Zug von Westen her an. Wir werden versuchend das Feuer möglichst lang auf uns zu ziehen. Der zweite und dritte Zug rücken von Süden über das Werksgelände an. Sich dort durchzukämpfen wird nicht einfach, aber es gibt dort jede Menge Deckung vor den Scharfschützen. Thora-sama, ihre Einheit wird versuchen über die Rückseite des Gebäudes hinein zu kommen. Die Straßen sind dort relativ offen, aber wenn wir genug Druck machen, sollten sie durchkommen können.“

    Unterdessen im Orbit:

    Die beiden verbliebenen koreanischen Schlachtschiffe hatten zur 'Yamato' aufgeschlossen und nahmen sie von beiden Seiten in die Zange. Die Gefechtsdistanz lag bei kaum 200 km und die Schiffe waren relativ zueinander kaum in Bewegung, so dass fast jeder Schuss sein Ziel fandt. Die Taktik der Koreaner war einfach: Sie vertrauten auf ihre höhere Kadenz und konzentrierten ihr Feuer auf Schadstellen, die nach der letzten Schlacht nicht nur provisorisch hatten ausgebessert werden können. Kaisa hatte derweil versucht den Abstand zum Planeten zu vergrößern und den Feind aus dem Orbit wegzulocken. Als der Feind sich zurückfallen ließ, hatte er schließlich Befehl gegeben Kühlmittel aus den Antrieben abzulassen, eine Maßnahme, die normalerweise dazu diente Überhitzung zu verhindern, um so einen Maschinenschaden vorzutäuschen. Endlich bissen seine Gegner an. Beide Schlachtschiffe verließen mit Jägergeleit den Orbit, um dem vermeintlich schwer angeschlagenen Gegner den Fangschuss zu verpassen. Kaisa beobachtete auf der Brücke die Radaranzeigen. Sein Gesicht war in einem Ausdruck der Konzentration versteinert und er hatte sich seit über eine Minute nicht einmal um Haaresbreite bewegt, während sein erster Offizier das Feuer der Heckgeschütze koordinierte. Dann sagte er auf einmal: „Die Distanz ist groß genug. Rufen sie unsere Verbündeten.“

    Nur wenige Minuten später schrillten auf den koreanischen Schiffen die Alarmglocken los, als die Sensoren mehrere Hyperraumereignisse über nur wenige Kilometer an den Flanken der Yamato gestreut registrierten. Die Schiffe der Reetou, die sich zeitgleich mit dem Aufbruch der Yamato in ein Nachbarsonnensystem von Kyoto begeben hatten, fielen so dicht am Planeten wie es ihnen möglich war in den Normalraum zurück und eröffneten unverzüglich das Feuer. Gleichzeitig aktivierte man auf der Yamato die Konstruktion, die Atreos und seine Techniker an der Unterseite des Rumpfes angebracht hatten. Wie bei einem Lichtbogen sprang auf einmal ein Energiestrahl in der Anordnung über und weitere sich zu einer hell leuchtenden Sphäre mit bläulicher Corona, die sich auf die Umrisse eines ungefähr 30 Meter langen Schiffes zusammenzog. Als es sich materialisiert hatte, beschleunigte es sofort und eilte den Reetou zur Hilfe. Während noch vier andere Angriffsschiffe des Weltenschiffes auf diese Weise den Rückruf durchliefen, leitete die Yamato ein Wendemanöver ein und warf sich erneut in den Kampf.

    Am Boden:

    Jules und ihre Leute hatten sich durch einige Gassen in Angriffsposition vorgearbeitet. In der Deckung halb zerschossener Häuser hatten sie es geschafft den Scharfschützen zu entgehen und hinter das Hochhaus zu kommen. Während sie auf ein Signal von Takeo warteten, sah Jules sich vorsichtig um. Von der anderen Seite des Flusses hallte noch immer Schlachtlärm herüber und die Kämpfe schienen sogar noch an Heftigkeit gewonnen zu haben. An diesem Ufer hingegen war es beinahe beunruhigend still, bedachte man mit welcher Heftigkeit im Rest der Stadt gekämpft wurde. Nur vereinzelt hatten sie auf ihrem Vormarsch Kämpfe bemerkt und hatten sich selbst nur vier, fünf Mal durch ernsthaften Widerstand kämpfen müssen. Hier in dieser Straße bekam sie ein Gefühl für die Gründe dafür. Die meisten Häuser hier zeigten deutliche Spuren von Kämpfen, hatten zerschossene Fassaden oder waren teilweise ausgebrannt. Die Menschen hier hatten gekämpft und verloren. In den sehr viel dichter und verwinkelter angelegten Vierteln auf der anderen Seite hatten die Widerstandskämpfer sich dem Feind besser entziehen können und in den Gewölben der Unterstadt eine sichere Zuflucht gehabt. Diesen Teil der Stadt hatten sie einfach aufgegeben.

    An einem Fenster eines besonders mitgenommenen Hauses entdeckte sie eine alte Frau, die mit ausdruckslosem Gesicht das Geschehen auf der Straße verfolgte, als sei dies nichts weiter als ein lauer Frühlingstag, an dem man dem Singen der Vögel lauschen konnte. Ihre Blicke trafen sich und Jules erschauderte, als sie erkannte mit welcher Leidenschaftslosigkeit sie das Geschehen akzeptierte. Nun wurde ihr Bewusst, dass auch aus Dutzenden anderer Fenster Blicke auf sie gerichtet waren. Für einen Moment verspürte sie das Bedürfnis ihre Waffe fort zu werfen und ihren Leuten zu befehlen abzurücken. Sie hatte schon vorher in Städten gekämpft und hatte im Krieg gegen Goa'uld und Ori den Tod von Zivilisten in Kauf genommen, ja manchmal regelrecht begrüßt. Aber das waren jedes Mal Anhänger ihrer Feinde gewesen. Nie zuvor hatte sie um eine Stadt kämpfen müssen, deren Bewohner sie als Verbündete betrachtete.
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  12. #30
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    Sie schob den Gedanken beiseite, riss sich vom Anblick der Fenster los und schob sich bis zur Hausecke vor, hinter der ihr Ziel lag. Das Hochhaus ragte gute zwanzig Stockwerke hoch auf und sie konnte in der Reflexion auf der Klinge ihres Messers mehrere MG-Stellungen in den unteren vier Stockwerken erkennen. Das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das das einzige Hindernis zwischen dem Hochhaus und dem Fluss dargestellt hatte, war eingestürzt, so dass man von hier aus ein freies Schussfeld auf das andere Ufer hatte, welches die Koreaner auch ausnutzten. Mindestens eines der MG und mehrere Scharfschützen auf dem Dach nahmen immer wieder Ziele auf der anderen Seite des Flusses aufs Korn. Jules zog sich wieder zurück und signalisierte ihren Leuten den Granatwerfer, den sie aus der koreanischen Stellung mitgenommen hatten, nach vorne zu bringen. Während sie die Waffe noch in Stellung brachten, drangen Schüsse aus nächster Nähe an ihr Ohr. Takeos Angriff hatte begonnen. Nur Sekunden gab er über Funk den Angriffsbefehl durch. Jules befahl den Werfer sofort schussbereit zu machen. Kaum dass die Waffe sicher stand und die Munitionstrommel eingesetzt war, richtete die Schützin sie aus und eröffnete das Feuer. Die 40mm-Granaten Schlugen auf die unteren beiden Stockwerke ein und zerlegten die Außenmauer in wenigen Augenblicken. Die Schützin schwenkte noch ein wenig nach oben und schoss die Munitionstrommel leer. Dann stürmten sie los.

    Auf den gut zwanzig Metern zwischen ihrer Deckung und dem Ziel schlug ihnen aus den oberen Stockwerken Abwehrfeuer entgegen. Drei der Söldner wurden getroffen, worauf die beiden MG-Schützen ihre Schritte verlangsamten und Deckungsfeuer abgaben. Im inneren des Gebäudes sicherten sie das Erdgeschoss und die Zugänge zu den Treppenhäusern. Jules sah zu Salim und meinte: „Wir müssen diese Scharfschützen loswerden. Jetzt.“ Der Libanese grinste breit und ging zu den Aufzügen, stemmte die Türen auf und sah die Schächte hinauf. Nach kurzem Überlegen richtete er sein Gewehr einen hinauf, feuerte den Unterlaufgranatwerfer ab und machte einen schnellen Schritt zurück. Einige Sekunden später schlugen die Überreste der Aufzugkabine mit einem Krachen auf. Er kletterte drüber hinweg, machte seinen Seilwerfer bereit und befahl: „Omori, Abdal, zu mir!“ Während die drei sich bereit machten, löste Jules sich von ihrer Position am Aufgang eines Treppenhauses und folgte ihnen in den Schacht. Sie schossen ihre Seilwerfer ab und ließen sich hinauf ziehen. Oben stellte sich Abdal auf die Notfallleiter an der Wand des Schachts und öffnete die Tür mit der daneben angebrachten Handkurbel.

    Sie säuberten das obere Stockwerk, blockierten die Türen des Treppenhauses und stiegen vorsichtig aufs Dach hinauf. Oben lagen in einer Langen Reihe an der Westseite fast zwei Dutzend Scharfschützen. Keiner von ihnen hatte die vier Neuankömmlinge bemerkt. Vorsichtig traten sie hinaus. Abdal, der ein Maschinengewehr trug, bildete die Spitze. Als Jules ihm folgte, kam plötzlich ein koreanischer Offizier um eine Entlüftung der Klimaanlage herum und sah sie. Er schrie irgendetwas und zog seine Pistole. Sie konnte nicht sagen, ob sie ihn zuerst traf, oder Salim. Von zwei Laserschüssen verbrannt brach er zusammen. Abdal flankte im selben Moment über ein zwischen ihm und der Schützenlinie verlaufendes Rohr hinweg und legte an. Vom Schuss direkt hinter ihnen aufgeschreckt sahen die Schützen sich um, doch der Syrier ließ ihnen keine Chance mehr. Er erledigte fast die Hälfte von ihnen, bevor ein hastig abgefeuerter Schuss ihn an der rechten Schulter erwischte. Er stolperte zurück, stieß gegen das Rohr und stürzte hinten über. Jules war mit einem Schritt bei ihm und nahm das Maschinengewehr auf. Während sie weiter feuerte, fragte sie: „Alles in Ordnung?“ „جحيم دموي !"

    Er setzte zu einem wütenden Redeschwall auf Arabisch an. Sie verstand kein Wort, doch sein Tonfall verriet, dass er vor Schmerz zu fluchen schien. Sie expedierte noch vier weitere Gegner zur Hölle, dann ging sie wieder in Deckung und sah nach Abdal. Die Kugel hatte seine Schulter durchschlagen und die Wunde blutete heftig. Sie funkte nach einem Sanitäter, warf noch einmal einen Blick in Richtung der Häuserkante und stieg dann über das Rohr. Sechs, vielleicht sieben der Scharfschützen waren noch am Leben. Es kam zu einem heftigen Schusswechsel, als sie ihre Gegner in eine Ecke drängten, wo diese sich hinter der Mobilfunksendeanlage verschanzten. Noch während sie die restlichen Kämpfer erledigten, stürmten mehrere von Takeos Männern das Gebäude von Westen her. Als sie den letzten Schützen erledigt hatten, glaubte Jules etwas gehört zu haben. Sie hielt in der Bewegung inne und horchte genau hin. Dann erkannte sie über den Schlachtenlärm hinweg auf einmal das gedämpfte Dröhnen eines Kampfhubschraubers. Sie brüllte aus vollem Halse eine Warnung. Im selben Moment tauchte eine Maschine über der Kante des Daches auf. Es war eine Maschine vom selben Typus, wie sie schon im Orikrieg zum Einsatz kam: Anstelle eines großen und verletzlichen Rotors hatte sie zwei mehr an Turbinen erinnernde gepanzerte Triebwerke an den Flanken, die allen Auftrieb lieferten ohne auf Antigrav-Technologie angewiesen zu sein.

    Sie rannte los. So schnell sie konnte setzte sie sich über alle Hindernisse hinweg und lief zurück zum Abgang. Im selben Moment in dem sie sich in Bewegung setzte, eröffnete der Helikopter das Feuer und ließ beide 30mm-Rotationskanonen über das Dach schwenken. Als sie gleich hinter Salim die rettende Treppe erreichte, sah sie noch, wie Omori, der am weitesten entfernt gestanden hatte, von einer Salve erwischt und zerrissen wurde. Sie stolperte die Stufen hinunter und suchte unten zusammen mit Abdal und Salim Deckung in einem fensterlosen Raum. Schwer atmend sah sie zu den anderen und sagte: „Ich kenn' diese Helis. Mit normalen Waffen kriegen wir da nicht mal einen Kratzer rein.“ Salim nickte und nahm eine Granate von seinem Munitionsgürtel, um den Granatwerfer seines Gewehrs nachzuladen. „Ich brauche nur einen Moment, um ordentlich zu zielen. Dann schicke ich das Ding zur Hölle.“ Jules nickte und antwortete: „Ich sorge für Ablenkung. Abdal, sie bleiben hier. Warten sie auf 'nen Sani.“

    Sie traten langsam und vorsichtig wieder auf den Flur hinaus und lauschten nach den Geräuschen des Helikopters. Dann hörten sie von draußen das Heulen der Rotationskanonen und lautes Geschrei. Wenn sie den Funkverkehr richtig deutete, zerlegte der Flieger gerade Takeos Zug. Sie pirschten sich zu einem Fenster vor und sahen ihn über der Straße an der Westseite fliegen. Das Feuer aus den Maschinengewehren der Widerstandskämpfer prallte wirkungslos an seiner Panzerung ab, während er auf alles Schoss, was sich bewegte. Salim legte an und murmelte: „Hoffen wir die Munition hält, was der Hersteller verspricht.“ Er zielte sorgfältig und Schoss. Im letzten Moment machte der Hubschrauber einen Schlenker und die Granate traf nur den Seitenpanzer eines Rotors. Sofort schwenkte die Maschine herum und richtete die Kanonen auf die beiden Schützen. Sie sprangen auf und liefen in unterschiedliche Richtungen los. Ein Schrapnell erwischte Jules an der unverbrannten Wange und riss eine tiefe Schramme hinein. Der Beschuss folgte ihr, als sie um eine Ecke verschwinden wollte und sich auf einmal vor einer soliden Wand wieder fand. Der Korridor hatte ein totes Ende. Sie aus dem Fenster und schloss schon mit ihrem Leben ab, als im buchstäblich letzten Moment eine Rakete den Heli zerfetzte.

    Sie verließ das Gebäude wieder und ging zu Takeo. Der japanische Captain saß auf einem Trümmerstück und wurde von einem Sanitäter versorgt. Ein 30mm-Geschoss hatte ihm das linke Bein abgerissen und der Blutverlust hatte seinem Gesicht alle Farbe genommen. Neben ihm sah Jules ihren Retter stehen. Niemand anderes als Lieutenant Kichirou Hirata, der Terrorist, der vor knapp zwei Monaten versucht hatte sie für den Widerstand zu rekrutieren, stand mit einem Raketenwerfer in der Hand neben dem Offizier. Einige seiner Männer sicherten die Eingänge des Hofes ab, während die Überlebenden von Takeos Verwundete und Waffen in das gerade gesicherte Gebäude brachten. „Thora-sama“, meinte der Captain, „dies hier ist Lieutenant Hirata. Seine Leute waren auf dem Weg zur Brücke, als sie den Helikopter bemerkt haben.“ Sie nickte und erwiderte: „Wir kennen uns bereits. Lietenant.“ „Miss Thora.“ Sie blickte in Richtung der Soldaten. „Warum verschanzen ihre Leute sich hier?“ Hirata legte den Kopf etwas zur Seite. „Sie waren auf dem Dach. Haben sie es nicht gesehen?“ „Ich war etwas zu sehr damit beschäftigt Kugeln auszuweichen, um die Landschaft zu bewundern.“ „Die Brücke, die sie einnehmen sollten, ist in der Hand der Koreaner. Oberst Hee, Hwangs Stellvertreter, hat jede motorisierte oder gepanzerte Einheit von dieser Seite des Flusses über eben diese eine Brücke befohlen. Alles was sie im Moment aufhält ist die Tatsache, dass ihre eigenen Panzer die Straßen verstopfen. Selbst wenn wir die Brücke erreichen, hätten wir nicht die geringste Chance.“

    Sie straffte sich. „Captain, sie haben gesagt wir hätten unsere Befehle. Solange diese Brücke offen bleibt, werden unsere Leute auf der anderen Seite durch schiere Überzahl erdrückt werden. Wir müssen angreifen.“ Der Japaner schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht vor die Brücke offen zu lassen. Aber der Angriff hier hat uns viel gekostet. Wir verschanzen uns in diesem Haus und zerstören die Brücke aus der Distanz.“ Sie warf den beiden einen fragenden Blick zu, auf den hin Hirata erklärte: „Meine Männer haben Panzerabwehrraketenwerfer und mit Naquada angereicherte Munition dabei. Ein einziger gut platzierter Treffer reicht, um die Brücke zu erledigen.“ „Meine Männer übernehmen die Werfer und setzen sie vom Dach des Hochhauses aus ein. Wir zerstören die Brücke aus der Distanz und ziehen den Feind auf uns. Wir werden durchhalten so lange wir können. Sie müssen weiter zum Ziel.“ Jules zögerte einen Moment. Dann fragte sie: „Wie kommen wir in die Tunnel?“ Hirata deutete nach Westen. „Wir bringen sie hin. Wir kennen ein paar Wartungseingänge, zu denen wir uns durchschlagen können müssten.“ Sie atmete noch einmal tief durch. Dann salutierte sie vor Takeo und sagte: „Viel Glück, Captain. Es war mir eine Ehre an ihrer Seite zu kämpfen.“

    Hiratas Leute führten sie über einige verschlungene Seitenstraßen vom Hochhaus weg. Als sie am Flussufer ankamen, hörten und sahen sie die Explosionen an der Brücke. Zwei Raketen hatten die wichtigsten Stützpfeiler getroffen und in bronzen schimmernden Feuerbällen ausgelöscht. Mit einem Dutzend Panzern und fast fünfhundert Soldaten darauf stürzte die Brücke ein. Während die Koreaner sich wieder entlang dieser Seite des Flusses verteilten, um sich für einen Angriff auf eine der besetzten Brücken neu zu formieren, stiegen die Söldner und Widerstandskämpfer hinab ins kalte Wasser...
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  13. Danke sagten:


  14. #31
    Gehasst, Verdammt, Vergöttert Avatar von Colonel Maybourne
    Registriert seit
    24.11.2004
    Ort
    Im Harz
    Beiträge
    3.843

    Standard

    Die Nordkoreaner werden sicher auspflippen, wenn sie erkennen das es die Yamato ist die sie da angreift.
    Aber wenn sie beide Schlachtschiffe und die Eskorten verlieren, ahben die Truppen auf dem Boden keinen Nachschub und sind abgeschnitten.

    Der General wird sicher versuchen, sich freizukaufen wenn ergefangen genommen wird und sollte schön theatralisch hingerichtet werden.
    Dürfte in Pjöngjang für ordentlich Troubel sorgen, wenn rauskommt, dass auch noch kaum bekannte Aliens den Japanern geholfen haben.

    Ach ja und Jules kann sich am Ende mal öffendlich zeigen, dass wäre sicher der schwerste Bissen für alle Politiker auf der Erde...

    Schöne Folge
    Bis dann.
    Das Leben ist ein Schwanz und wir die Eier, die mitgeschleift werden.


    Meine aktuellen Fanfiction:


    TGE Combined Season 1 Fire of War:

    http://www.stargate-project.de/starg...ad.php?t=11836




  15. #32
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    @Colonel Maybourne: Ganz beschränkt sind die Koreaner auch nicht. Immerhin steht 'Yamato' groß und gut sichtbar in Kanji und phonetisch in lateinischer Schrift auf dem Rumpf . Was den General angeht habe ich was durchaus theatralisches vor. Aber im Bezug auf Jules kann ich dir versprechen, dass es nicht dazu kommen wird. Eigentlich bin ich seit mehreren Folgen dabei sie in eine ganz andere Richtung zu entwickeln, was nur leider niemandem aufgefallen zu sein scheint.

    Und nun zur nächsten Episode. Gesamtlänge 16,5 S. Viel Spaß beim lesen.

    Episode 7: Die Befreiung von Kyoto, Teil 2 (Oder: Das Ende des Widerstandes)

    Schneidende Kälte umschloss Jules, als sie so lautlos wie möglich in den Fluss eintauchte, während sengende Hitze aus Richtung der zerstörten Brücke aufwallte. Mit einem flüchtigen Blick in die entsprechende Richtung sah sie einige sich nur grotesk langsam verflüchtende Explosionswolken, deren bronzener Schimmer sich über die angrenzenden Straßenzüge auszubreiten begann, während die Wracks mehrerer Panzer, deren stählerne Chassis teilweise bis zur Rotglut erhitzt worden waren, langsam im Fluss versanken und die wenigen Leiber koreanischer Soldaten, die nicht völlig verdampft worden waren, langsam den Fluss hinab auf sie zu trieben. Obwohl sie gut dreihundert Meter entfernt waren, konnte sie die Hitze noch fühlen, als wäre ihr Gesicht nur eine Hand breit von einem offenen Feuer entfernt. Es war ein seltsames Gefühl, wie ihr Gesicht beinahe simultan zur Kälte verbrannt wurde, die selbst durch die Rüstung hindurch noch alle Wärme aus ihren Gliedmaßen herauszureißen schien. Ihr verletztes Bein versteifte sich in der Kälte, während sie sich auf die Seite legte und mit einem Arm ihr Gewehr – anders als bei modernen Sturmgewehren waren Lasergewehre nicht wasserfest – über Wasser hielt.

    Mit kräftigen Schwimmzügen kämpfte sie gegen die Strömung an und arbeitete sich ans andere Ufer vor, wo sie als letzte ankam. Als Osburg sie mit einem einzigen, kräftigen Ruck aus dem Wasser zog, stieß sie mit dem Fuß noch gegen den Leichnam eines Koreaners. Ihr kam ein Sprichwort über das Warten am Ufer eines Flusses und die Leiche eines Feindes in den Sinn, das sie aber schnell wieder verdrängte. Ein kurzes Aufflackern von Schuldgefühl überkam sie und sie schalt sich selbst für den vorherigen Gedanken. Sie hatte diesen Krieg, einen Krieg dessen Initiatoren schon längst bekommen hatten, was sie wollten und der nur noch Ausdruck Jahrhunderte alten Hasses zwischen zwei Völkern war, die nie die Aussöhnung gesucht hatten, zu ihrem gemacht, aber letztlich hatte die Zeit, in der es gegen Leute ging, die sie mal für ihre eigenen gehalten hatte, ihr vor Augen geführt, dass weniger Hass in ihr steckte, als sie es einmal geglaubt hatte. Sie vermochte in ihren Antagonisten hier nicht mehr als Gegner zu sehen. Leute, die einem Ziel im Weg standen, das sie für gut und richtig hielt. Aber sie waren nicht mehr ihre Feinde. Das Gewehr in ihren Händen schien auf einmal eine halbe Tonne schwer zu werden und ihr aus den Fingern zu rutschen, als ihr jemand plötzlich an der Schulter rüttelte. Sie fuhr erschrocken herum und sah in Hiratas Gesicht. „Kommen sie“, sagte der Japaner, „wir müssen weiter. Der Einstieg ist ganz in der Nähe.“

    Mit schnellen Schritten und ständig die Umgebung über die Läufe ihrer Waffen hinweg nach Gefahren absuchend stiegen sie eine Treppe zur Uferstraße hoch und bahnten sich so schnell wie möglich einen Weg in eine Parallelstraße. In diesem Teil der Stadt waren die Spuren der Kämpfe überall sichtbar. Der Angriff der Chrysantheme war mit der sprichwörtlichen Schnelligkeit des Windes erfolgt und hatte den Feind tief ins Stadtgebiet zurückgedrängt, bevor dieser hatte reagieren können. Doch dann hatte kommandierende koreanische Offizier, ein Oberst namens Hee, die materielle Überlegenheit seiner Truppe in die Waagschale geworfen und mit überwältigender Macht zurückgeschlgen. Die Japaner hatten sich nun in die schmalen Seitenstraßen zurückgezogen, in denen die koreanischen Panzer nicht manövrieren konnten und lieferten sich blutige Häuserkämpfe mit vorrückenden Volksarmisten. Auch auf den Straßen, durch die sie sich vorarbeiteten hatten Tod und Teufel miteinander getanzt. Dutzende Leichen oder schwer Verwundete, Japaner wie Koreaner, die von ihren Kameraden einfach liegen gelassen worden waren, pflasterten ihren Weg. Während sie über die Leiber der gefallenen hinweg stiegen und das dumpfe Stakkato von Gewehrfeuer aus nur wenigen Metern Distanz zu hören war, einige direkt angrenzende Häuserblöcke schienen noch umkämpft, waren die Gesichter der Männer und Frauen des Stoßtrupps zu ausdruckslosen Masken eingefroren, Zeugnisse ihrer grimmigen Versuche sich auf ihre Aufgabe zu fokussieren und den Gräuel um sie herum keine Beachtung zu schenken.

    Sie erreichten eine Kreuzung, an der ihre schmale Gasse auf eine breitere Querstraße traf. Zwei der Söldner sicherten nach vorne hin ab und Hirata riskierte einen schnellen Blick um die Straßenecke. Dann zog er den Kopf hastig und leise fluchend zurück und biss sich auf die Unterlippe. „Was ist los?“, wollte Jules wissen. Er nickte in Richtung der Querstraße und meinte: „Der Zugang ist im Keller eines Hauses, hundert Meter die Straße runter auf der rechten Seite.“ „Und?“ „Sehen sie selbst.“ Sie drückte sich vorsichtig an die Ecke heran und lugte die Straße hinab. In etwa dort, wo der Zugang hätte sein sollen, stand kein Haus mehr. An seiner Stelle war nur noch ein großer Trümmerhaufen, wo Raketenartillerie einen halben Block eingeebnet hatte, auf dem ein schwerer Kampfpanzer stand, dessen Geschütz irgendetwas weiter unten die Straße entlang malträtierte und hinter dem mehrere koreanische Infanteristen Deckung gesucht hatten. Sie presste einen Fluch zwischen den Zähnen hervor und fragte: „Müssen wir einfach nur an dem Panzer vorbei, oder...“ „Sie sagen es“, fiel Hirata ihr ins Wort. „Das Ding steht auf dem, was von unserem Zugang übrig geblieben ist.“ „Gibt es noch einen anderen Weg?“ Der Japaner gab ein bestätigendes Grunzen von sich. „Einen halben Kilometer weiter. Wir müssen quer über eine große Hauptstraße.“ „Wo geht’s lang?“ Er deutete mit seiner Waffe gen Osten. Jules nickte. „Salim, Osburg, kümmert euch um den Panzer. Der Rest: Vorwärts.“

    Sie setzten sich in Bewegung. Mit hastigen Schritten überquerten sie die Straße und bahnten sich ihren Weg durch eine von hastig zu Barrikaden aufgetürmten Trümmern und einem brennenden koreanischen Transportpanzer, um den die Leichen mehrerer bewaffneter Zivilisten herum lagen – offenbar waren die Koreaner beim Versuch die Gasse zu durchqueren in einen Hinterhalt eines kleinen Widerstandstrupps geraten. Kurz vor der Hauptstraße fächerten sie sich in zwei Trupps aus und verschafften sich Zugang zu den Gebäuden zu beiden Seiten der Gasse. Es waren einfache Wohnhäuser, die hinlänglich vom Kampf gezeichnet waren. Als Jules an der Spitze ihrer Gruppe in eines der Gebäude eindrang, hörte sie hastige Schritte im Treppenhaus und sah im nächsten Moment einen jungen Mann, fast noch ein Kind, hinter einer Ecke auftauchen und mit einer Pistole auf sie zielen. Um ein Haar hätte sie ihn erschossen, erkannte aber noch rechtzeitig, dass er Zivilist war. Sie senkte ihre Waffe und redete auf Englisch auf ihn ein zu verschwinden, während ihre Leute zur Straße hin Stellung bezogen. Sie sah hinter dem Jungen zwei Frauen mit ängstlichen Blicken in ihre Richtung sehen. Während sie mit Nachdruck sagte „Go down into the basement“, hörte sie eine dumpfe Explosion und Osburgs Meldung über Funk, dass der Panzer ausgeschaltet war. Nur einen Augenblick später meldete sich Hirata und sagte: „Mindestens vier gegnerische Stellungen und zwei Panzer entlang der Straße. Drei Helis in der Luft. Mehrere Schusswechsel mit unseren Leuten.“ Sie ließ von den Zivilisten ab und rief ihren Leuten zu: „Irgendjemand der diese verdammte Sprache spricht: Schafft diese Leute hier weg.“ Dann ging sie neben der Vordertür in Stellung, wies Osburg an aufzuschließen und funkte zu Hirata: „Sehen sie eine Chance über die Straße zu kommen?“ „Das ist die reinste Todeszone. Wir müssen erst die Straße frei machen.“ „Verstanden. Stellung halten und abwarten.“ Sie ließ den Schalter an ihrem Funkgerät los und taxierte die Straße selbst mit kurzen Blicken. Dann wechselte sie die Frequenz und gab durch: „Einsatzleitung, hier Stoßtrupp. Feindliche Panzer und Helis versperren uns am Südende der fünften Straße den Weg. Brauchen Unterstützung.“

    Es dauerte einen Moment, bis die Antwort kam: „Stoßtrupp, können sie sich eine alternative Route suchen?“ „Negativ. Dafür müssten wir den Stadtkern komplett umgehen.“ „Verstanden.“ Ihr Gesprächspartner atmete für sie nur leise hörbar tief durch, als müsse er für seine Antwort allen Mut zusammennehmen. Dann sagte er: „Halten sie ihre Position. Wir versuchen ihnen Luftunterstützung zu schicken.“ Es dauerte einige Minuten, dann konnte sie in einer Spiegelung in einem der wenigen noch intakten großen Fenster an der Straße sehen, wie aus Stellungen, die sie keiner Seite zuordnen konnte, dutzende Flugabwehrraketen abgefeuert wurden. Nur einige Augenblicke später sah sie, worauf geschossen wurde: Mehrere Jagdbomber fegten mit hohem Tempo im Tiefflug über die Stadt hinweg und belegten die Straße vor ihnen mit heftigem Feuer aus Autokanonen und Raketenwerfern, alles in ihrem Weg zerstörend, was sich nicht rechtzeitig in die Gassen und Häuser rettete. Instinktiv duckte sie sich hinter die Wand und zog den Kopf ein. Praktisch im gleichen Moment donnerten die Flieger weiter aus allen Rohren feuernd über sie hinweg. Die Druckwelle wirbelte den Staub der Straße und sie konnte die Hitze der Explosionen auf der Haut spüren. Nur einen Lidschlag später erhob sie sich aus ihrer Deckung und brüllte: „Scharfschützen und Maschinengewehre nach vorne, der Rest weiter! Los, los, los!“

    Mit energischen Gesten winkte sie ihre Leute auf die Straße hinaus und lief dann selbst los. Die MG-Schützen nahmen sofort die Häuser unter Feuer, in denen sie koreanische Soldaten vermuteten, während die anderen so schnell wie möglich in die Gassen auf der gegenüberliegenden Straßenseite sprinteten. Mit einem flüchtigen Blick zum Himmel erkannte Jules den Grund für das Zögern der Kampfflieger: Von vier Maschinen, die den Anflug gewagt hatten, hatte nur eine es geschafft dem Feuer der Flugabwehr zu entgehen. Sie war nicht einmal sicher, ob alle Raketen, deren Kondensstreifen noch am Himmel zu sehen waren, von koreanischen Einheiten abgefeuert worden waren. Ohne Transponder und zuverlässige Zielhilfen konnte man in der Hitze des Gefechts Freund und Feind oft nicht auseinander halten, zumal die Koreaner große Mengen erbeuteten japanischen Materials aus dem letzten Krieg einsetzten. Als das Team die Straße hinter sich gelassen hatte, sah sie noch Salim und Osburg aus dem Gebäude auftauchen, in dem sie selbst gerade noch Deckung gesucht hatte. Die beiden gaben einander Deckung und hätten es beinahe geschafft. Doch auf dem letzten Meter vor der rettenden Gasse wurde Osburg von einer Kugel in die Seite erwischt. Er geriet ins Straucheln, taumelte dann aber noch die letzten Schritte in die Gasse hinein, wo Salim und Jules ihn auffingen. Sein Gesicht war von Schmerzen verzerrt, als sie ihn zu Boden sinken ließen. Er wollte etwas sagen, doch anstatt artikulierte Laute von sich zu geben, spuckte er nur Blut. Die Kugel musste mindestens einen Lungenflügel verletzt haben. Jules musste ganz nah an sein Gesicht, um seine letzten Worte verstehen zu können. Dann schloss sie ihm die Augen, riss ihm die Erkennungsmarke vom Hals und wandte sich an ihre Leute: „Wir müssen weiter. Der Einstieg muss ganz in der Nähe sein.“ Als die Gruppe sich wieder in Bewegung setzte, fragte Salim: „Was hat er gesagt?“ Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Später, Sergeant.“

    Zeitgleich, gut fünfzig Kilometer entfernt:

    Die Straße war schlecht, kaum mehr als eine mit Schlaglöchern übersäte Schotterpiste, und führte schon den Gedanken an ein schnelles Vorankommen ad absurdum. Während sein Konvoi sich quälend langsam dahinschleppte, sprach General Hwang mit einem Offizier der Flotte. „Es ist die 'Yamato'“, erscholl die Stimme des Mannes aus dem Funkgerät. Aus den feinen Nuancen seiner Stimme konnte der General mit großer Selbstbeherrschung unterdrückten Schmerz heraushören. Ihm war zu Ohren gekommen, dass die Brücke ihres Flaggschiffes, der 'Soho', getroffen worden und die meisten Offiziere dort getötet worden waren. Der Admiral hatte als einer der wenigen Überlebenden trotz seiner schweren Verletzungen darauf bestanden zur Behelfsbrücke getragen zu werden, um die Schlacht weiter führen zu können. Nur konnte und wollte Hwang keinen Gedanken an das Wohlergehen des anderen Offiziers verschwenden. Unruhig rutschte er auf dem Sitz seines Wagens hin und her und trommelte mit den Fingern auf den Griff seiner Pistole. „Hatten ihre Analysten nicht gesagt, dieses Schiff könne nie wieder eine Bedrohung darstellen?“ „Das war nach den Schäden der letzten Schlacht und angesichts der Tatsache, dass sie keine Möglichkeit hätten haben dürfen Ersatzteile zu beschaffen, anzunehmen. Aber sie scheinen die meisten Schäden mit außerirdischer Hilfe beseitigt zu ha...“ „Ich interessiere mich nicht für ihre Ausflüchte, Sojang Paek. Ich will nur eines Wissen: Können sie den Orbit halten?“

    Der Admiral zögerte. Als Hwang mit wütender Stimme nachhakte, antwortete er schließlich: „Es steht auf Messers Schneide.. Fünf der feindlichen Schiffe sind uns technologisch weit überlegen und haben ohne Schwierigkeiten mehrere unserer Geleiteinheiten zerstört. Wir konnten zwei ausschalten und die anderen drei unter Aufbietung fast aller Kampfflieger auf Distanz halten, aber sollte ihnen ein erneuter Durchbruch gelingen, ist die Flotte verloren. Den Rest können wir noch im Schach halten, aber...“ „Halten sie den Mund und hören sie mir zu“, unterbrach Hwang ihn ein zweites Mal mit harscher Stimme. „Der Feind darf nicht durchbrechen. Die Zeit arbeitet hier am Boden eindeutig für uns. Aber was immer auch passiert, haben sie einen Befehl: Auf keinen Fall werden wir diese Welt aufgeben. Wenn wir sie nicht halten können, soll der Feind sie auch nicht bekommen. Haben sie mich verstanden?“ „Ja, Daejang Hwang.“ Hwang gestattete sich ein zufriedenes Grinsen und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Er wollte gerade die Funkverbindung abschalten, als zwei der Hubschrauber, die dem Konvoi aus der Luft Deckung gaben, von Flugabwehrraketen aus dem Himmel gefegt wurden...

    Andernorts:

    An der Kellertreppe eines größeren Plattenbaus angekommen lief Hirata mit einigen schnellen Schritten hinab. Anstatt sich an der Tür am Fußende zu schaffen zu machen blieb er jedoch auf halber Höhe stehen und zertrümmerte mit seinem Gewehrkolben ein kleines Fenster. „Los, rein da.“ Die ersten seiner Leute taten wie ihnen geheißen. Auf Jules fragenden Blick erklärte er: „Ich hab keinen Schlüssel und es soll schnell gehen, oder? Also Tempo.“ Sie fanden sich in einem kleinen Abstellraum wieder, in dem bis unter die Decke allerlei Hausrat gestapelt lag. Eine simple Holztür versperrte ihnen den Weg auf den Flur. Sie brachen sie kurzerhand auf und liefen zu einem der Räume am Ende des Flurs, wobei sie einige Zivilisten aufscheuchten, die in den Kellerräumen Schutz vor den Kampfhandlungen suchten. Während Hirata beruhigend auf die Leute einredete, klopfte einer seiner Leute im hinteren Raum mit seinem Gewehr den Fußboden ab. Dabei murmelte er vor sich hin: „Es muss hier irgendwo sein.“ „Was?“ „Knapp zwanzig Meter von hier verläuft ein Wartungstunnel. Eine unserer Zellen hat ihn angegraben.“ Gerade als Jules Zweifel kamen, ob sie im Richtigen Haus waren oder der Tunnel überhaupt existierte, grinste der Soldat auf einmal und ging auf die Knie, um mit seinem Messer eine Bodenplatte hochzuhebeln. Darunter tat sich ein ins Erdreich getriebener Schacht auf, der gute zehn Meter nach unten führte.

    Jules seilte sich als erste ab. Als ihre Füße den Boden berührten, stand sie bis zu den Knöcheln im Wasser, das aus dem feuchten Erdreich triefte. Vor ihr tat sich ein dunkler Gang auf, der eindeutig für Menschen von kleinerem Wuchs gedacht war. Hätte ein Japaner sich wahrscheinlich noch allen Vieren darin fortbewegen können, musste sie kriechen. Stumm daran zweifelnd, dass der Gang groß genug für einige der kräftigeren Männer unter ihrem Kommando war, robbte sie halb im Wasser liegend in absoluter Dunkelheit vorwärts, bis sie vor sich auf einmal etwas ertastete, was sich wie Beton anfühlte. Sie nahm ihr Gewehr vom Rücken und leuchtete mit der Aufsatzlampe nach vorne. Vor ihr war eine Betonwand mit einem kleinen Durchbruch. Sichtlich erleichtert kletterte sie hindurch und signalisierte den anderen ihr zu Folgen. Während der Rest des Teams nun das zweifelhafte Vergnügen eines Aufenthalts des Tunnels teilte, sah sie sich im Raum um. Es schien einmal als Büro oder Lagerraum für Wartungspersonal geplant gewesen zu sein, diente dem Widerstand nun aber als Waffenlager. In den Regalen lagen zahlreiche Schachteln mit Munition verschiedenen Kalibers und geleerte Behälter für Sprengstoff. Als einzige Beleuchtung hatte ein auf einem Stativ aufgestellter Scheinwerfer gedient, der an einen in der feuchten Luft halb verrosteten Benzingenerator angeschlossen war. Als alle durch den Tunnel waren – wie erwartet blieb einer der Männer zweimal stecken und konnte sich nur mit roher Gewalt wieder befreien – verließen sie den Raum in Richtung der Tunnel.

    Sie orientierten sich an den wenigen Markierungen und Wegweisern, die in den nur halb ausgebauten Gängen zu finden waren. Nachdem sie eine Zeit lang – es mochten nur fünf Minuten gewesen sein, vielleicht aber auch eine halbe Stunde – durch die finsteren Gänge geirrt waren, gelang es ihnen die Tunnel zu finden, die zur Linie 3 hatten werden sollen und direkt zur Zentralstation führten. Sie marschierten schweigend nebeneinander her. Es lagen noch keine Gleise in den Tunneln, doch es hatten sich in Senken immer wieder große, knietiefe Pfützen gebildet und die Überreste von Baumaschinen und Menschen, die das Pech hatten in den Tunneln gewesen zu sein, als alles mit Nervengas geflutet worden war und die wegzuräumen sich auch in späteren Jahren niemand die Mühe gemacht hatte, säumten den Weg, so dass sie sorgfältig darauf achten mussten, wo sie hintraten, um nicht über Knochen oder die Schläuche eines liegengebliebenen Schweißgeräts zu stolpern. Alles war so dunkel, dass man ohne die Lampen die sprichwörtliche Hand vor Augen nicht mehr erkennen konnte und Restlichtverstärker nutzlos waren. Über allem lag der Geruch von abgestandener Luft, Dreck und Schmutzwasser, das aus der maroden Kanalisation hereinsickerte. Die Ruhe war geradezu gespenstisch. Von der Schlacht über ihren Köpfen war nicht mehr zu spüren, die Erschütterungen starker Explosionen, die sich das Wasser in den Pfützen kräuseln oder Mörtel von der Decke bröseln ließen. Doch kurz vor dem Ziel signalisierten die Späher vor der Gruppe Gefahr.

    Die Gruppe fächerte sich sofort auf, versuchte die spärliche Deckung so gut es ging auszunutzen und löschte ihre Lampen. Jules nahm ihr Gewehr in Anschlag und zielte in den Tunnel hinein. Als sie nichts sah, schaltete sie das Infrarotvisier des Zielfernrohr ein. Sie drückte das Gewehr an die Schulter und sah erneut durch. Dann erkannte sie es: Mehrere offenbar menschliche Silhouetten ungefähr zweihundert Meter vor ihnen am Zugang zur Zentralstation. Sie dürckte sich eine Hand breit hoch und kroch auf allen Vieren und so leise es auf dem Keisbett des Tunnels möglich war, zu Hirata. Als sie neben ihm lag, flüsterte er: „Ich sehe fünf Mann, alle bewaffnet.“ Sie schüttelte sacht den Kopf und erwiderte: „Sieben. Aber trotzdem kein Problem. Sie müssen unsere Lampen gesehen haben und schießen trotzdem nicht...“ „...wenn sie darauf warten, dass wir näher kommen, haben sie wahrscheinlich kein Infrarot“, führte er ihren Gedankengang fort. „Wo ginge es an der Station weiter?“ „Die Treppen nach oben und dann durch die Stahltür mit dem Vorhängeschloss auf der rechten Seite. Die führt zu einem Notausgang, der sich von innen öffnen lässt.“ Sie schmunzelte und klopfte ihm auf die Schulter. „Dann wollen wir mal. Wir schalten die Kerle aus und Abgang.“

    Sie kroch wieder zurück und zu Salim, der genau wie sie ein Gewehr mit Infrarotvisier trug. „Sehen sie die Kerle“, fragte sie, als sie neben ihm lag. „Sieben Mann“, bestätigte er. „Fünf gewöhnliche Schützen, zwei an einem Maschinengewehr.“ „Ich übernehme das MG. Beim Rest: Shoot first, hit first.“ „Geben sie den Befehl.“ Sie grinste und sagte: „Ich zähl bis eins und dann ist Achterbahn.“ Dann funkte sie Hirata leise zu: „Bereit.“ Der Japaner rief darauf aus vollem Hals eine Erkennungsparole der goldenen Chrysantheme in den Tunnel. Als sie nicht beantwortet wurde, murmelte Jules nur „Feuer“ und drückte den Abzug. Ihr Schuss traf den MG-Schützen am Kopf und ließ ihn wie einen nassen Sack zusammenbrechen. Gleichzeitig begann Salim die anderen Ziele auszuschalten. Kaum das der erste Schuss gefallen war, flammten gegenüber mehrere Flutlichter auf, in deren hellen Schein man Soldaten in koreanischer Uniform erkennen konnte, die augenblicklich Sperrfeuer in den Tunnel legten. Doch Jules und der Söldner erlegten einen nach dem anderen binnen weniger Augenblicke. Dann brüllte sie „Los!“ und die Gruppe setzte sich in Bewegung. Sie sprinteten das letzte Stück zur Station. Als sie den Bahnsteig erreicht hatten und im Licht der Scheinwerfer standen, hörten sie Stimmen und das Trappeln schwerer Stiefel aus der Station. Jules zog mit einer Mischung aus Schrecken und Überraschung eine Augenbraue hoch, als sie auf einmal die aufflammende Zündflamme eines Flammenwerfers im Dunkel zu erkennen glaubte. „Verdammt“, kam es ihr über die Lippen, „raus hier.“ Hirata, der den Funken ebenfalls gesehen hatte, sah zu ihr hinüber und sagte: „Laufen sie. Wir halten sie hin.“ „Ich weiß, dass ich sie bei unserem ersten Treffen eine Knarre an den Kopf gehalten habe, aber wagen sie es ja nicht hier zu sterben. Wir haben heute schon zu viele Leute verloren“ Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Es werden noch ein paar mehr werden.“ Er brüllte seinen Leuten einen Befehl auf Japanisch zu, auf den hin sie in die Dunkelheit losstürmten. „Aber wir müssen die Bastarde nur einen Moment lang hinhalten. Den Rest erledigt Kyoto für uns.“ „Wie meinen?“ „Sagen wir einfach, dass das, was auf dieser Welt am ehesten der Ratte entspricht zwanzig Kilo schwer wird, Blut auf mehrere Kilometer entfernung riecht, in Rudeln von mehreren dutzend Tieren jagt, verteufelt schnell wird und sich von Saringas reichlich unbeeindruckt zeigt.“ Er deutete in Richtung der Treppe. „Wir wissen, wie man mit solchen Viechern umgeht die Koreaner nicht. Und jetzt verschwinden sie.“

    Jules nickte und sprang mit einem Satz vom Gleisbett auf den Bahnsteig. Dann rannte sie in Richtung der Treppe. Hinter sich hörte sie die Rufe der Koreaner und Widerstandskämpfer, die das Fauchen das Flammenwerfers übertönten. Auf halber Treppe kamen ihnen einige Koreaner entgegen, die sie mit kurzen, gezielten Salven fällten. Oben bahnten sie sich ihren Weg zum Notausgang, indem sie das Schloss an der Tür kurzerhand wegschossen. Dann erreichten sie wieder das Tageslicht.

    Der zweite Mann, der die Leiter des Notausstieges hinaufstieg, ein schlaksig und zerzaust wirkender, wie Jules vermutete irisch-stämmiger Sanitäter, wurde von einer Kugel getroffen, als er halb aus dem Schacht herausgeklettert war. Beinahe verlor er den Halt und wäre abgestürzt, schaffte es aber irgendwie noch sich festzuhalten und hochzuziehen, während der Schütze, der vor ihm gewesen war, irgendein Ziel die Straße hinunter mit Feuer bestrich. Als Jules oben ankam, sah sie sich hastig um. Sie mussten fast eine Stunde unter der Erde gewesen sein. Die Sonne stand schon tief am Himmel und tauchte den Horizont in feuriges Rot. Noch immer tobten in der Stadt heftige Kämpfe, doch die Lufthoheit der Koreaner schien zu wanken und die Flotte musste bis in den niedrigen Orbit vorgedrungen sein, denn Trümmer aus der Raumschlacht stürzten als feurige Meteore dem Boden entgegen. Sie hatten die Front im wahrsten Sinne des Wortes unterwandert und waren im Stadtkern, unweit ihres Ziels. Und waren bereits entdeckt worden... Der Sanitäter, der sich auf die Schulter eines Scharfschützen stützte, presste seine freie Hand auf eine stark blutende Bauchwunde. Der Koreaner, der ihn angeschossen hatte, lag zwischen den Leichen dreier seiner Kameraden gut hundert Meter die Straße hinab. Jules warf noch einen kurzen Blick zum Himmel, um sich zu orientieren, dann befahl sie ihren Leuten weiter zu laufen und deutete sie auf das nächste Haus, das Deckung versprach.

    Gut eine Stunde zuvor, ungefähr 50 Kilometer entfernt:

    Hwang sah erschrocken von seinem Kommunikationsmonitor auf und brauchte eine Sekunde, um die Richtung zu erkennen, aus der die Explosion gekommen war. Er richtete seinen Blick nach oben und konnte noch sehen, wie die Trümmer von zweien der Hubschrauber zu Boden regneten. Der dritte beschleunigte sofort und steuerte auf einen gut einen halben Kilometer entfernten Hügel zu, von dem aus die Rakete abgefeuert worden war. Doch kaum dass er sich einige hundert Meter entfernt hatte, wurde der schwere Kampfpanzer an der Spitze der Formation zerstört und die Soldaten, die bei den Explosionen sofort in Verteidigungspositionen ausgeschwärmt waren, aus verschiedenen Richtungen unter Feuer genommen. Hwang zog den Kopf ein und rief dem Fahrer zu: „Geben sie Gas! Raus aus dem Kreuzfeuer!“ Dann nahm er sein Funkgerät und gab allen Soldaten den Befehl zum Gegenangriff. Zwei Schützenpanzer steuerten vom hinteren Ende der Formation aus nach vorne, um die Soldaten zu unterstützen, wurden aber von im Boden verborgenen Sprengfallen ausgeschaltet, während die Soldaten von ihren Gegnern niedergemacht wurden. Hwang, der es Zeit seines Lebens gewohnt gewesen war sich in der überlegenen Position zu befinden, spürte Panik in sich aufsteigen. Dann wurde sein Fahrer von einer Kugel getroffen. Der Wagen kippte zur Seite, überschlug sich mehrere Male und blieb kopfüber liegen.

    Er musste für einen Moment bewusstlos gewesen sein, denn das nächste woran er sich erinnerte war, dass ihn zwei Soldaten in Uniformen des Widerstands aus dem Fahrzeug schleiften. Er wurde unsanft in den Staub geschleudert und einer der Beiden verpasste ihm einen heftigen Tritt in die Seite. Der Schmerz ließ ihn zucken und jagte ihm einen roten Schleier vor die Augen. Als sein Blick wieder klar wurde, erkannte er im Augenwinkel die Überreste seiner Einheit. Ein ganzes Bataillon, ausgeschaltet in wenigen Minuten. Obwohl noch heftige Schusswechsel zu hören waren wusste er, dass der Kampf verloren war. Die Partisanen hatten hier, wo die Straße im Bett eines ausgetrockneten Flusses verlief, das breit genug war, um seine Männer jeder Deckung zu berauben und von beiden Seiten durch steile und mit dichtem Unterholz überwucherten Böschungen begrenzt wurde, einen meisterlichen Hinterhalt gelegt. Schließlich war es ihnen gelungen seine Späher so schnell und leise auszuschalten, dass sie keine Warnung mehr hatten absetzen können.

    Im dichten Qualm des Schlachtfeldes sah er eine Silhouette, die sich auf sie zu bewegte. Als sie näher kam, erkannte er einen hoch aufgeschossenen, hageren Mann von unverkennbar europäischem Aussehen und mit faltigem Gesicht, der eine japanische Flecktarnuniform trug, Eine Pistole in der rechten Hand hielt und ein traditionelles japanisches Schwert auf dem Rücken trug. Er trat vor Hwang, musterte ihn kurz und zog dann das Schwert. Doch anstatt zuzuschlagen hielt er es dem reichlich überraschten General hin. „Ich nehme nicht an, dass sie wissen wer ich bin“, sagte er in flüssigem, aber dennoch stark durch einen wahrscheinlich englischen Akzent verzerrtem Japanisch. „Und wahrscheinlich spielt es für sie auch keine Rolle. Ihnen sollte nur klar sein, dass ich sie nach allem, was sie dieser Welt angetan haben, einfach erschießen würde, ginge es nach mir. Ginge es nach meinem Lieutenant gehen, würden wir sie dem Oberkommando übergeben. Aber ich sehe mich verpflichtet das Andenken meines alten Befehlshaber zu ehren, der wollte dass wir selbst unseren Feinden Ehre erweisen.“ Er nickte in Richtung des Schwertes. „Ich biete ihnen an von eigener Hand zu sterben.“ Hwang verzog verächtlich das Gesicht. „Denken sie mein Tod würde irgendetwas ändern?“ Der Europäer schüttelte den Kopf. „Militärisch wohl nicht. Aber er würde den Seelen aller, die auf ihren Befehl in ermordet wurden, Frieden geben.“ Er ging in die Hocke und sah den General sehr eindringlich an. „Ich biete ihnen ein ehrenhaftes Ende. Einen guten Tod. Nutzen sie die Gelegenheit, oder lassen sie es bleiben.“

    Hwang reckte stolz das Kinn und meinte: „Sie werden mich nicht töten.“ „Ich werde es nicht noch einmal anbieten.“ „Bleiben sie mir mit ihrem archaischen Unsinn vom Leib. Lebend bin ich für sie mehr wert.“ Der Mann sah ihn noch einmal sehr eindringlich an. Dann erhob er sich wieder, schwang das Schwert einmal herum und sagte: „Dass sie sich da mal nicht irren, General. Wenn sie es nicht anders wollen, sterben sie wie ein Verbrecher.“ Bevor Hwang wieder etwas sagen konnte, wurde die Klinge in der Hand des Mannes zu einem zuckenden Blitz, der nach dem Hals des Koreaners schlug. Für eine Schrecksekunde schien er noch an sich herabsehen zu wollen, dann fiel sein Kopf von seinen Schultern. Der Mann, der für ihn zugleich Richter und Vollstrecker gewesen war, blieb für einen Moment regungslos stehen und sah auf die Leiche des Generals. Dann murmelte er: „Es tut mir Leid, Takenaka. Ich konnte es nicht erzwingen.“ Die beiden Soldaten, die daneben gestanden hatten, musterten sein Gesicht, in dem sich in diesem Moment tatsächlich Trauer abzeichnete. Der eine, in dessen Stimme unüberhörbare Begeisterung für Hwangs Tod mitschwang, fragte: „Halten sie es für falsch, Sensei McGrath?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hätte mir nur gewünscht, dass es anders verlaufen wäre.“

    In der Stadt:

    Die Männer und Frauen des Stoßtrupps hatten für den Moment in einem Gebäude unweit ihres Ziels Schutz gesucht. Sie waren in eine weitläufige Sicherheitszone vorgestoßen, die die Koreaner kurz nach ihrer Ankunft eingerichtet hatten. Im Umkreis von drei Häuserblöcken um ihr Hauptquartier herum hatten sie alle Zivilisten bis auf jene vertrieben, die sie als Deckung gegen Luftangriffe in die oberen Stockwerke gesperrt hatten und die meisten Häuser zu behelfsmäßigen Kasernen oder Depots umfunktioniert, während die äußeren Häuser mit Barrikaden, MG-Stellungen und Straßensperren gesichert worden waren. Während der unverletzte Sanitäter seinen angeschossenen Kollegen verband, winkte Jules die beiden ranghöchsten Überlebenden heran und meinte: „Wir dürfen nicht zu lange hier bleiben.“ Sie faltete einen Stadtplan, eigentlich eine Karte aus dem Tourismusbüro, die sie sich bei ihrem ersten Besuch auf dieser Welt besorgt hatte, aus und deutete auf ein Gebäude, dass sie mit schwarzem Stift markiert hatte. „Unser Ziel. Wir müssen uns gut einen Kilometer südlich davon befinden. Wir nehmen die westliche Straße, kämpfen uns durch etwaige Posten durch und benutzen diese Gebäude hier“ – sie fuhr eine Häuserzeile auf der Karte mit dem Finger ab – „als Deckung vor Posten im Hauptquartier. Danach über den Vorplatz und rein in das Gebäude. Drin säubern wir das Gebäude und verschanzen uns dann.“ Sie sah in Richtung der Truppe. Jeder der Söldner wirkte bis ans Äußerste angespannt. Kaum einer hatte den Tag bisher ohne Blessuren überstanden und jeder ihrer sechs heute gefallenen Mitstreiter hatte eine schmerzhafte Lücke hinterlassen. „Seien wir realistisch: Das wird blutig und die Augen der Welt sind woanders hin gerichtet. So beschissen es auch ist, kaum jemand daran erinnern oder dafür interessieren, was wir hier und heute getan haben. Aber trotzdem muss ich das hier noch verlangen.“ Salim hob demonstrativ sein Gewehr und legte es in die Armbeuge. „Machen sie sich keine Sorgen“, sagte er, „wir haben uns nicht hierher durchgekämpft, um so kurz vor dem Ziel zu kneifen. Es bleibt nur zu hoffen, dass wir es nachher auch wieder aus diesem Hexenkessel raus schaffen.“

    Als er diese Worte aussprach, sagte einer der Söldner, der die Straße im Auge behalten hatte: „Sie kommen. Über Straße aus östlicher Richtung, mindestens Zugstärke“ Die Ruhe, mit der ihm die Worte über die Lippen kamen, ließ jene, die selbst schon auf Schlachtfeldern gewesen waren, erahnen was er erlebt haben musste, um derart abgebrüht zu werden. Jules deutete in seine Richtung und meinte: „Platzieren sie eine Sprengfalle. Danach Abmarsch hinten raus.“ Während der Mann ein Sprengpaket mit einem Bewegungsmelder versah und neben der Tür platzierte, feuerten einige Söldner aus Fenstern auf den sich nähernden Gegner, was zu gleichen Teilen dazu diente ihn hinzuhalten, wie seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dann verließen sie das Haus an anderer Stelle durch einige Fenster. Hinter sich konnten sie das Rattern der Maschinengewehre hören, als die Koreaner die leere Wohnung sturmreif zu schießen versuchten, gefolgt von einer satten Explosion, als die ersten versuchten hinein zu gelangen. Doch selbst wenn das Sprengpaket ein paar von ihnen in den Tod gerissen haben sollte, so würde es sie nicht lange aufhalten. Die Zeit drängte.

    Sie rannten die Straßen dicht an die Mauern gedrückt entlang, versuchten Schatten und die spärliche Deckung auszunutzen, um feindlichen Schützen kein Ziel zu bieten. Auf jener Straße, die von Westen her auf den Vorplatz des vormaligen Verwaltungsgebäudes führte, überrannten sie einige Gegner an einen Kontrollposten und bahnten sich den Weg zur Kreuzung, wo die Straße in den Platz mündete. Die Soldaten hier trugen, anders als viele in den umkämpften Teilen der Stadt, keine Schutzkleidung und waren recht lausige Schützen, was vermuten ließ, dass sie hier einer Einheit aus der Etappe gegenüberstanden, deren Pflichten sich auf Kommunikations- und Versorgungsaufgaben konzentrierten, nicht einer Kampftruppe. Angesichts ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit konnte ihnen dieser Umstand aber nur entgegen kommen. Kaum dass sie den Platz betraten, wurden sie aus mehreren Fenstern in den oberen Stockwerken des Hauptquartiers unter Feuer genommen. Jules, die an der Spitze gelaufen war, beschleunigte ihre Schritte und sprintete gut zwanzig Meter im Zickzack über den offenen Platz, um sich dann an einigen Stufen in Deckung zu werfen, wo der Platz zum Gebäude hin anstieg. Die anderen taten es ihr gleich und begannen aus der neuen Position heraus das Feuer zu erwidern. Während die Scharfschützen sich den Feind gezielt vornahmen, lud sie ihren Unterlaufgranatwerfer und richtete die Waffe auf das große Eingangsportal. Doch als sie abdrückte, zerbarst die Kugel einige Meter vor dem Gebäude an einer unsichtbaren Barriere und ein Flimmern breitete sich gut drei Meter in die Höhe und seitlich um das halbe Gebäude aus.

    Der Anblick räumte die letzten Fragen danach aus, wieso die Koreaner es riskiert hatten die unterirdischen Zugänge zu ihrer sicheren Zone so schwach bewacht zu lassen, dass ihnen der Durchbruch überhaupt möglich gewesen war. Doch sie würde sich von einem einfachen Schild nicht aufhalten lassen. Während sie noch darüber nachdachte, was sie tun sollte, hörte sie das laute Brummen eines Panzerdiesels aus Richtung eben jener Straße, über die sie gekommen waren. Erschrocken sah sie in die betreffende Richtung und entdeckte einen Schützenpanzer, der gefolgt von eben jenen Soldaten, die sie einige Straßenzüge zuvor abgehängt hatten auf sie zu kam und sein Geschütz auf sie richtete. Sie brüllte laut das Kommando sich zu verteilen, doch es wäre nicht nötig gewesen. Die anderen hatten die Bedrohung ebenfalls bemerkt und waren sofort in unterschiedliche Richtungen losgelaufen. Jules selbst sprintete zu einem nahe gelegenen Gebäude, wo sie sich für einen Moment in einem Hauseingang verbergen konnte.

    Offenbar schien ihre Deckung die einzige im Umkreis von mehreren Metern zu sein, denn einer der Söldner flüchtete sich ebenfalls zu ihr. Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann forderte sie über Funk: „Stoßtrupp: Meldung!“ Alle bis auf zwei Mann antworteten. Sie warf dem neben ihr stehenden Söldner einen Blick zu und meinte: „Schnappen wir uns diesen Panzer.“ Sie liefen los und umrundeten in schnellem Laufschritt den Häuserblock. Als sie sich dem Panzer von hinten näherten, schaltete sie ihr Lasergewehr auf Salvenfeuer und rief: „Ich übernehme die Schützen.“ Der Söldner nickte, zückte seine eigene Pistole und zog sich in einen Hauseingang zurück, wo er etwas an der Waffe zu manipulieren begann. Jules legte indes noch ein paar Meter zurück, blieb dann stehen, nahm sich einen Moment zum zielen und begann in eine Gruppe von vier Gegnern hinein zu feuern. Sie erledigte die meisten Gegner in Sichtweite und drängte die anderen auf den Platz ab. Dann war der Söldner auf einmal wieder neben ihr. Er lief mit immer schnelleren Schritten auf den Schützenpanzer zu, der sie bis jetzt mit völliger Missachtung gestraft hatte, legte noch in der Bewegung die Hände auf das Heck des Fahrzeuges und hechtete schwungvoll hinauf, wie bei einem Turngerät. Während Jules aufschloss und koreanische Infanteristen auf Distanz hielt, kauerte er sich hinter den Turm und richtete seine Pistole über die Kante hinweg auf die Verschlüsse des Turmluks. Als er abdrückte, entlud er die Energiezelle der Laserwaffe in einem Schuss, wie Naumer es damals bei ihrer Flucht aus dem koreanischen Konsulat getan hatte, um eine Wand zu sprengen.

    Sie glaubte ein zischendes Geräusch zu hören, als sei das Metall bis zum Kochen erhitzt. Der Söldner schmiss nun seine Pistole von sich, klemmte sich sein Kampfmesser zwischen die Zähne und entsicherte eine Blitzgranate. Dann öffnete er die Turmluke und schmiss die Granate hinein. Einen Moment nachdem sie explodiert war, war er auch schon im Inneren des Fahrzeuges verschwunden. Einige Augenblicke später begann der Turm auf einmal ständig zu rotieren und Jules glaubte über das Fauchen ihrer eigenen Waffe hinweg Schreie aus dem Panzer zu hören. Dann tauchte auf einmal der Kopf eines Koreaners aus der Luke auf. Reflexartig riss sie ihre Waffe herum und ihr Finger zuckte am Abzug, doch dann merkte sie, dass sein Hals auf geradezu brutale Weise aufgeschlitzt worden und sein langsam folgender Oberkörper blutüberströmt war. Sie kletterte ebenfalls auf das Fahrzeug, packte den Toten und zog ihn heraus. Als sie hinein sah, blickte sie in das von Blutspritzern bedeckte Gesicht ihres Mitstreiters, der sagte: „Helfen sie mir mit den Leichen.“ Nur einen Lidschlag später zwang ein Schuss sie den Kopf einzuziehen. So gut es ging ohne alle Deckung völlig aufzugeben half sie die Leichen zu beseitigen. Dann kletterte auch sie in den Panzer hinein.

    Der Söldner saß auf dem Platz des Kanoniers und meinte mit mürrischem Tonfall: „Ich passe da unten nicht rein.“ Sie steckte den Kopf in das Chassis und sah, was er meinte. Der Panzer war definitiv für zierlichere Leute gebaut, als den kräftigen Russen. Sie legte Gewehr, Rucksack und Ausrüstungsgürtel ab. Dann zwängte sie sich selbst auf den Fahrersitz. „Können sie so ein Ding fahren?“, drang die Frage von oben herab. Sie betrachtete die ihr völlig fremden Kontrollen, deren wenige Beschriftungen zu allem Überfluss auf koreanisch waren und legte zögerlich die Hände auf das Steuer. Dann antwortete sie: „Können sie die Kanone bedienen?“ „Wenn's weiter nichts ist...“ Über ihr schwenkte der Turm um ein paar Grad und die darin montierte Maschinenkanone begann zu sprechen. Sie trat derweil noch einmal Probehalber nach den Pedalen und versuchte den Panzer dann in Bewegung zu setzen. Nichts passierte. Mit einiger Verwunderung sah sie die Steuerelemente an. Dann ertastete sie ein drittes Pedal im Fußraum. Ein wütendes Knurren ausstoßend trat sie die Kupplung und suchte die Armaturen mit Blicken ab. „Wenn ich der Schlathebel wäre“, murmelte sie leise, „welcher wäre ich dann?“ Kurzentschlossen entschied sie sich für einen der Hebel, schob ihn in eine Position, in der er einrastete und ließ das Pedal los. Um ein Haar hätte sie den Motor abgewürgt. Stumm bedauerte sie, dass sie seit 8 Jahren, 24 wenn man ihren unfreiwilligen Winterschlaf mitzählte, kein Fahrzeug mit Schaltgetriebe mehr gesteuert hatte. Irgendwie gelang es ihr aber doch den Panzer, wenn auch reichlich unbeholfen auf den Platz hinauf und auf das Ziel zu. Kurz vor dem Schild wendete sie dem Gebäude das Heck zu und gab Vollgas. Lautes Knistern erfüllte die Luft, als das Energiefeld sich gegen die 40 Tonnen Stahl stemmte. Dann war es vorbei. Der Schild erstarb schlagartig und der Panzer machte einen Satz rückwärts. Der Söldner im Turm reagierte schnell, richtete die Kanone auf die Emitter aus und schoss. Danach pulverisierte er das große Portal und die Überlebenden des Stoßtrupps stürmten die Eingangshalle.

    Kurz darauf im Orbit:

    Im All herrscht zu jedem Zeitpunkt eine beinahe gespenstische Stille. Während Colonel Miyu Akamatsu ihren Jäger durch jenes Trümmerfeld steuerte, das die Schlacht zwischen dutzenden Schiffen hinterlassen hatte, hatte sie ihr Funkgerät alle Signale bis auf ihre Flügelmänner und das Flottenkommando ausblenden lassen. Sie jagten mit hohem Tempo so dicht an Trümmern, in der Schwerelosigkeit treibenden Leichen und Wracks einmal mächtiger Schiffe vorbei, dass sie glaubte nur den Arm ausstrecken zu müssen, um sie berühren zu können. Auf dem Gesicht eines Toten, der beinahe mit ihrer Maschine kollidiert wäre, hatte sie noch den Schrecken zu sehen geglaubt, der ihn erfasst haben musste, als das Deck auf dem er sich befunden hatte Leck geschossen und er ins All hinausgesogen worden war. Wie lange er wohl noch gelebt hatte? In wie vielen Leibern dieser stählernen Titanen, deren von Massebeschleunigern, Raketen und Strahlenkanonen geschlagenen Wunden an den Rändern teilweise noch glühten, wohl noch überlebende festsaßen? Vierzehn Jahre des Lebens als Kampfpilotin hatten sie gelehrt solche Gedanken im Gefecht abzublocken, aber unterbewusst war ihr klar, dass Albträume von dieser Schlacht sie noch für Monate plagen würden.

    Ihre Staffel umrundete ein letztes größeres Wrack. Dann sahen sie, was im niedrigen Orbit geschah. Es war gut eine Stunde her, dass sie losgeschickt worden waren, um möglichst viele feindliche Trossschiffe an der Flucht zu hindern. Jeder Frachter, der sich der Schlacht entzog, konnte mit neuen Truppen an Bord zurückkommen, so dass der Kapitän der Yamato nicht gezögert hatte die Deckung seines eigenen Schiffes zu schwächen, um die Transporter abzufangen. In der Zwischenzeit hatte die Schlacht sich ein ganzes Stück weiter in Richtung des Planeten verschoben. Die koreanische Flotte war bis auf fünf, vielleicht sechs Schiffe zusammengeschossen worden, doch auch die Angreifer hatten schwer bluten müssen. Noch hielt die Yamato flankiert von den beiden Reetou-Kriegsschiffen die Linie, doch ihre Schilde waren offensichtlich ausgefallen, ihr Rumpf übersät von Schäden, nur noch zwei Geschütze der Hauptartillerie feuerten und eines der Triebwerke war von einem Treffer herausgesprengt worden. Die Besatzung schaffte es nur noch mit Hilfe der Manövertriebwerke den Kurs zu stabilisieren. Von den kleinen Jagdschiffen, die jene merkwürdigen Menschen vom anderen Ende der Galaxie gestellt hatten, die Julia Thora mit in die Allianz der Verzweifelten gebracht hatte, welche sich hier gegen die Besatzer stellte, fehlte jede Spur und die meisten nicht originär militärischen Schiffe der Reetou schienen schwer angeschlagen.

    Sie richtete die Nase ihres Jagdbombers auf das Kampfgeschehen aus, warf zur Kontrolle noch einen schnellen Blick auf ihre Munitionsanzeige und schaltete die Zielerfassung auf ein kleineres Schiff in der koreanischen Schlachtlinie. „Staffel Enshoku Ryū, hier Staffelführer. Kurs setzen auf 0 zu 4 zu 9. Wir nehmen uns das Kanonenboot an der Flanke vor. Feuer mit verbliebenen panzerbrechenden Raketen auf 6000 Meter nach eigenem Ermessen. Alles ber...“ „Colonel“, unterbrach sie einer ihrer Piloten plötzlich, „sehen sie auf das Radar. Irgendetwas passiert in der Kampflinie.“

    Auf der Brücke der 'Yamato' stemmte Kapitän Kaisa sich mit seiner unverletzten Schulter gegen eine eingedrückte Stahlplatte, die bei einem Treffer aus der gegenüberliegenden Wand herausgesprengt und durch den ganzen Raum geschleudert worden war, bis ein Panzerschott ihren Flug abrupt gestoppt hatte, wobei sie ein Besatzungsmitglied unter sich eingeklemmt und beinahe getötet hatte. Während er mit aller Kraft die Platte weg zu schieben versuchte, biss er sich so heftig auf die Lippe, dass er sein eigenes Blut auf der Zunge schmecken konnte und versuchte den Schmerz abzuschütteln, der seine andere Schulter, die er sich gebrochen hatte, als eine Explosion ihn gegen eine Arbeitsstation geschleudert hatte, durchzuckte, obschon er sie nicht einmal belastete. Die Schlacht mochte sich zu ihren Gunsten gewendet haben, aber die 'Yamato' war schwer angeschlagen. Seine Besatzung, zumindest die Leute, auf die es ankam, kannte das Schiff gut genug, um das zu wissen. Nur wenn er selbst in seiner Verachtung für Schmerz und Gefahr zu einem Sinnbild der Disziplin wurde, konnte er hoffen seine Männer zum Weiterkämpfen zu inspirieren.

    Zusammen mit einem anderen Offizier befreite er den Verletzten. Dann ging er hoch erhobenen Hauptes zurück zu seinem Stuhl in der Mitte der Brücke, ohne sich jedoch hinzusetzen. Ein Blick aus dem Brückenfenster zeigte ihm, dass die Lage sich in den letzten Minuten nicht nennenswert geändert hatte. Die Koreaner schienen entschlossen keinen Millimeter Raumes über der Hauptstadt aufzugeben und so die Schiffe der Verbündeten daran zu hindern ihre Bodentruppen effektiv zu unterstützen. Plötzlich fiel ihm aber eine Bewegung in der feindlichen Schlachtlinie auf. Zwei Kreuzer scherten aus der Formation aus und schoben sich vor die 'Soho', um sie vor dem Feuer der Verbündeten abzuschirmen. Das koreanische Schlachtschiff gab indess seinen Orbit auf und ging in einen kontinuierlichen Sinkflug über. Kaisa folgte dem Manöver für einen Moment verwundert, bis ihm klar wurde, was gerade geschah. Lauthals brüllte er: „Machen sie uns sofort ein Schussfeld auf die 'Soho' frei!“ Dabei deutete er energisch auf die beiden Kreuzer, die ihnen den Weg versperrten. Nur wenige Augenblicke später bestätigten sich seine schlimmsten Vermutungen, als das koreanische Schiff begann auf den Planeten zu feuern. Die 'Yamato' spuckte dem schwer angeschlagenen Kreuzer auf der rechten Seite aus allen noch funktionsfähigen Geschützen Eisen entgegen, doch das andere Schiff erwies sich als Standfester, als erwartet. Voller Sorge beobachtete Kaisa das auf den Planeten gerichtete Feuer der 'Soho'. Er konnte nur schätzen wie dicht die Geschosse tatsächlich an der Hauptstadt niedergingen, wusste aber, dass die große Ansiedlung das einzig lohnende Ziel unter dem Schlachtgeschehen war.

    Dann durchschlug eine Salve der schweren Geschütze endlich den Rumpf eines der Kreuzer und ließ ihn zwischen zwei Schotten auseinander brechen. Gleichzeitig eröffnete die Reetou-Fregatte das Feuer auf den zweiten und setzte ihm schwer zu. Kaisa wollte sich schon ein triumphierendes Grinsen gestatten, als er einen Blick auf die Sensoren erhaschte. Der Strahlungsausstoß der 'Soho' hatte sich gerade erhöht, was normalerweise nur geschah, wenn ein Schiff ein Antriebsleck erlitt, oder Atomwaffen zum Abschuss vorbereitet wurden. Schlagartig wich jeder Zweifel an den Absichten ihrer Gegner und dem, was zu tun war. Er kontaktierte den Maschinenraum und forderte jedes Bisschen Beschleunigung, das die Maschinen noch zu liefern vermochten. Gleichzeitig befahl er einen Weg durch die Trümmer der Kreuzer zu bahnen, um den Weg zur 'Soho' frei zu bekommen. Schwerfällig setzte die 'Yamato' sich in Bewegung. Auch in unbeschädigtem Zustand war sie nie für besondere Agilität konstruiert worden. Doch nun, beschädigt wie sie war, glichen ihre Flugeigenschaften mehr denen eines Meteors. Die Rudergänger schafften es die Flugbahn zu stabilisieren und das Schiff in geringer Entfernung an den Trümmern vorbei zu steuern. Sie touchierten dabei den Teil eines Wracks, kamen aber noch verhältnismäßig glimpflich davon. Dann aktivierte er die schiffsinterne Kom und befahl: „An alle, hier spricht Ittō Kaisa: Das Schiff aufgeben. Ich wiederhole: Das Schiff aufgeben. Versuchen sie mit den Rettungskapseln auf Kyoto zu landen.“ Bevor irgendein Offizier antworten konnte, nicht dass seine Befehlsgewalt in Frage gestanden hätte, doch einige Männer hätten sich weigern können das Schiff zu verlassen, riss er sich sein Headset vom Kopf und warf es von sich. Dann scheuchte er die Brückenoffizere hinaus. Nur die drei Männer an der Ruderstation blieben sitzen. Als er ihnen einen strengen Blick zuwarf, sagte einer von ihnen: „Man kann das Schiff in seinem jetzigen Zustand nicht alleine Steuern. Sie brauchen uns.“ Kaisa atmete tief durch. Schließlich nickte er und sagte: „Dann los, bevor die dort drüben feuerbereit sind.“ Es brauchte keine weiteren Anweisungen. Die Piloten steuerten die 'Yamato' auf das andere Schlachtschiff zu. Nur wenige Sekunden nachdem die meisten Rettungskapseln gestartet waren, bohrten die beiden Stahlkolosse sich ineinander und zerfielen zu einer Trümmerwolke, die von der Schwerkraft mitgerissen dem Planeten entgegen stürzte.

    Später in der Hauptstadt:

    Jules saß auf einem Schreibtisch im ersten Stock und schnürte sich so gut es ging mit einer in Streifen gerissenen koreanischen Flagge den rechten Arm ab, in den eine Kugel eine stark blutende Wunde gerissen hatte. Während sie den notdürftigen Verband mit den Zähnen und der linken Hand festhielt, ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Zwischen den Tischen lagen die Leichen mehrerer Koreaner und einiger ziviler Geiseln, die einen Ausbruch versucht hatten, als sie bemerkt hatten, dass das Gebäude angegriffen wurde. Doch auch die Leichen zweier Männer ihres Stoßtrupps waren darunter. Unwillkürlich ließ sie den Verband los und tastete nach den Erkennungsmarken, die sie sich um das rechte Handgelenk gebunden hatte. Das Metall klimperte leise, als ihre Hand sich darum schloss. Jedes Geräusch war wie ein Stich ins Herz. Sie nicht mitgerechnet waren nur noch drei der Söldner am Leben. Jene, die die Erstürmung des Gebäudes überlebt hatten, waren gestorben, nachdem sie befohlen hatte hier die Stellung zu halten, um die Zivilisten zu beschützen. Sie schloss kurz die Augen, stand dann auf und humpelte zu einem der Fenster. Auch wenn die Zivilisten sich mit die Waffen der toten Koreaner gegriffen hatten, hatten sie nicht genug Leute, damit sie es sich erlauben konnte rumzusitzen, zumal ihre Lasergewehre im Gegensatz zu den Waffen der Zivilisten mehrere hundert Schuss Munition pro Magazin besaßen. Sie kniete sich vor das Fenster, bettete den verletzten Arm auf die Fensterbank und legte das Gewehr in die Armbeuge, um zielen zu können. Für einen kurzen Moment suchte sie den Platz nach Zielen ab. Dann fand sie einen koreanischen Schützen an einem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Sie legte an und erschoss ihn.

    Das Feuergefecht dauerte noch bis tief in die Nacht hinein, bis schließlich Rettung kam. Die Munition war soweit aufgebraucht, dass Jules befohlen hatte nur noch zu schießen, wenn man das weiße in den Augen des Gegners sah und die meisten aus ihrer fragwürdigen Truppe waren verletzt. Doch kurz vor Mitternacht, als die Schusswechsel schon etwas abgeklungen waren, meldete sich ein passionierter Amateurfunker zu Wort, den sie an eines der koreanischen Funkgeräte gesetzt hatte, um die Meldungen des Feindes abzuhören. Er hatte ihnen bereits vor einigen Stunden mitgeteilt, dass der Gegner nach Verlust ihrer Führung – von General Hwang hatte seit einigen Stunden niemand mehr etwas gehört, Oberst Hee lag fünf Stockwerke höher im eigenen Blut und sein gesamter Stab hatte ein ähnlich unschönes Ende gefunden – in Unordnung geraten war und in der allgemeinen Konfusion niemand in der Lage gewesen war die Befehlsgewalt zu übernehmen. Nun sprang er auf einmal von seinem Platz auf, riss die Arme in die Höhe und rief voll von überschwänglicher Begeisterung: „Wir haben es geschafft! Sie kommen! Sie sind an der Nijō-Straße durchgebrochen und stoßen zu uns vor.“ Während die Japaner in Jubel ausbrachen, bettete Jules ihre Stirn auf dem Kolben ihrer Waffe und schloss die Augen. Die Spannung des Kampfes fiel von ihr ab und es blieb wenig mehr zurück, als ein Gefühl der Leere. Sie konnte nicht jubeln. Nicht angesichts des Preises, den dieser Sieg gefordert hatte.

    Andernorts in der Stadt:

    Ein von von schulterlangen, schmutzigen blonden Haaren eingerahmtes Gesicht, in dem eine ähnliche Mischung aus Vorfreude und Angst zu lesen war, wie sie manch ein Halbstarken vor seinem ersten Rendezvous durchleben musste, erschien zwischen den Türpfosten. Augen wanderten durch den Raum und suchten jeden Winkel zwischen den Mischpulten und Computern ab. Als er nichts sah, als einige zertrümmerte Geräte, Spuren halbfertiger Arbeit und die verfaulten Überreste eines angegessenen Sandwiches, das ein Tontechniker auf seinem Pult liegen gelassen haben musste, als die Koreaner vor einigen Wochen die Fernsehstation gestürmt und alle Mitarbeiter verhaftet hatten, trat Mortimer ein. Zwischen den Fingern der rechten Hand hielt er einen Speicherchip mit Photos und kurzen Filmsequenzen versteckt, für die er sein Leben riskiert hatte. Als die Kämpfe in der Stadt heftiger geworden waren, hatte er durch einen Trick und mit einiger Hilfe eines seiner Zellengenossen die Wachen in ihrem Zellenkorridor überwältigt und war aus dem Internierungslager ausgebrochen, nur um zehn Kilometer durch ein Kriegsgebiet zu seinem Zimmer in einer kleinen Pension unweit der Gewölbe zu laufen, wo er aus der Matratze diesen Datenträger hervorgezaubert hatte und danach hierher zu kommen. Das alte Sendestudio von Ji-Kyōto, dem Rundfunksender freies Kyoto, war seit einiger Zeit verwaist und lag in einem Stadtteil, durch den die Frontlinie schon durchgewalzt war, so dass er auf dem letzten Stück des Weges zumindest keinen Kugeln hatte ausweichen müssen.

    Hier hatte er die Sendeausrüstung wieder auf Vordermann gebracht. Die Koreaner hatten bei der Räumung des Gebäudes zwar die Sendemasten auf dem Dach umgelegt, doch das war kein Problem, das einen Mann hätte aufhalten können, der während der Besetzung aus Tokio oder aus dem Kriegsgebiet in Uganda berichtet hatte. Diese Erfahrungen halfen ihm hier zwar nicht – vielmehr ließen sie eine innere Stimme inständig darum flehen sich einfach ein sicheres Fleckchen zu suchen und ein Ende der Kämpfe abzuwarten – aber glücklicherweise waren sie auch mit seiner jetzigen Situation nicht wirklich vergleichbar. Hier fehlte ihm die Unterstützung durch Techniker und Kameraleute, so dass er die Satellitenschüssel im Alleingang wieder hatte aufstellen und ausrichten müssen, während über der Schlacht noch ein Kampf um die Lufthoheit getobt hatte und die Bilder auf dem Chip würde senden können. Aber vielleicht, dachte er sich, war das auch besser so. Er wirkte im Moment nicht sonderlich präsentabel. Mit zitternden Fingern schob er den Chip das Lesegerät eines der Programmmischpulte und fuhr die Computer hoch. Während die Geräte mit surrenden Lüftern erwachten, atmete er ein paar Mal durch. Dann begann er jede Schublade im Raum aufzureißen und zu durchsuchen. Ein breites Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er in einer ein Päckchen Zigaretten fand. Er setzte sich auf den Stuhl vor dem Pult und nahm eine zwischen die Lippen. Als er sie anstecken wollte, stutzte er und tastete seine Taschen ab. Als ihm klar wurde, dass man ihm sein Feuerzeug abgenommen hatte, verließ er unter mürrischem Gemurmel den Raum. Einige Minuten später kam er mit einer an am Gasherd der Kantine entzündeten Zigarette wieder, setzte sich und startete am Pult den Suchlauf nach einem Satelliten, der ihm als Relais dienen konnte.

    Es brauchte einige Zeit, bis es ihm gelang das Signal über eine weitere Bodenstation außerhalb der Stadt auf einen nicht während der Raumschlacht zerstörten Satelliten und weiter zur Erde umzuleiten. Als er seine Sendezentrale in London erreicht hatte, startete er die Bildübertragung und ging zu einem der Mikrophone für die Radiosprecher, das er auf die Tonspur der Übertragung gelegt hatte. Er drückte die Zigarette aus und sagte: „Hier spricht Thomas Mortimer, live für BBC von der Kolonie Neu-Kyoto. Vor sieben Wochen wurde die Kolonie von Einheiten der koreanischen Volksarmee unter Blockade gestellt und besetzt. Die von General Hwang, der sich als der blutige General von Tokyo eine grausame Reputation erarbeitete, befehligten Truppen verstießen während der Blockade mehrfach gegen internationales Kriegs- und Völkerrecht. Ihr Terror hielt die Kolonie fest im Griff, bis an diesem Vormittag um ungefähr 10.30 Uhr Ortszeit starke Verbände des Widerstands mit Unterstützung noch nicht einwandfrei identifizierter Aliens zum Gegenangriff übergingen. Bis etwa 17 Uhr hatten sie weite Teile der Hauptstadt erobert. Mittlerweile befindet sich, soweit ich es beurteilen kann, fast die gesamte Stadt unter ihrer Kontrolle und der Kampf im Orbit scheint beendet. Ich kann vom Sendestudio aus brennende Trümmer sehen, die in der Atmosphäre über der Stadt verglühen. Zu viele, um von nur einem Schiff zu stammen. Die verbliebenen Verbände des koreanischen Expeditionskorps befinden sich in ungeordnetem Rückzug. Die Schlacht ist weitgehend beendet. Bleiben sie dran, es folgt eine Zusammenfassung der Ereignisse der letzten Wochen...“
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  16. Danke sagten:


  17. #33
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    Einige Stunden später auf der Erde:

    „Nein, ich kann noch nicht mit einer offiziellen Reaktion aus Brüssel dienen. Nein... Ich kann leider auch nicht mehr tun, als sie bitten sich zu gedulden. Ja. Auf wiedersehen, Herr Botschafter.“ Lothar von Minkwitz schaltete die Telefonverbindung zu seinem taiwanesischen Kollegen ab und rieb sich müde die Schläfen. Dieser Nachmittag gehörte eindeutig in die Kategorie jener Erlebnisse, die man am liebsten wieder schnell verdrängen würde. Es war gut drei Stunden her, dass die BBC einen Bericht eines ihrer Korrespondenten von der Kyoto-Kolonie über den Äther geschickt und die Diplomaten dieser Welt in einen Schockzustand versetzt hatte. In bewundernswertem Detailreichtum und mit zahlreichen Bildern und Videos zum Beweis seiner Aussagen hatte der Journalist nicht nur die koreanische Volksarmee diverser Verbrechen auf Kyoto überführt, sondern auch gleich ihre wahrscheinlich vernichtende Niederlage gegen Kräfte des Widerstandes verkündet. Sollte der Bericht sich bewahrheiten, wären die Konsequenzen kaum abzusehen. So oder so würde Pjöngjang Gift und Galle spucken und die Frage, wie mit der veränderten Situation umzugehen war, würde zur Zerreißprobe für viele internationale Beziehungen werden. Zumal noch das Gerücht der Beteiligung Außerirdischer wie ein Damoklesschwert über dem Geschehen schwebte.

    Die Stimme eines seiner Leibwächter, die vom Beifahrersitz des durch den dichten Feierabendverkehr New Yorks fahrenden Wagens herüberscholl, riss ihn aus seinen Überlegungen: „Herr Graf, die Hochkommissarin möchte sie sprechen.“ Er nickte und antwortete: „Ich nehme es gleich an. Und Orhan, wenn wir am United Nations Plaza sind, finden sie heraus, ob Nordkorea schon einen Antrag für den Weltsicherheitsrat eingebracht hat. Ich will es auf jeden Fall wissen, bevor es eine offizielle Ankündigung oder eine Pressemitteilung gibt.“ Der türkische Leibwächter nickte wortlos. Dann klemmte der Diplomat sich wieder sein Headset hinter das Ohr und nahm das Gespräch an. „Hochkommissarin, gut mit ihnen zu sprechen.“ „Ebenfalls, Herr Botschafter. Ich nehme an, dass sie schon auf dem Weg zur UN sind.“ „Natürlich. Die Sache ist von viel zu großer Brisanz, als dass wir uns irgendeine Verzögerung erlauben könnten. Mein alliierter Kollege hat ein inoffizielles Treffen der Mitglieder des Sicherheitsrats angeregt, um auszuloten, wo wir stehen. Ich glaube nicht, dass es besondere Überraschungen geben wird, aber vielleicht können wir das Schlimmste schon im Vorfeld verhindern.“ „Womit rechnen sie?“ Er dachte kurz nach. „China wird auf jeden Fall zu Nordkorea stehen. Es ist nicht ihre Art Verbündete hängen zu lassen. Die Allianz wird auf darauf drängen die Unabhängigkeit Kyotos anzuerkennen. Brasilien hat seinen Botschafter abgezogen und wird nicht an der Abstimmung teilnehmen. Bleiben noch Indien, der Iran und Südafrika als Vetomächte, aber ich glaube nicht, dass die sich allzu weit aus dem Fenster lehnen werden. Ihre Interessen werden nicht unmittelbar berührt und sie werden abwarten, wie wir uns verhalten.“ „Dann stellen sie sich auf eine interessante Sitzung ein. In den Übertragungen der BBC waren Bilder von Aliens, die das STK als eine mit uns verfeindete Rasse identifiziert hat. Sie folgen einer Goa'uld Namens Nyx und haben die letzten zwei Jahre Krieg gegen uns geführt.“

    „Ein Krieg muss erklärt werden, Frau Hochkommissarin.“ Man konnte hören, wie sie schmunzelte, als sie antwortete: „Ich weiß. Aber einen offenen Angriff auf zwei unserer Kolonien halte ich für eine ziemlich deutliche Kriegserklärung. Auch wenn sie nicht formgerecht ist, sorgt sie zumindest für klare Verhältnisse.“ Er schwieg für einen Moment. „Sind die Militärs sich sicher?“ „Was die Zuordnung angeht ja. Aber General Maybourne hat mich darauf hingewiesen, dass das Vorgehen nicht dem üblichen Modus Operandi dieser Leute entspricht. Sie haben sich bis jetzt noch nie mit anderen Völkern verbündet, haben kaum schweres Material zum Einsatz gebracht und sind in viel zu kleiner Zahl aufgetreten. Außerdem gibt es nach unserem jetzigen Kenntnisstand auf Kyoto nichts, was sie interessieren könnte.“ Von Minkwitz runzelte die Stirn und fingerte ein Notizbuch samt Stift aus einer Tasche seines Mantels. Hastig machte er sich einige Notizen und fragte: „Gibt es schon Beschlüsse bezüglich unserer Position oder des weiteren Vorgehens der Streitkräfte?“ „Was das erste angeht: Nein. Zumindest noch nicht offiziell. Sollten es tatsächlich die Japaner sein, die sich ihre Welt zurückgeholt haben und wir einen offiziellen Ansprechpartner finden, werden wir keine gegen sie gerichtete Resolution befürworten. Wir wissen, dass die letzte Regierung damals ins Exil geflohen ist und wir haben ihr die Anerkennung niemals entzogen. Wenn die also unsere Gesprächspartner sind, können wir offiziell mit ihnen verhandeln. Aber solange wir nichts genaues über die Involvierung der Aliens wissen, verhalten wir uns ruhig. Und um Licht in eben dieses Dunkel zu bringen, habe ich die Raumflotte beauftragt eine Aufklärungsmission durchzuführen. Wenn dort wirklich die Angreifer von Elysium am Werk sind, haben wir es mit einer Bedrohung des terranischen Raumes zu tun, die wir nicht unbeantwortet lassen dürfen. Ich hoffe, dass die Dinge nicht eskalieren, aber angesichts unserer Erfahrungen aus den letzten Jahren, rechne ich mit dem Schlimmsten.“

    Wenig später eilte er durch die Flure des Hochhauses am United Nations Plaza. Seine gedämpften Schritte hallten durch den Gang und erregten die Aufmerksamkeit eines Mitarbeiters des Sicherheitsdienstes, eines kräftig gebauten Afrikaners, der ihn und seinen Leibwächter freundlich begrüßte und in einen kleinen Besprechungsraum führte, wo die Vertreter der anderen ständigen und nicht ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates zusammengekommen waren. Es war ein nicht besonders großer, nur mäßig ausgeleuchteter Raum, der in feinem Holz getäfelt war und von einem großen Tisch beherrscht wurde, in dessen Platte Leder eingelassen war und um den 16 Stühle standen. Im Rücken des Platzes des Ratspräsidenten hing eine große Bronzetafel, die die Weltkugel umkränzt von zwei Olivenzweigen, das Wappen der vereinten Nationen, wie um die Autorität der Organisation zu unterstreichen, in deren Namen er sprach, in deren Sinne er wirken sollte. Die Luft war mit dem Geruch von Teppichreiniger, Zigarettenqualm und dem Gemurmel mehrerer Diplomaten erfüllt, die sich in kleinen Grüppchen zusammengefunden hatten, um in einer Art Vorbesprechung vor der Vorbesprechung erste Standpunkte – laut Einstein nichts weiter als der persönliche Horizont eines Menschen mit dem Radius 0 – zu sondieren und Absprachen zu treffen.

    Da noch nicht alle Vertreter anwesend waren, nutzte Lothar die Gelegenheit, um auf den chinesischen Botschafter zuzugehen, der gerade mit dem Vertreter eines nicht ständigen Mitglieds sprach. „Verzeihung, Botschafter Tao“, mischte er sich in das Gespräch ein, „ich weiß, dass es ungebührlich ist ihr Gespräch einfach zu unterbrechen, aber ich muss eine Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit mit ihnen erörtern.“ Der Chinese drehte sich zu ihm um und verbeugte sich in einer Geste der Begrüßung, die Lothar erwiderte. Dann antwortete er: „Wenn unser Freund und Kollege nichts dagegen hat, stehe ich ihnen gerne zur Verfügung.“ Der andere Botschafter erhob keine Einwände, blieb aber offenbar willens zuzuhören stehen. „Herr Botschafter“, begann von Minkwitz, „die ganze Angelegenheit ist fraglos von äußerster Brisanz. Die Einmischung außerirdischer Mächte macht die Geschehnisse auf Kyoto zu einer Frage essentieller Sicherheitsinteressen für den gesamten terranischen Raum. Ich wäre ihnen daher sehr verbunden, wenn sie sagen könnten, ob sie bereits etwas aus Pjöngjang gehört haben, was meinen Dienstherren bei einer Einschätzung der Lage helfen könnte.“ Der Chinese sah ihn für einen kurzen Moment schweigend an, dachte nach. Dann sagte er: „Meine Regierung sieht bisher nicht von welchem Interesse diese Angelegenheit für den Sicherheitsrat ist. Das alles ist eine innere Angelegenheit der Demokratischen Volksrepublik Nordkorea. Es ist ein Angriff von Terroristen auf ihr Territorium auf einer ihrer Kolonien.“ „Was natürlich nur so lange der Fall wäre, wie der Angriff von einer irregulären Truppe ausgeführt worden wäre. Sollte dahinter allerdings die japanische Regierung und damit ein Völkerrechtssubjekt stehen...“ Tao straffte sich. „Was wollen sie andeuten, Botschafter?“ „Andeutungen liegen mir fern. Ich habe lediglich eine Hypothese aufgezeigt. Ob ihr irgendeine Bedeutung beizumessen ist, wird eine Untersuchung zeigen müssen.“ „Wie gesagt: Es ist eine innere Angelegenheit Nordkoreas.“ Lothar lachte etwas verlegen und schlug kurz den Blick nieder, während er von einem Fuß auf den anderen wippte und nachdachte, wie er es diplomatisch unverfänglich ausdrücken sollte. Schließlich entschied er sich für ein offenes Wort: „Sehen sie, ich bewundere die Unverbrüchlichkeit, mit der sie zu ihren Verbündeten halten. Aber ich sehe durchaus die Möglichkeit, dass der Rat diese Angelegenheit als Krieg zwischen zwei anerkannten Regierungen behandeln wird, auch wenn eine davon sich im Exil befindet. Und in dem Moment greift das Völkerrecht Darüber hinaus bleiben drei Probleme bestehen: Erstens haben ihre Freunde selbst nach vorsichtigen Schätzungen 90% ihrer hyperraumfähigen Raumschifftonnage für die Expedition nach Kyoto aufgewandt, zweitens hat Präsident Kinsey seine Wahl zu nicht unerhebliche Teilen japanischen Exilanten zu verdanken, die er jetzt nicht einfach vor den Kopf stoßen könnte und drittens sind zwei Alienrassen beteiligt, von denen Europa mit einer seit zwei Jahren im bewaffneten Konflikt liegt. Deshalb ist im Moment eine unserer Flotten unterwegs, um sich der Sache anzunehmen.“ Für einen Moment zuckte ein Muskel im sonst so unbewegten Gesicht des Chinesen. „Der Raum um besagte Welt ist nordkoreanisches Hoheitsgebiet.“ „Nur innerhalb der 100000km-Spähre um den Planeten. Außerhalb davon gilt das Raumrecht der vereinten Nationen.“ „Sie haben also wirklich vor diese Schiffe zu schicken?“ Von Minkwitz nickte entschieden. „Dann gibt es vielleicht etwas, dass sie wissen sollten. Um Missverständnisse zu vermeiden...“

    Auf Kyoto:

    Der Morgen graute schon über der Hauptstadt. Jules hatte sich mit einer Flasche Sake auf einen Hügel am Rande der Landezonen zurückgezogen, in denen keine 24 Stunden zuvor die Truppe ihren Fuß wieder auf diesen Planeten gesetzt hatte, und beobachtete den Sonnenaufgang. Sie saß schweigend und zusammengekauert da, die Knie unters Kinn gezogen und die Arme um die Beine geschlungen, nahm ab und zu einen kräftigen Zug aus der Flasche und dachte darüber nach, was sie ihren Leuten sagen sollte, sobald sie wieder aus dem Lazarett kamen. Beiläufig warf sie auch ab und zu Blicke zum Geschehen am Fuße des Hügels, wo Soldaten des Weltenschiffs in einem langen Spalier angetreten waren und seltsam bullig wirkende Aliens, deren Köpfe ein wenig an Bären gemahnte, jedoch frei von Haaren und von einem knöchernen Panzer bedeckt war und die einen Körperbau unglaublich muskulöser, aufrecht gehender Panzerechsen mit kurzen Gliedmaßen besaßen, einige der Ihren auf einem Scheiterhaufen aufbahrten. Nicht nur sie, alle schienen heute zu trauern.

    Sie hörte Schritte hinter sich auf dem weichen Gras des Hügels. Als sie sich umsah, bemerkte sie Miyu Akamatsu, die sich näherte und neben ihr Platz nahm. Sie nickte ihr kurz zu, sah dann aber wieder geradeaus und nahm noch einen Schluck. Plötzlich riss die Japanerin ihr die Flasche aus der Hand und trank selbst einen tiefen Zug daraus. Nach einigen Minuten, die sie einfach nur dagesessen hatten, fragte sie: „Woher wussten sie, dass das hier mein Lieblingsplatz ist?“ „Wusste ich nicht. Es sah einfach nur so aus, als könnte ich hier allein sein.“ „Dann gehen sie. Denn ich werde mich keinen Millimeter bewegen. Ich habe die älteren Rechte auf diesen Hügel.“ Unfreiwillig musste Jules schmunzeln. Die Japanerin ließ sich ins Graß zurückfallen und sah in den morgendlichen Himmel hinauf. Die Sonne tauchte zwar schon am Horizont auf, doch der Himmel war noch dunkel genug, um die Sterne erkennen zu können. Zusammen mit zahllosen Trümmern, die als stumme Zeugen der Raumschlacht auf den Planeten hinabregneten, um in der Atmosphäre zu verglühen und die Welt daran zu erinnern, was im Orbit geschehen war. „Ich kann sie verstehen“, sagte die Pilotin schließlich. „Ich meine ihren Schmerz.“ Jules warf einen Blick auf die Erkennungsmarken, die sie immer noch am Handgelenk trug. „Vielleicht“, antwortete sie, „wahrscheinlich aber nicht.“

    Miyu trank noch einmal, dann antwortete sie: „Verlust ist nicht so speziell, wie sie es vielleicht glauben. Ich habe vier Piloten verloren und viele, die auf der 'Yamato' ihr Leben gelassen habe, waren meine Freunde.“ Sie richtete sich wieder auf und deutete mit der Hand, die die Flasche hielt, welche Jules sich sofort wieder schnappte, in Richtung der Senke, wo die Trauerfeier abgehalten wurde. „Sehen sie sich die Kerle dort unten an. Die Menschen haben wir gerettet. Zumindest vorerst. Aber die Aliens... Als ich ihren Freund Atreos heute im Lazarett getroffen habe, hat er mit erklärt, dass keine 200 dieser Wesen den Genozid durch die Antiker überlebt haben. Davon nur 10 Frauen, unter denen 3 eng miteinander blutsverwandt sind. Sie sind ein sterbendes Volk. Nichts kann das mehr verhindern. Wir alle haben hier unsere Opfer gebracht. Für manche wiegen sie schwerer, für andere weniger. Aber letztlich...“ Im Tal begannen die Aliens sich mit Klingen, deren Form vermuten ließ, dass sie vor allem zeremoniellen Zwecken dienten, Wunden beinzubringen und die Leichnahme mit ihrem Blut zu benetzen. Dabei stießen sie Klagelaute aus, in die ihre menschlichen Kampfgefährten einstimmten, indem sie ihre Waffen in einem langsamen Rhythmus gegeneinander schlugen. „Was machen die dort?“ „Sie betrauern ihre Toten mit dem Blut von Kriegern. Es ist wohl ihre Art damit umzugehen. So wie es unsere ist uns mit Sake die Sinne zu betäuben, bis wir nichts mehr spüren.“ Jules grunzte bestätigend, während sie noch einen Schluck trank, konstatierte dann aber: „Ist eine schreckliche Methode.“ „Angenehm ist sie sicherlich nicht.“

    Sie sah zu der Japanerin und meinte: „Hören sie, ich weiß zu schätzen, wenn sie mir eine Chance geben wollen zu reden, aber ich bin nicht gut in so etwas. 's hat meine Psychiater immer wieder in den Wahnsinn getrieben. Es ist einfach nicht meine Art.“ „Was ist es dann?“ „Früher habe ich mal einfach weiter gemacht. So lange es Schlachgenköpfe und Ori gab, auf die ich schießen konnte, war alles in Ordnung. Aber jetzt...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin müde, Colonel Akamatsu. Ich war es immer gewohnt, dass jemand die wichtigsten taktischen Entscheidungen für mich getroffen hat und dass im Feld die Ressourcen einer ganzen Armee hinter mir standen. Jetzt habe ich es mit weniger versuchen müssen und selbst den Weg angezeigt.“ Sie lachte. Es klang mehr verzweifelt, als fröhlich. „Das paradoxe ist: Irgendwie haben wir etwas erreicht. Ich hab zum neuen Krieg ins Horn geschmettert und den Leuten zugerufen mit zu folgen. Aber von den 38 Leuten, die es auch wirklich taten, leben nur noch 3. Verdammt, ich hab's ja so drauf.“ „Sie haben sich mit einigen der mächtigsten und skrupellosesten Männer des terranischen Raums angelegt. Haben sie nicht mit Verlusten gerechnet?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Irgendwie nicht. Was soll ich diesen drei Überlebenden jetzt bloß sagen? Ich kann sie bezahlen. Vielleicht nicht so gut, wie mein Mann es gekonnt hätte, aber völlig mittellos bin ich nicht. Aber was soll ich ihnen zum Tod ihrer Freunde sagen? Dass sie 69 Millionen Menschen gerettet haben, die ihnen letztlich so egal sein können, wie der sprichwörtliche Sack Reis in China?“ „Dass sie etwas großes getan haben.“ Jules machte eine heftige verneinende Bewegung, die die Flasche wieder in Miyus Reichweite trug. „Nein. Sagen sie es nicht. Meine Entscheidungen haben viele dieser Leute das leben gekostet und mir selbst körperliche Blessuren eingebracht, die nie wieder weggehen werden. Und das ist vielleicht auch besser so. Es nimmt mir die Chance mich selbst zu belügen und zu ignorieren, was ich getan habe.“ „Und was wäre das?“ „Ich habe diese Leute in den Tod geführt, ohne dass es nötig gewesen wäre. Wir haben Leute in Situationen verloren, in denen man mit besserer Ausrüstung und Vorbereitung ohne Schaden durchgekommen wäre. Es konnte nur so weit kommen, weil ich mein Temperament nicht zügeln konnte. Ich bin keine Anführerin, Colonel.“ Miyu ließ sich wieder zurücksinken und breitete die Arme aus. „Wollen sie keine Einheit mehr Anführen?“ „Nein.“ „Und was wollen sie dann machen?“ „Was weiß ich? Vielleicht suche ich mir irgendwo mit McGrath ein kleines Bergdorf hier auf Kyoto, wo wir uns jeden Tag im stereotypen Schaukelstuhl auf die Veranda setzen, um Kriegsgeschichten zu erzählen. Oder ich geh auf der Erde auch Achse und sehe mir an, was ich in den letzten neunzehn Jahren verpasst habe. Zur Hölle, vielleicht gehe ich auch an die Volkshochschule Worpswede und gebe Häkelkurse. Keine Ahnung was kommt.“ Die Japanerin lachte. „Ich weiß nicht... Als Aussteigerin kann ich sie mir irgendwie überhaupt nicht vorstellen.“
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  18. Danke sagten:


  19. #34
    Gehasst, Verdammt, Vergöttert Avatar von Colonel Maybourne
    Registriert seit
    24.11.2004
    Ort
    Im Harz
    Beiträge
    3.843

    Standard

    Und wieder ein sehr gutes Kapitel, indem die Koreaner regelrecht vernichtet werden und es auf jahre auch unterlassen werden, offensiv zu agieren.
    Hwang wurde zwar hervorragend ausgetrickst, aber irgendwie war seine Exekution zu schnell auch wenn die Japaner der Ehre den Vorrang gaben.

    Und die lustigste Aktion war, wie die Japaner Jules über die Ratten auf dieser Welt aufklärten...

    Gleichzeitig hat auch die Politische Diskussion am Ende gefallen, wo es vor allem für die Chinesen um große Interessanskonflikte geht.
    Die waren ja nicht so begeistert, dass einer ihrer Alliierten einen Tritt bekommen hat.

    Nur schick Jules nicht nach Worpswede...

    Bis dann.
    Das Leben ist ein Schwanz und wir die Eier, die mitgeschleift werden.


    Meine aktuellen Fanfiction:


    TGE Combined Season 1 Fire of War:

    http://www.stargate-project.de/starg...ad.php?t=11836




  20. #35
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    @ Colonel Maybourne: Ich war wie eigentlich immer bemüht meine Protagonisten im Rahmen meiner Möglichkeiten akurat darzustellen. Sowohl das Verhalten der Japaner, als auch das der Chinesen ist Teil davon.

    In Punkto der Exekution Hwangs muss beispielsweise bedacht werden, dass Seppuku wie es ihm angeboten wurde nicht bloß ein gewöhnlicher Freitod ist, sondern einen Akt der Ehrenrettung darstellt. Als er abgelehnt hat, hat Finlay ihn enthauptet. Beim richtig ausgeführten Seppuku darf der Kopf nicht völlig vom Rumpf getrennt werden. Der Sekundant versucht vielmehr Wirbelsäule und Schlagadern zu durchtrennen, um einen schnellen Tod herbeizuführen. Tatsächlich enthauptet zu werden bedeutet wie ein ehrloser Verbrecher zu sterben. So gesehen ist es zwar ein schneller Tod, aber auch einer, dem eine große Schande innewohnt.

    Und was die Chinesen angeht habe ich mich vor allem an zwei Faktoren gehalten: Einerseits den chinesischen Habitus staatliche Souveränität zu achten und keine Einmischung der UN in die inneren Angelegenheiten einzelner Staaten zu befürworten, andererseits dass ich bei allem was man gegen die VR China sagen kann die Loyalität der Chinesen gegenüber ihren Verbündeten beinahe schon als Nibelungentreue bezeichnen möchte. Als es ihrem sozialistischen Bruderstaat in Nordkorea 1950 das letzte Mal ernsthaft ans Leder ging, haben sie bereitwillig zwischen 400000 und 800000 Tote und Kriegsversehrte in Kauf genommen (je nachdem welche Quelle man heranzieht), um sie zu unterstützen. Ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass die Nato für einen Verbündeten zu ähnlichen Opfern bereit gewesen wäre. Die Chinesen haben in meiner Geschichte kein unmittelbares Interesse an Kyoto. Abgesehen davon, dass sie einen potentiellen Lebensraum darstellt ist nichts besonderes daran. Ihr einziges Interesse an der Sache besteht darin, dass sie mit den Koreanern verbündet sind. Der Ausgang des Kampfes hat ihre Verbündeten enorm geschwächt und das zu erwartende Verhalten der Allianz und der EU stellt in den Augen der Chinesen eine zusächliche Schmach für Korea dar. Deshalb war der chinesische Botschafter so kurz angebunden.

    Was das weitere Schicksal angeht will ich mich allerdings ausschweigen. Mit der nächsten Folge ist in der kommenden Woche zu rechen. Dann wird verraten werden, was ich mich Kyoto, Korea und den sonstigen Akteuren mache.





    Bis dahin danke an Col. Maybourne für die ausführliche und freundliche Kritik und an Azrael nebst Dante21 für das betätigen des Buttons. Aber irgendwie komme ich nicht umhin zu bemerken, dass die Reaktionen von Seiten der Leserschaft wieder seltener werden. Sollte ich irgendwelche Leser vergrault haben, bitte ich um entsprechende Statements mit Hinweis darauf was nicht gefallen hat.
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  21. #36
    Senior Master Sergeant
    Registriert seit
    23.04.2010
    Ort
    Lippe
    Beiträge
    108

    Standard

    So, jetzt gebe ich meinen Senf auch mal ab! Du hast da eine echt super FF zu einer FF geschrieben in der eine Menge arbeit steckt! Die einzelnen Kapitel sind zwar immer ganzschöne Brocken da sie sehr lang sind und es währe schöner wen du etwas kürzere posten würdest die dan öffter kommen aber mach weiter so. Hoffe das nächste Kapitel lässt nichtmehr lange auf sich warten!

  22. #37
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    Hallo in die Runde. Tut mir leid, dass die Pause so lang ausgefallen ist. Ich habe seit ein paar Wochen Probleme mit meinem Rechner und musste mich in ein Internetcafe setzen, um diese Zeilen hier schreiben und das Kapitel hochladen zu können.

    Noch einmal besten Dank an Heiko_M für seinen Kommentar und WarriorSun für das betätigen der Dankesfunktion. @Heiko_M: Tja, das höre ich nicht zum ersten Mal und habe selbst schon einige Male darüber nachgedacht die Kapitel aufzuspalten. Ich finde es schwierig mich zu entscheiden wo ich einen Schnitt setzen kann, zumal ich nicht in konstantem Tempo nach der Variante "zwei Seiten pro Tag", sondern in Tranchen von sehr unterschiedlicher Länge, je nachdem wie leicht mir der Text zum betreffenden Zeitpunkt von der Hand geht. Und da kommt es oft vor, dass ich mich entweder für einen einzelnen Absatz mehrere Stunden lang quälen muss, oder in der gleichen Zeit mehrere Seiten am Stück in die Tasten haue. Das macht es nicht einfach sich die Kapitel in kürzere Abschnitte einzuteilen.

    Und nun zum folgenden Kapitel: Das Geschehen knüpft relativ nahtlos an die Ereignisse des letzten an, erzählt alles aber aus der Perspektive von Charakteren, die bisher immer Auftritte in Nebenrollen hatten und nun das erste Mal einen exklusiven Auftritt bekommen: Der Raumflotte.

    Als kleine Anmerkung sei noch zum viertletzten Absatz gesagt, dass ich die darin genannten Zahlen schon einige Male variiert habe. Mittlerweile kann das, was ich hier geschrieben habe, aber gewissermaßen als 'kanonisch' angesehen werden. Ich hab die darin genannten Werte selbst nachgerechnet, stimmt alles und ist recht eindrucksvoll. Gesamtlänge 19 Seiten, viel Spaß beim Lesen.




    Episode 8: Viel Feind, viel Ehr (Nicht zu verwechseln mit einem Kapitel einer älteren FF, dem ich glaube ich mal den selben Namen gegeben habe)


    Mit unbewegter Miene lancierte der kräftige Ingenieur sein Gegenüber. Sein von langer Arbeit bei sengender Hitze in den Wartungsschächten der Maschinenanlage dunkel und ledrig gewordenes Gesicht war völlig regungslos. Nur ein nervöses Zucken der rechten Hand verriet seine Anspannung, während er angestrengt nachdachte. Der Kanonier, der ihm auf der abgewetzten Couch gegenüber saß, hatte sich indessen entspannt zurückgelehnt und schmunzelte, als wisse er genau was der Maschinist sagen würde. „Dieses Mal nicht“, murmelte der Ingenieur mit deutlich hörbarem russischen Akzent schließlich und warf ein 20-Euro-Note in die Mitte der Runde. „So viel Glück könnte kein Mensch haben. Ich gehe mit.“ „Der Abend war schon teuer genug“, erwiderte der Mann links von ihm und legte seine Karten auf den Tisch. „Ich bin raus.“ Vier Gesichter richteten sich auf eine Pilotin, die als einzige Frau am Tisch saß. „Léa?“ Sie warf einen kurzen Blick in Richtung des Kanoniers, dann legte auch sie mit einer energischen Handbewegung ihren Einsatz dazu und meinte: „Lassen sie sehen, Fähnrich.“

    Der Kanonier richtete sich kerzengerade auf, legte eine Hand auf die beiden verdeckt vor ihm liegenden Karten und hob sie ein wenig an, um noch einmal drunter zu sehen. Auf dem niedrigen Tisch, um den herum sie sich gesetzt hatten, lagen bereits zwei Damen, ein Bube und eine Zehn. Sein linker Mundwinkel zuckte unwillkürlich, während er versuchte ein breites Grinsen zu unterdrücken, dann stahl sich jedoch ein verschmitztes Lächeln auf seinem Gesicht und er deckte nacheinander zwei Zehner auf, wobei er mit den Fingerknöcheln auf die Platte des niedrigen Tisches klopfte. Einige der Männer, die das Spiel verfolgt hatten, begannen lautstark ihrer Erheiterung oder auch einfach nur Überraschung Luft zu machen. Die Pilotin hingegen schleuderte mit einem wütenden französischen Fluch ihre Karten – Dame und sechs – von sich und verschränkte die Arme vor der Brust, während der Ingenieur sich nach vorne sacken ließ und klatschend die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug. „Ich hasse dieses Spiel“, sagte er mit unüberhörbarer Frustration in der Stimme, um es noch einmal zu wiederholen: „Ich hasse dieses Spiel.“ Ein anderer Verlierer klopfte einem Leidensgenossen aufmunternd auf die Schulter. Der Gewinner breitete indes nur triumphierend die Arme aus und sagte: „Man sollte meinen, dass sie es gelernt haben: Spielen sie niemals gegen einen Iren.“

    Der Russe sah kurz auf und sagte „Und sie hasse ich auch, Fähnrich“, bevor er sein Gesicht wieder in seinen schwieligen Pranken vergrub. Sein Tonfall dabei allerdings weit weniger scharf, als seine Worte. Er war auch nur einer von vielen an Bord, die darauf hofften, dass der Ire mit den markanten Gesichtszügen, dessen Glück im Spiel allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeitslehre spottete, verlor. Mittlerweile wechselte unter den Mannschaften auf Deck elf mehr in Wetten auf die Pokerrunden den Besitzer, als bei den Spielen selbst. Der Ire wollte gerade mit einer ausladenden Bewegung das Geld einstreichen, während ein anderer Mitspieler die Karten neu mischte, als ein lauter Signalton im ganzen Schiff erscholl. Obwohl es nicht das scharfe Heulen eines Gefechtsalarms war, sondern nur das tiefe Summen des Bereitschaftssignals, stürzten einige der Zaungäste sofort zu den Leitern, die aus dem Quartier heraus führten, um zu ihren Stationen zu gelangen. Der Ingenieur sah in die Runde und meinte mit einem Fingerzeig auf den Kanonier: „Dann wollen wir mal. Fähnrich, sie schulden mir eine Revanche.“

    Der so angesprochene erhob sich ebenfalls von seinem Platz, deutete mit zwei Fingern einen Salut in Richtung der anderen an, schnappte sich seine Uniformjacke und folgte ebenfalls die Leitern hinauf. Die Quartiere der Mannschaften waren eng und bestanden kaum aus mehr als einfachen Schlafnischen in den Wänden eines 4 x 5m großen Raumes, den man als einziges Zugeständnis an die Privatssphäre der Soldaten eine kleine Sitzecke mit einem Tisch und etwas Stauraum für persönliche Dinge erweitert hatte, die eine kleine Chance bot dem Gedränge an Bord zu entkommen. Privatssphäre bedeutete auf Schiffen wie diesen den Raum, den man sich mit fünf anderen Leuten teilte. Böse Zungen behaupteten Sardinen in der Büchse hätten mehr Platz. Ein Ausspruch den viele Raumfahrer nicht einmal in Zweifel zogen. Mehr noch hatten sie ihn sich mit einigem Stolz zu Eigen gemacht. Mit schnellen Schritten erklomm er die Leiter und fand sich in einem der großen Korridore wieder, die sich durch das ganze Schiff zogen. Er wandte sich nach links und folgte dem Gang in zügigem Laufschritt. Dabei warf er sich seine Jacke über und tastete nach einem Photo in seiner rechten Brusttasche, das er an Bord ständig bei sich trug. Es war das Bild einer jungen Pilotin, mit der er zweimal ausgegangen war. Sie hatte es ihm als Glücksbringer gegeben. Auf die Rückseite hatten sie beide die Worte geschrieben: „'Agincourt' - Fág an Bealach!“ Schlagt die Bresche! Es war ein Schlachtruf der Tapferen, jener, die daran glaubten dass Glück eine Frage des Mutes ist. Sie hatte dieser Glaube nicht beschützen können. Sie und ihr WSO waren über Elysium irgendwo im Feuer der größten Schlacht seit Ende des Krieges gegen die Ori gestorben. Ein weiterer Grund den Kampf nie aufzugeben...

    Er kletterte noch einige Leitern hinauf und wieder hinunter, bis er seine Station an einem der vorderen Gefechtstürme erreicht hatte. Als er sich durch die Luke des Turmes schwang, waren beide Ladekanoniere schon anwesend und bestückten die Autolader. Beide waren muskelbepackte Kerle, die die 75 Kilogramm schweren Eisenbrocken, welche die Geschütze verschossen, bei Ausfall der automatischen Systeme mit bloßen Händen im Sekundentakt laden konnten. Der eine deutete einen Salut an, als der Fähnrich eintrat und sagte „Liam“, während der andere ohne sich beirren zu lassen Projektile in die Magazine des Geschützes wuchtete. Zwar bestand noch kein Zwang selbst Hand anzulegen – die automatische Munitionszufuhr war eines der zuverlässigsten Systeme an Bord – doch es stellte eine gute Aufwärmübung dar. Er erwiderte den Gruß und stieg einige letzte Trittstufen in den Feuerleitstand hinauf. Hier saßen in beinahe völliger Dunkelheit zwei weitere Männer und eine Frau an verschiedenen Computern. Es gab keine eigene Beleuchtung, so dass das schwache Licht der Computeranzeigen und das, was von draußen hinein fiel, alles waren was den Raum erhellte, ein Umstand dem die gleiche Überlegung zu Grunde lag, wie dem Fahren ohne Kabinenbeleuchtung bei Nacht. Aus dem Fenster konnte er die 20 Meter langen Rohre der Geschütze sehen, die im schwachen Widerschein der Außenbeleuchtung des Schiffes an die Hülle angelegt waren.

    Trotz der ehrfurchtgebietenden Feuerkraft des Hauptgeschützes waren in Doppellafetten aufgestellte 75kg-Massebeschleungier wie diese hier die wichtigste Waffe der 'Agincourt' gegen größere Ziele. Die Türme waren beweglich genug, um selbst schnelle Ziele wie Al'Kesh oder ihre moderneren Varianten, die in den Streitkräften Dumuzis Verwendung fanden, aufs Korn nehmen zu können und besaßen durch ihre hohe Kadenz genug Feuerkraft, um selbst die Schilde eines Kreuzers mit wenigen Feuerstößen auszuschalten. Entsprechend scharf war der Drill und entsprechend wichtig war das reibungslose Funktionieren der Mannschaften.

    Der Ire kannte das Geschütz nach sechs Dienstjahren an Bord besser als die Linien seiner eigenen Hand, so dass er selbst mit verbundenen Augen sein Headset hätte finden können, das er am Ende seiner letzten Wache auf einen Haken neben der Luke gehängt hatte. Er setzte es sich auf, vergewisserte sich ein letztes Mal dass seine Crew vollzählig anwesend war und gab durch: „Brücke, hier Gefechtsturm Omikron. Besatzung ist vollzählig angetreten um...“ - er warf einen Blick auf seine Uhr - „1721 Bordzeit. Systemcheck läuft.“ Mit diesen Worten setzte er sich schwungvoll mit dem Rücken zur Wand auf eine der Konsolen, stellte die Füße auf die Lehne eines Sitzes. Als er es sich bequem gemacht hatte, sagte er: „Gehen wir die Liste durch. Rodrigo?“ Der Sensortechniker warf ihm ein Klemmbrett zu. Er schaltete die am Headset angebracht Lampe an, trug Datum und Uhrzeit ein und fragte: „Computer?“ „Klar.“ „Beschleunigungsspulen?“ Zu ihren Fußen summte der Boden leicht, als die Spulen der Kanonen testweise unter Energie gesetzt wurden. Er lauschte aufmerksam und konnte eine winzige Dissonanz heraushören. „Ok, da muss eine nachkalibriert werden.“ Er beugte sich etwas in Richtung der Luke in die Ladekammer und brüllte: „Führungsschienen?“ Einer der Ladeschützen aktivierte den Reinigungsmechanismus, der die Führungsschienen der Railguns sauber polierte und möglicherweise von verschossenen Projektilen hängen gebliebene Splitter beseitigte. Die Maschine bemerkte selbst feinste Unebenheiten, die im Gefecht dazu führen konnten, dass ein Geschoss sich – normalerweise mit katastrophaler Wirkung – verkeilte. So gingen sie die Liste durch, bis der Sensortechniker auf einmal unterbrach: „Seht mal, dort draußen.“ Er sprang von der Konsole hinunter und trat an das Fenster, auf das der Tech gedeutet hatte. Unweit der Station, deren Andockklammern die 'Agincourt' noch hielten, waren mehrere noch vom schwachen Nachglühen eines Hyperraumfensters umschimmerte Schiffe zu erkennen. Er legte die Stirn in Falten und kniff die Augen ein wenig zusammen, als er erkannte wer sich hier die Ehre gab. „Die 'Machiavelli' und ein paar Inder... War irgendeine größere Operation angekündigt die mir in purer Boshaftigkeit verschwiegen wurde?“ „Nicht direkt.“ Er rieb sich nachdenklich den Nacken. „Scheiße, dann muss die Kacke irgendwo richtig am Dampfen sein.“


    Mehrere Offiziere der 'Agincourt' und des Kommandostabs der Flotte standen in kleinen Gruppen im Hangar beisammen und warteten auf die Ankunft die Admirale, denen die Durchführung der bevorstehenden Operation anvertraut worden war. Kapitän Vojk Jagoda warf zum zehnten Mal in acht Minuten einen Blick auf seine Armbanduhr, ohne wirklich auf die Zeit zu achten. Dann warf er einen Blick in Richtung des Hangartors und begann an den Manschetten seiner Uniform zu nesteln. Ein zweiter, nur gut eine Armeslänge entfernt stehender Offizier der Aufklärung bemerkte das nervöse Verhalten, verkannte aber den Grund, als er meinte: „Das ist einer der Gründe warum ich mich damals gegen ihre Beförderung ausgesprochen habe.“ Überrascht löste Jagoda seinen Blick vom hellen Schimmer der Barriere, die dort wo der Hangar sich zum All hin öffnete die Atmosphäre daran hinderte zu entweichen, und sah in Richtung des Mannes. „Wie meinen?“ „Ein Offizier sollte immer durch Vorbild führen. Aber das selbsterklärte Genius der europäischen Raumkriegsführung nimmt es mit Pünktlichkeit offenbar nicht allzu genau.“

    Einer seiner Mundwinkel zuckte in Andeutung eines spöttischen Lächelns, als der Kapitän verstand, was sein Gegenüber ihm zu sagen versuchte. Er hatte schon einige kurze Worte mit dem Mann gewechselt, als dieser selbst an Bord gekommen war und sich schnell entschieden ihn nicht zu mögen. „Ich will ihnen nicht widersprechen, Kapitän. Aber ist nicht auch Respekt gegenüber den Vorgesetzten eine Tugend des Offiziers? Nur weil Admiral Siska nicht anwesend ist, bedeutet das nicht, dass sie sich ein solches Urteil über sie anmaßen können.“ Für einen Moment sah der andere ihn nur mit versteinerten Gesichtszügen und offenkundig unschlüssig was er erwidern sollte an, dann nickte er und wandte seinen Blick ab. Nun schmunzelte Jagoda unverholen. Der andere Offizier war einige Jahre jünger als er, hatte sich das Haar streng zurückgekämmt und seine Körperhaltung wirkte so verkrampft, als habe man ihm in Paris eine Eisenstange in den Arsch geschoben. Seine harter und lauter Gang, der am ehesten dem Paradeschritt der Infanterie nahe kam, zeigte dass er nie gelernt hatte sich bei niedriger Schwerkraft zu bewegen. Ein sicheres Zeichen, dass seine Dienstzeit auf einem Raumschiff bestenfalls Symbolcharakter gehabt haben konnte. Viel mehr brauchte Jagoda nicht, um einen Menschen einzuschätzen. Er trat einen Schritt näher an den Anderen heran, klopfte ihm auf die Schulter und murmelte: „Der Grund warum ich hier auf glühenden Kohlen sitze ist übrigens, dass sich über dieser Welt gerade das größte Flottenaufgebot seit Elysium sammelt“ - eine Aussage, die keineswegs untertrieben war, bedachte Mann, dass die EU ingesamt 63 und die Inder 40 Schiffe für was immer auch vor ihnen lag abgestellt hatten - „und ich keine Ahnung habe warum. Das Gefällt mir nicht. Und ich fühle mich verpflichtet sie zu warnen: Wenn sie sich gegenüber der Crew allzu offen über Admiral Siska auslassen, machen sie sich an Bord fast jeden zum Feind.“

    „Die Frau ist eine absolute Fehlbesetzung“, platzte es aus ihm heraus. „Es fehlt ihr an Disziplin und jedwedem Ernst. Ich habe nie verstanden wie Admiral Ciliax gerade ihr die Schlachtgeschwader anvertrauen konnte.“ Jagoda machte keinen Hehl aus seiner Erheiterung und meinte: „Womit wir wieder bei der Frage des Respekts wären. Aber nach meiner Erfahrung weiß sie ein offenes Wort zu schätzen. Vielleicht sollten sie einmal mit ihr reden.“ „Jederzeit. Offenbar hat hier ja niemand sonst die Traute dazu. Die Inkompetenz dieser Frau hat uns bei Elysium fünf Schlachtschiffe und 1200 Leben gekostet. So katastrophale Verluste in einer einzelnen Schlacht hatte die Flotte vorher nie.“ „Sehen sie, das ist einer der Momente in denen ich mich in Zeiten zurücksehen, als die Flotte noch dermaßen unterfinanziert war, dass selbst die Kapitäne noch beim Deckschrubben mit anpacken musste und niemand sich in der Etappe verstecken konnte. Denn damals wäre auch jedem klar gewesen, was es bedeutet in einer Konfrontation dieser Größenordnung mit einen Feind, dessen Technologie mit der der Ori und Antiker gleichziehen kann, nur fünf Schlachtschiffe zu verlieren. Niemand außer Siska hätte das geschafft. Gut, Konteradmiral Negabatow vielleicht. Negabatow, arroganter, egoistischer, eitler, ganz und gar körperloser Verstand, ein eiskalter Technokrat und Mathematiker des Krieges. Bei aller Hochachtung für seine Fähigkeiten ist er doch keine Führungspersönlichkeit. Siska ist ihrerseits in einer Zeit zur Flotte gekommen, als wir jeden Tag mit der Auflösung der verbliebenen Raumverbände rechnen mussten und es mit der Disziplin nicht weit her war. Diesen Schlendrian ist sie nie wieder los geworden. Aber trotzdem ist sie zur ranghöchsten operativen Kommandantin der Flotte geworden. Das verdankt sie nicht ihrem hübschen Gesicht, sondern einem beispiellosen intuitiven Verständnis für den Raumkampf. Sagen sie was sie wollen, meine Crew würde ihr in ein schwarzes Loch folgen.“

    Der andere setzte zu einer Erwiderung an, doch bevor er etwas sagen konnte hallte eine Durchsage der Flugkontrolle durch den Hangar. „Achtung, Admiralsgig befindet sich im Anflug. Landezone in Hangar zwo räumen.“ Jagoda legte eine Hand über sein rechtes Ohr, in dem er das Mikrophon seines Funkgerätes trug, um die Hintergrundgeräusche auszublenden und gab die Anweisung: „Brücke, hier ist der Kapitän. Wie ist der Status der Startvorbereitungen?“ „Alle Stationen melden grünes Licht. Systemcheck abgeschlossen, Triebwerke zu 70% hochgefahren. “ „Sehen sie zu, dass die Maschinen zügig auf Temperatur sind. Ich will dass wir jederzeit startklar sind.“ Ein lautes Summen, das plötzlich die Geräuschkulisse, die dutzende Schuhe auf dem stählernen Boden erzeugten, durchschnitt, verriet ihm, dass die Fähre gerade das Energiefeld des Hangars passiert hatte. Mit schnellen Schritten reihte er sich an erster Stelle in die Ehrenformation ein. Als die Gig aufgesetzt hatte und ihre Landerampe sich absenkte, rief er: „Aaaachtung!“

    Alle Offiziere nahmen simultan Haltung an und hoben die Hand zum Salut an die Stirn. Kaum dass die Rampe Bodenberührung hatte, traten vier Admirale heraus. Einen vermochte Jagoda an seiner weißen Uniform, die im Schnitt an eine britische Erinnerte, seinen dunklen Teint und die Rücken an Rücken sitzenden Löwen unschwer als Inder zu erkennen, auch wenn seine Gesichtszüge ihm nicht vertraut waren. Neben ihm ging Admiral Siska, ihrerseits flankiert von Alexej Negabatow und Albrecht Graf zu Dohna Schlodien. Sie blieben vor ihm stehen und Siska trat einen Schritt vor. Sie erwiderte den Gruß und sagte, wenn auch mit einem subtilen Unterton in der Stimme, der eine gewisse Belustigung ob des militärischen Zeremoniells erahnen ließ: „Kapitän Jagoda, wir bitten um Erlaubnis an Bord kommen zu dürfen.“ „Erlaubnis erteilt.“ Sie deutete auf ihre Begleiter. „Vizeadmiral Dohna und Konteradmiral Negabatow sollten sie ja bereits kennen. Und der vierte in unserem Bunde ist Admiral Manmohan Pradesh, Befehlshaber der schweren indischen Raumstreitkräfte.“ Der mit den Jahren füllig gewordene Inder, dessen Gesicht wirkte als würde ständig das Gewicht aller Welten auf seinen Schultern lasten, salutierte und nickte. Es folgten Worte der Vorstellung für seine wichtigsten Offiziere, die in dieser Form vor allem an Negabatow und Pradesh gerichtet waren, kannten die beiden anderen die Crew doch gut genug. Als sie sich die Linie entlang gearbeitet hatten, meinte Siska: „Meine Herren, die Damen wir haben einiges zu besprechen.“

    Eine halbe Stunde später saßen sie in der Gefechtszentrale des Schiffs gemeinsam um einen großen Holoprojektor herum und verfolgten jene spärlichen Aufnahmen, die vom jüngsten Geschehen auf Kyoto vorhanden waren. Der englische Reporter, von dem die einzigen Berichte aus dem Krisengebiet stammten, schien seine Aufnahmen mit einer simplen Handkamera gemacht zu haben, so dass anstelle eines großen holographischen Bilds eine zweidimensionale Wiedergabe auf Augenhöhe vor jeden in der Runde projiziert wurde. Stillschweigend wurden sie verspätet Zeugen einer Kampfzone, in die der Brite beim Versuch durch die Frontlinie zu gelangen hineingeraten war. Antigravfahrzeuge, die sich Schusswechsel mit T10-Kampfpanzern lieferten, Infanterie, die gegen MG-Nester stürmte. Als der Reporter und Kameramann in Personalunion gezwungen war sich hinter einigen Trümmern in Deckung zu werfen und die Kamera mit dem Objektiv gen Himmel liegen blieb, sagte Siska: „Wiedergabe anhalten.“ Die Hologramme wurden langsam ausgeblendet, die zuvor gedimmte Beleuchtung wieder hochgefahren und ihre Sihouette, die Füße mit überschlagenen Beinen auf die Konsole vor sich gelegt, schälte sich aus dem Schatten heraus. Sie hatte ihren Blick nicht von den kaum noch zu erkennenden Hologrammen gelöst und ließ einen Stift zwischen den Fingern tanzen. Ihr Gesicht war, wie immer wenn sie voll in Gedanken über ein Problem versunken war, gänzlich ausdruckslos, und ihre drei Mitstreiter mussten sich einen Moment in Geduld üben, bevor sie etwas sagte: „Meine Herren, sie wissen was das bedeutet?“

    „да. Probleme“, antwortete Negabatow, der sich die Arme vor der Brust verschränkt in seinem Sitz zurückgelehnt hatte und aus dem Augenwinkel zu Siska sah. „Das würde ich meinen“, stimmte Pradesh zu. „Elysium hat uns unsere Grenzen sehr deutlich aufgezeigt. Wenn Nyx jetzt zu derart offenen Operationen gegen Welten im terranischen Raum übergeht...“ „Sie missverstehen mich“, unterbrach der blonde Russe den Inder. „Das“ – er deutete auf die noch schemenhaft zu erkennenden Hologramme – „ist kein Auftakt für irgendeine Offensive, ja nicht einmal ein richtiger Angriff. Es ist eine Situation, die ich nicht einmal annähernd einschätzen kann. Und sie mögen mir vergeben, aber das macht mir Angst.“ Pradesh legte die Stirn in Falten. „Wir haben nur Teilaufnahmen. Ausschnitte der Schlacht. Wir können nicht wissen wie groß ihre Operation ist. Was wir wissen verrät uns aber, dass sie das Ziel hatten diese Welt zu okkupieren.“ Nun griff Siska nach einer kleinen Fernbedienung und streifte sich eine Art Handschub über. Dann erhob sie sich geschmeidig und begann mit bedächtigen Schritten um den Projektor herum zu gehen. Schließlich griff sie mit der behandschuhten Hand in das Hologramm hinein und begann Ausschnitte daraus zu markieren, zu vergrößern oder zu verschieben. Sensoren erfassten dabei jede ihrer Bewegungen und setzten sie in Computerbefehle um, während sie mit der Fernbedienung zwischen verschiedenen Modi der Bearbeitung hin und her wechselte. Sie schnitt einige Details hinaus, versah sie mit Markierungen, zog Verbindungen und ordnete sie neu an. Als sie fertig war, meinte sie: „Es war kein gewöhnlicher Angriff. Wir stolpern hier ins Unbekannte hinein.“

    Sie drehte sich um und sah ahnend, dass Negabatow zu den gleichen Schlüssen gekommen war wie sie, zu Pradesh und Dohna. Letzterer erwiderte ihren Blick fragend und meinte: „Zugegeben, was wir hier sehen entspricht keinem Verhalten dieser Leute, das wir bisher hätten beobachten können, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir praktisch nichts über sie wissen.“ „Es ist mehr als das“, hielt sie ihm entgegen. „Sie haben bisher keinerlei Interesse an den Konflikten anderer Völker gezeigt und bei keiner Gelegenheit versucht Welten dauerhaft zu besetzen. Aber hier verhalten sie sich nicht wie eine Gruppe Späher, Räuber, Aufklärer, wie immer auch man es nennen will, sondern wie Eroberer. Außerdem“ – sie nickte Pradesh zu – „haben sie etwas sehr richtiges gesagt: Bei Elysium haben wir viel gelernt. Vor allem haben wir einen Vorgeschmack auf die Ressourcen bekommen, die diese Leute mobilisieren können. Die Antwort liegt im Detail...“ Sie vergrößerte einen Ausschnitt, der einige Infanteristen zeigte und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Abzeichen, die die schwarzen Uniformen zierten. Mehrere der Soldaten trugen dasselbe Zeichen, doch selbst auf diesem kleinen Ausschnitt waren schon vier verschiedene zu erkennen. „Vor ihrem Exodus regierte Nyx über vierundvierzig Welten. Von jeder einzelnen sollen Menschen und Jaffa sie begleitet haben.“ Sie deutete auf eines der Zeichen. „Nyktelos...“ Ihre Hand wanderte weiter. „Phanes... Megara... Diese Zeichen sind Torsymbole ihrer alten Welten. Welten nach deren Bild ihre Anhänger später die großen Trägerschiffe bauten. Bisher haben wir bei jeder Begegnung nur Soldaten eines einzelnen Schiffes getroffen. Aber hier sind es nicht weniger als fünf.“ „Bist du dir sicher?“, wollte Dohna wissen. „Wir haben keine Daten über die Größe ihrer Flotten und die Zahl der Trägerschiffe.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hab mir von einem Tok'Ra sagen lassen, dass die vollständigsten Schriften über die alte Geschichte der Goa'uld aus den Federn der Hofschreiber von Lord Aton stammen. Eigentlich wollte ich mehr über Dumuzi herausfinden, aber es gab auch ein Kapitel über Nyx. Alle drei, die wir bis jetzt zu Gesicht bekommen haben, konnte ich zuordnen.“

    „Losgelöst davon“, schaltete Negabatow sich ein weiteres Mal ein, „ist das hier eine totale Abkehr von ihren bisherigen Paradigmen. Sie treten, gemessen an der Größe der Schlacht, in viel kleinerer Zahl auf als sonst, setzen leichte Fahrzeuge als Panzerspitze ein, haben keine Luftunterstützung und haben sich mit örtlichen Kräften verbündet.“ Er richtete sich gerade auf, stützte die Ellenbogen auf die Konsole und fuhr fort: „Wären wirklich fünf Trägerschiffe an dieser Operation beteiligt, hätten sie die Koreaner beiseite gewischt, wie eine lästige Fliege. Wenn diese Leute aber von nur einem Schiff aus operieren, haben wir es entweder mit einer Splittergruppe zu tun, oder die strategische Lage hat sich von Grund auf verändert, ohne dass wir wüssten wie. In jedem Fall ist Vorsicht angemahnt.“

    „Es müssen weniger sein“, behauptete Dohna. „Die Koreaner werden kaum untätig zugesehen haben, wie ihre Gegner genug Streitkräfte landen, um ihr Expeditionskorps zu überrennen. Trotzdem war die Schlacht im Orbit erst mehrere Stunden nach der Landung vorbei. Selbst wir hätten die koreanische Blockade in einem Bruchteil dieser Zeit zerlegt. Und dabei haben wir ihnen bei Elysium kaum Paroli bieten können.“ Siska gestattete sich ein Grinsen. „Dann bleibt uns wohl nur eine Möglichkeit: Hinfliegen und selbst herausfinden was passiert ist.“

    Andernorts in der Galaxie:

    Majestätisch, wie ein nach Ewigkeiten aus dem Exil zurückgekehrter Herrscher zog ein Schlachtkreuzer der Aurastator-Klasse seine Bahnen im hohen Orbit über einem Planeten, den seine Erbauer dereinst Hortus chryseanus genannt hatten. Einen Garten, der seine Bewohner mit allem beschenkte, was sie zum Leben brauchten – ein Ort in dem die Bäume goldene Äpfel trugen, wie eine Redensart sagte. Nahezu versonnen betrachtete Legat Ianus Malefactor Octavus jene tiefgrüne Welt, die zu seinen Füßen lag. Er stand auf dem Aussichtsdeck des Kreuzers, unter sich ein großes Panoramafenster und sinnierte über die Erfüllung dessen, was er für sein Schicksal hielt. Lächerliche vierzig Jahre war es hier, dass Milio Callidus ihn durch seinen Verrat gezwungen hatte die Abzeichen eines Legaten zu akzeptieren und schier unendliche Lücke zu füllen, die der Verräter hinterlassen hatte. Damals war es eine Schmach gewesen, dass gerade er, der er durch seinen Namen für die Feigheit eines Vorfahren stigmatisiert war, jene Position hatte ausfüllen sollen, in die die das Volk nach Jahrhunderten des Rückzugskrieges und des Verrates des Einzigen, der es in all dieser Zeit geschafft hatte wieder einen Funken der Hoffnung aufkeimen zu lassen, alles Vertrauen verloren hatte, und einen Mann hatte ersetzen sollen, zu dem er aufgesehen hatte, der sein verdammtes Idol gewesen war. Damals war ihm seine Berufung durch den Rat wie der Versuch vorgekommen jemanden zu finden, der die Schande tragen konnte. Doch jetzt stand er als erster Legat seit Jahrtausenden wieder über den Welten ihrer Ahnen, beanspruchte sie aufs Neue. Während er hier in Bewunderung seltener Schönheit verharrte, trieben seine Männer auf dem Boden die Menschen zusammen, die geglaubt hatten Herren dieser Welt zu sein. Statt sich ins Unausweichliche zu ergeben hatten sie sich widersetzt, wie es ihrer animalischen Natur entsprach und bei allen Mächten dieses Universums, diese Affen hatten gekämpft. Sie hatten einige größere Ansiedlungen durch orbitalen Beschuss austilgen müssen und in einem eine Woche dauernden Kampf Widerstandsgruppen ausmerzen müssen, doch wenn das der Preis für diese Welt war, dann sollte es eben so sein. Er würde sein Volk den Platz im Licht der Sterne wiedergeben, der ihm rechtens zustand. Es war seine Bestimmung...

    Das Geräusch von Schritten, das an sein Ohr drang, riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah sich um und sein Blick fiel auf einen Soldaten, der mit eiligen Schritten auf ihn zu kam. In seinen Zügen war Begeisterung zu lesen, die er mühsam unterdrücken musste, um nicht dümmlich zu grinsen. Er trat auf einen Meter an ihn heran, nahm zackig Haltung an und sagte: „Legat, wir haben Meldung von Dekurion Septimus erhalten. Das Weltenschiff, das der elften Kampfgruppe entkommen konnte, wurde in der Nähe der Erde gesichtet.“ Schlagartig richtete er seinen Blick, der schon wieder in Richtung der Fenster abgeschweift war, auf den Soldaten und fragte: „Wie?“ „In Nachrichtenübertragungen der Erdenmenschen sind Hinweise auf das Schiff aufgetaucht. Es muss sich in der Nähe einer Welt befinden, die sie Kyoto nennen.“ „Details?“ „Sie scheinen sich mit einer örtlichen Menschengruppe verbündet und in einen Konflikt der Erdenmenschen eingegriffen zu haben, um die Kontrolle über die Kolonie zu erlangen. Die Meldung ist keine 48 Stunden alt.“ „Glauben sie, sie versuchen Verbündete für einen Gegenschlag zu gewinnen?“, fragte einer der Anwesenden Offiziere, ein junger Mann, der in der Schlacht von Mons42-a den Verräter getötet hatte und so zum Helden des Volkes avanciert war, den er zur Belohnung in seinen Stab geholt hatte. Der Legat warf ihm einen Blick zu und meinte: „Nein. Wir wissen, dass die elfte zumindest einen Streifschuss hat anbringen können, bevor das Schiff verschwunden ist. Es wird schwer beschädigt sein. Das ganze schreit nur so nach einer Verzweiflungstat.“

    Für einen Sekundenbruchteil glaubte er etwas in den Augen des Offiziers aufblitzen zu sehen, was ihm einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte. „Der irdische Raum ist nur ein paar tausend Lichtjahre entfernt“, meinte dieser. „Erledigen wir die Bastarde.“ Der Legat spürte widersprüchliche Emotionen in sich aufsteigen. Einerseits flammten Kampfeslust und das Verlagen loszustürmen, die seinen Verstand zu umnebeln drohten, andererseits fühlte er sich eben aufgrund dieser Empfindung alarmiert. Er atmete ein Paar mal tief durch und knetete dabei die hinter dem Rücken gefalteten Hände, während die beiden Männer ihn ansahen. Der eine Erwartungsvoll, der andere einfach nur abwartend. Schließlich kam ihm ein „Nein“ über die Lippen, das härter errungen war, als sein Stolz bereit war zuzugeben. „Solange die meisten Einheiten noch durch die Jagd nach versprengten Feinden im Halo gebunden sind werde ich keine Konfrontation mit den Erdenmenschen riskieren. Die Aschen werden sich dieses Problems für uns annehmen.“

    Zur gleichen Zeit unweit von Kyoto:

    In den Tiefen seines Bewusstseins schienen die alten Gesänge und Gebete noch einmal wiederzuklingen, wie um die Stille des Raumes zu übertönen. Atreos, ehemaliger Forscher, Sucher, Jäger uralter Geheimnisse im Auftrag einer Herrin, die es verstanden hatte für ihr Volk eine Göttin zu sein, ohne diesen Titel noch zu beanspruchen, lag vor einem erschlagenen Altar auf dem Boden und murmelte mit geschlossenen Augen Psalmen, die ihm ihn einer unendlich entfernt scheinenden Vergangenheit in die Wiege gelegt worden waren. Doch anders als früher spürte er keine Schwingungen oder Geräusche im Boden, die knapp unterhalb der Schwelle bewussten Hörens von Triebwerken, Maschinen oder Generatoren durch das ganze Schiff geschickt wurden. Das Weltenschiff Nyktelos war tot. Tot wie dieser Tempel. Er öffnete die Augen und glaubte wieder die Prioris neben sich stehen zu sehen. Drei Wochen war es her, dass sie vor ihm gestanden hatte, die Hände derart zu Fäusten verkrampft, dass ihre Fingernägel in die Handballen geschnitten hatten und das Gesicht mit einer diffusen Mischung aus Trauer und Verzweiflung erfüllt, nachdem er mit fünf Soldaten in den Tempel gekommen war. Die Priesterin musste gewusst haben, das etwas im Argen lag, als sie auf diese Weise zu ihr gekommen waren. Aber spätestens nachdem er sein Anliegen geäußert hatte, wäre sie beinahe zusammengebrochen.

    „Das könnt ihr nicht verlangen“, hatte sie ihn wütend angeherrscht. „Ich muss“, war seine Antwort gewesen. „Ihr wisst, dass dieses Schiff den Orbit dieses Sterns nicht mehr aus eigener Kraft verlassen kann. Und von denen, die uns helfen können, können wir nicht erwarten es für Gotteslohn zu tun.“ „Es geht hier um viele Leben.“ „Deswegen helfen sie uns ja auch, anstatt sich heraus zu halten. Aber ihnen nichts zu geben würde bedeuten ihre Existenz zu gefährden. Ich werde nicht gehen.“ „Es gibt auch andere Dinge von Wert an Bord“, erwiderte sie. Ihre Stimme zitterte. „Ja. Und es liegt noch viel vor uns. Irgendwann würde ich wieder hier stehen. Also: Ich werde nicht gehen.“ Für einen Moment schien sie noch mit sich zu kämpfen. Dann nickte sie. Er rief einige Arbeiter herein. Sie trugen Hämmer, Stemmeisen und Plasmabrenner. Er gab ihnen einen Wink in Richtung des Altars. Als sie vortraten, stellte die Priesterin sich ihnen in den Weg. Sie hob die Hand und sagte: „Wartet.“ Sie ging zu einem der Arbeiter, nahm ihm den Hammer aus der Hand und ging zum Altar. Sie schwang ihn und stieß einen Schrei aus. Dann zerschmetterte sie mit einer Kraft, die man ihr niemals zugetraut hätte, die große Statue, die darauf stand. Immer und immer wieder schlug sie darauf ein. Dann ließ sie den Hammer fallen, wandte sich von den Männern ab und stürzte mit hastigen Schritten aus dem Raum. Die Arbeiter gingen los, sammelten die Bruchstücke auf und brachen die silbernen Bildtafeln von den Wänden. Das Silber hatte ihnen geholfen die Freihändler zu bezahlen, die das Schiff in die Sicherheit des Asteroidenfelds geschleppt hatten. Einige Tage später hatte man die Prioris tot aufgefunden. Sie hatte Gift genommen.

    Er beendete sein Gebet, stand auf und verneigte sich noch einmal vor dem Altar. Es war kaum zwei Tage her, dass sie gemeinsam mit den Reetou und ihren irdischen Verbündeten die Welt Kyoto befreit hatten und es waren nicht mehr viele Menschen an Bord. Sie hatten die meisten Überlebenden bereits evakuiert. Vor allem Techniker waren zurück geblieben, um jedes noch verwertbare Stück Technologie auszubauen. Bald würden auch sie gehen. Dann wäre das Schiff endgültig nicht mehr, als eine leblose Hülle, die zwischen den Sternen trieb. Ihre Zukunft lag nun an einem anderen Ort.

    Tags darauf:

    Johann Sebastian Bachs zweites brandenburgisches Konzert in F-Dur erfüllte die Luft im Cockpit des Fennek-Aufklärungsschiffs. Das Spiel von Geigern und Trompetern in den Melodien des ersten Satzes, voller Leidenschaft als wollten sie die Virtuosität des Komponisten bejubeln, setzte sich in einem schnellen Allegro fort, das beinahe über die dumpfe Akustik des engen Raumes hinweggetäuscht hätte, die dem Werk letztlich in keiner Weise angemessen war. Während vor den Fenstern noch das blaue Wirbeln des Hyperraumes das Sichtfeld ausfüllte, hatte der Pilot sich mit geschlossenen Augen in seinem Sitz zurückgelehnt und dirigierte ein unsichtbares Orchester zu den Klängen der Musik. Sein Copilot warf immer wieder mürrische Blicke zu ihm hinüber. Nach ein paar Minuten murmelte er dem Sensorsystemoffizier ein paar Worte auf Italienisch zu, die weit weniger Schmeichelhaft waren, als sein Tonfall es vermuten ließ. Ein Augenlid des Piloten hob sich um Haaresbreite und er sah den Copiloten aus dem Augenwinkel an. „Ich verstehe jedes Wort, Fähnrich Iachino.“ Der Copilot seufzte und zog es vor zu schweigen. Der SSO allerdings fragte: „Seit wann sprechen sie Italienisch, Leutnant?“ Er schmunzelte. „Sprechen würde ich es nicht nennen. Aber ich verstehe das meiste. Muss ich. Schließlich sitze ich mit schöner Regelmäßigkeit mit zwei Sizilianern im selben Schiff. Kaum passt man da einen Moment nicht auf – Zack! - hat man rohe Spaghetti zwischen zwischen den Rippen.“

    Der SSO lachte, während der Copilot etwas in seinen nicht vorhandenen Bart nuschelte und dann fragte: „Warum müssen wir uns diesen Mist anhören, Leutnant?“ „Weil ich es will und ein despotischer Drecksack bin. Finden sie sich damit ab.“ Er schloss die Augen wieder, konnte die Musik jedoch nicht länger genießen. Nur wenige Sekunden später gab einer der Computer ein lautes Warnsignal von sich und auf dem Navigationsmonitor flackerte ein Countdown für den Rücksturz in den Normalraum auf. Ohne nachsehen zu müssen streckte der Pilot seinen Arm zu den Schaltern über sich aus und deaktivierte den Autopiloten. Dann schaltete er seine Musik aus, setzte sich gerade hin und setzte sich, ebenso wie seine Crewmitglieder, seine Atemmaske auf. Fenneks, nicht zu verwechseln mit ihren Namensvettern aus dem Tierreich oder dem Fuhrpark der Bodentruppen, waren schnelle Kurz- und Mittelstreckenaufklärer, gut vierzig Meter lange Schiffe, die aus einem kleinen Crewbereich aus Cockpit, drei engen Schlafnischen und einer Sanitärzelle, in der Lokus und Nasszelle auf 1x1x2m kombiniert waren, bestanden. Der Rest des Schiffes war in erster Linie mit Triebwerken und Sensoren vollgestopft. Sie waren Späher, die vor großen Flottenverbänden als Kundschafter zum Einsatz kamen und die Besatzungen – Pilot, Copilot, SSO, WSO und zwei Schützen zur Bedienung in schwenkbaren Türmen angebrachter Railguns – bestanden aus erfahrenen Veteranen. Aus gutem Grund: Grünschnäbel würden einander nach vier Tagen auf so engem Raum zusammen wahrscheinlich die Köpfe einschlagen.

    Schiffe dieses Typs hatten neben ihrer enormen Sensorleistung vor allem eine herausragende Eigenschaft: Ihr Beschleunigungspotential war enorm, so dass die Atemmasken nicht nur im Falle eines Lecks Schutz bieten sollten, sondern auch bei hoher Beschleunigung gegen die enormen Andruckkräfte Luft in die Lungen der Besatzung drücken können mussten. Der Pilot rückte seine Maske noch einmal zurecht, dann stürzte das Schiff zurück in den Normalraum. „Erfolgreicher Wiedereintritt“, sagte er, „passive Scans starten.“ Ein Blick auf die Anzeigen verriet ihm, dass die beiden J305, die ihnen Geleit geben sollten, in einigen hundert Metern Entfernung wieder aufgetaucht waren. „Geleit auf 450 m, 226,38 zu 226,38 zu 316,22. Formation einnehmen.“ Der Copilot befahl mittels an der Hülle angebrachter Signalscheinwerfer die Jäger in Flankenposition. Währenddessen fuhr der Pilot die Sublichtantriebe auf leichte Beschleunigung hoch und lenkte die Maschine auf den Planeten zu.

    „Passive Scanns zeigen sechs Schiffe unbekannter Bauart und zahlreiche Trümmer im Orbit“, meldete der SSO nach kurzer Zeit. „Keine Spur eines Trägerschiffes. Analyse läuft.“ Auf dem großen Monitor vor ihm wurden in schneller Folge die Umrisse Dutzender bekannter Raumschiffe angezeigt, während das System versuchte alle klar erfassten Trümmer mit den Hüllen dieser Typen in Deckung zu bringen. Schnell war klar, dass die meisten der Trümmer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Raumschiffen chinesischer und koreanischer Bauart gehörten, wie sie in der Schlacht auf beiden Seiten zum Einsatz gekommen waren. Dann sagte er schließlich: „Da. Da ist es.“ „Was haben wir?“ „Trümmer eines Angriffsschiffes, Indexname AV-U52 „Dancer“. Vom Feind bisher in fast jeder Konfrontation eingesetzt. Bisher die einzige Spur.“ „Genug um das Risiko einzugehen. Ich bringe uns näher ran. Bringen sie das ganze Spielzeug zum Einsatz, sobald wir in Reichweite sind.“ Gemessen an den gewaltigen Entfernungen im Weltall quälend langsam tasteten sie sich näher an den Planeten heran. Die Triebwerke liefen im Modus Grau, also mit niedriger Energie, um eine Entdeckung so lang wie möglich zu vermeiden. Erst als sie auf 100000 Kilometer an das Ziel heran waren, drückte der Copilot den Schubhebel nach vorne und der Pilot steuerte die Maschine zwischen die Trümmer. Im gleichen Moment aktivierte der SSO jeden aktiven Sensor an Bord und tastete sowohl das Trümmerfeld, als auch die noch existenten Schiffe und die im Erfassungsbereich befindliche Hemisphäre des Planeten ab. „Keine Zeichen von aktiven Feindschiffen“, meldete er, während gewaltige Datenmengen auf seine Computer einströmten. „Aber ich habe eine seltsame Energiespitze auf der Oberfläche. Sieht wie die Transporttechnologie aus mit der sie ihre Schiffe und Truppen versetz...“ „Raumjäger im Anflug!“, unterbrach der Copilot ihn mit lautstarker Stimme. „Wir haben genug Daten. Rücksprung zur Flotte vorbereiten!“

    Einige Stunden später in der Gefechtszentrale der 'Agincourt':

    Ein Abbild Kyotos und der zahllosen Trümmer, die jene Welt umkreisten, schwebte in der Runde der Admirale im Raum. Seit fast einer halben Stunde betrachtete Negabatow das Hologramm schweigend. Nicht die geringste Regung hatte er gezeigt, nachdem er die Daten bekommen hatte. Nur seine rechte Hand zuckte die ganze Zeit hin und her, als würde er die Figuren eines imaginären Schachspiels verschieben und dutzende verschiedene Varianten der Schlacht durchdenken. Siska ließ indes Dohna und Pradesh an ihren Gedanken teilhaben. Die drei hatten die Köpfe zusammengesteckt und sie raunte den beiden Männern leise Worte zu, die sie mit Fingerzeigen auf das Hologramm untermalte: „Die meisten Wracks gehören zu Schiffen irdischer Bauart. Wir konnten nur fünf eindeutig Nyx zuordnen.“ „Zu wenig für eine wirkliche Offensive“, murmelte Pradesh. Dohna nickte. „Es gibt noch eine Möglichkeit, die wir bisher gar nicht in Betracht gezogen haben: Möglicherweise war gar kein Träger anwesend. Entweder haben wir es wirklich mit einer kleinen Splittergruppe zu tun, oder sie haben die Japaner nur gebraucht, um einen stationären Transporter in Position zu bringen.“ Er schlug mit den Fingern gegen die Blätter des gedruckten Berichts, den er in Händen hielt. Sie hingegen runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Die Lösung wäre mir zu einfach. Außerdem: Egal wie brutal die Koreaner waren, die Japaner hätten sie nicht einfach gegen einen neuen Besatzer eingetauscht. Technologie nach Kyoto zu bringen, die ganze Armeen binnen weniger Augenblicke versetzen kann, ohne jede Sicherheit zu haben... Ich würde ein solches Risiko nicht eingehen.“

    „Sie haben die 'Yamato' benutzt“, unterbrach Negabatow auf einmal ihr Gespräch und ihre Gedankengänge. Die drei drehten sich zu ihm um. Ohne eine Nachfrage abzuwarten erklärte er: „Die Strukturen an der Unterseite des Wracks sind in den originalen Schemata der Schiffsklasse nicht verzeichnet und zwischen beiden Pylonen wäre genug Platz, um eines dieser Angriffsschiffe zu materialisieren. Außerdem muss sie der perfekte Köder gewesen sein.“ Siska und Pradesh konzentrierten sich noch einmal auf das Hologramm. Dohna blätterte derweil den Bericht durch und suchte eine Aufstellung der gescannten Wracks heraus. „Wenn die Annahmen der Aufklärung korrekt sind, muss die Überlegenheit der Koreaner massiv gewesen sein. Wenn die Angreifer nicht wesentlich mehr Schiffe hatten, als wir hier sehen...“ „...dann müssen sie die Koreaner zuerst dazu gebracht haben ihre Flotte in kleinere Grüppchen aufzuteilen, mit denen sie es aufnehmen konnten“, führte Negabatow den Gedanken zu Ende. „Und die 'Yamato' wäre dazu definitiv in der Lage gewesen.“

    Siska trat an den Projektor und griff nach Handschuh und Fernbedienung. „Glaubt man den Daten des Sensornetzwerks der Tok'Ra haben ihre Kreuzer bisher bei allen Begegnungen nur Verstärkungen von Verbänden oder Stützpunkten im Umkreis einiger hundert Lichtjahre gerufen. Die 'Yamato' hatte ungefähr die gleiche Größe und sehr viel geringere Energiereserven.“ Sie schob die Hologramme der Aufklärung beiseite und rief eine Sternenkarte des wilden Raumes auf. „Nehmen wir als Arbeitshypothese an, dass sie in der Nähe eine Basis haben müssen. Hier“, sagte sie mit einem Fingerzeig auf einen Punkt der Projektion, „ist unser Ziel: Kyoto. Nur einen Katzensprung von Mura entfernt. Dort haben die Tok'Ra vor kurzem einen Horchposten ihres Sensornetzes installiert, der ungefähr 25 Lichtjahre abdeckt, aber keine gegnerischen Schiffsbewegungen aufgezeichnet hat. Durch einige weitere der umliegenden Systeme verlaufen Schifffahrtsrouten. Auch hier keine Meldungen über die Sichtung unidentifizierter Schiffe oder das Verschwinden von Frachtern.“ Sie markierte den groben Verlauf der Flugrouten, hob nicht abgedeckte Systeme hervor und trat einen Schritt zurück. „Knapp dreißig Sonnensysteme im Umkreis von hundert Lichtjahren.“ Sie sah zu Negabatow. „Konteradmiral, nehmen sie die 'Machiavelli', ein Fregattengeschwader und unsere Aufklärer und arbeiten sie das alles ab. Ich werde mit der 'Agincourt', der 'Kursk' und einigen Geleitschiffen direkt ins Kyoto-System springen. Vielleicht scheuchen wir so jemanden auf. Alarmieren sie die Flotte sobald sie etwas haben und warten sie auf Verstärkung.“ Der Russe nickte mit ernstem Blick. Sie drehte sich weiter zu Dohna und Pradesh. „Albrecht, du übernimmst das Gros der Flotte und gehst im Nachbarsystem im Stellung. Ich hoffe es gibt keine Probleme. Falls doch hast du deinen großen Auftritt. Und sie, Admiral übernehmen die Rückendeckung für Konteradmiral Negabatow.“ Die drei Männer nickten und Pradesh sagte: „Gehen wir es an.“
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  23. Danke sagten:


  24. #38
    Autor der ungelesenen FF Avatar von Protheus
    Registriert seit
    29.01.2009
    Ort
    Schleswig Holstein, meerumschlungen!
    Beiträge
    202

    Standard

    Der Flug nach Kyoto sollte noch einige Stunden dauern, in denen Siska versuchte den Kopf frei zu bekommen. Sie ging in einen der Trainingsräume und malträtierte einen der dort hängenden Boxsäcke bis zur Erschöpfung. Danach zog sie sich in ihr Quartier zurück und schlief etwas. Nachdem sie wieder aufgewacht war, sich kurz gewaschen und eine frische Uniform angezogen hatte, hatte sie sich wieder auf ihr Bett gefläzt und die Decke angestarrt. Offiziere bewohnten auf europäischen Schiffen die gleichen Quartiere, wie einfache Mannschaftsgrade, mussten sie aber vom Leutnant aufwärts nicht mehr teilen. Als die intensive Betrachtung feiner Linien und Unregelmäßigkeiten in den Platten der Deckenverkleidung schließlich die Faszination einbüßte, die ihr für eine Weile inne gewohnt hatte – was freilich nicht allzu lang dauerte – schob sie einen Vorhang beiseite, der eine Nische neben dem Bett verdeckte, in der sie allen möglichen persönlichen Krimskrams verstaut hatte, der sich über die Jahre angesammelt hatte. Der Stoff verbarg auf diskrete Weise, dass sie unter der Oberfläche, die sich anzueignen sie mit den Jahren gezwungen gewesen war, kein Sinnbild militärischer Ordnung war. Während ihrer Ausbildungszeit hatte einer ihrer Offiziere, dem gegenüber sie sich in dieser Hinsicht erfolgreich beratungsresistent gegeben hatte, bei Stubeninspektionen mehr als einmal einen Schreikrampf bekommen. Mittlerweile gehörte es zu ihrer Freude zu den Vorzügen ihres Ranges, dass niemand mehr versuchte sie für solche Dinge zu maßregeln. Sie nahm die Klarinette, die auf zwei Haken in der Nische lag, lehnte sich wieder auf der Matratze zurück und begann ein paar Bluesharmonien zu spielen. Sie improvisierte, mischte aber immer wieder Themen aus Songs von Künstlern wie James Brown, John Lee Hooker, Benny Goodman, oder Kurt Weil ein.

    Sie dachte weder darüber nach was sie spielte, spürte die Musik mehr als dass sie sie hörte. Sie wusste, dass die meisten ihrer Generation nichts mit dieser Musik anzufangen wussten, doch für sie waren die von der ersten bis zur letzten Note durchdachten Popsongs, mit denen ihre Altersgenossen aufgewachsen waren, nie mehr als Garanten einer brutalen Langeweile gewesen, die sie zu Jazz, Blues, Swing und all ihren Spielarten getrieben hatte, eine Begeisterung die sie gepackt hatte, als sie das erste Mal einen der Musikfilme von Cab Calloway gesehen hatte. Es war eine grausame Strafe des Schicksals gewesen, dass sie erst einige Jahre nach Ende seiner Karriere geboren worden war, zumal sie keinen anderen Kerl kannte, der es selbst im hohen Alter, mit krummem Rücken und Altersflecken im Gesicht geschafft hatte ein Sexsymbol zu bleiben. Sie liebte diese Musik, die Improvisation, das Wilde und Planlose. Selbst im Ragtime verzichtete ein guter Musiker nicht auf Improvisation und selbst wenn ein Sänger ein grundlegendes Thema vorgab, konnte jeder Musiker es variieren, wie ihm der Sinn stand. In vielerlei Hinsicht war diese Musik wie der Krieg. Denn genau wie kein Schlachtplan, wie Moltke dereinst festgestellt hatte, keine Begegnung mit dem Feind überlebte, überstand keine noch so sorgfältig einstudierte Melodie den Griff zum Instrument. Für sie war es eine Methode den Geist völlig von allen Fesseln zu befreien und sich von Gefühlen und unbewussten Gedanken leiten zu lassen. Es hatte ein wenig von Meditation.

    An eine vielleicht bevorstehende Schlacht zu denken wäre sinnlos gewesen, hatten sie doch keine Ahnung mit was für einer Situation sie konfrontiert werden würden. Ohne dass sie die Zeit im Auge behalten hätte, kam schließlich eine Durchsage des Navigationsoffiziers: „Verlassen der Überlichtgeschwindigkeit in T minus zehn Minuten. Alle Stationen Bereitschaft herstellen.“ Sie seufzte leise, legte die Klarinette beiseite und machte sich auf dem Weg zur Brücke. Als sie dort ankam, war Kapitän Jagoda gerade damit beschäftigt Meldungen aller Stationen entgegen zu nehmen. Sie trat an eine Arbeitsstation neben ihm und ließ sich den Status des Schiffes anzeigen. Alles war in Ordnung, doch sie hatte auch nichts anderes erwartet. Die Erfahrungen eines guten Dutzends Kriegseinsätze und mehrerer Schlachten hatten die Besatzung zu einer über jeden Drill hinweg gut funktionierenden Einheit geformt.

    Als Jagoda fertig schien, sah sie zu ihm hinüber und schmunzelte ein wenig. „Es hat was von Deja vù, nicht wahr?“ „Was?“ „Das wir schon wieder hierher kommen.“ „Sie klingen nicht begeistert.“ Sie nickte. „Sie kennen doch den Spruch mit dem ersten Eindruck, oder? Bei unserem ersten Besuch hier hätten ein paar Terroristen uns beinahe abgefackelt und haben die Konfliktparteien eine goldene Regel zivilisierter Konflikte ignoriert, indem sie eine diplomatische Vertretung in Schutt gelegt und die Überlebenden massakriert haben.“ Er schnaubte amüsiert. „Zugegeben kein guter Einstand.“ Ihr Schmunzeln wurde etwas breiter. Sie wandte sich von der Konsole ab und setzte sich auf ihren Platz. „Hoffen wir, dass es dieses Mal besser wird.“

    „Zwei Minuten bis zum Rücksturz“, rief der Navigationsoffizier über das Stimmengewirr der Brücke hinweg. Bei sechzig Sekunden begann er mit seinem Countdown. „Drei, zwei, eins...“ Ein sanfter Ruck ging durch das Schiff und das blaue Licht des Hyperraumes wich vor den Fenstern der von funkelnden Sternen erfüllten Schwärze des Alls. „'Kursk' und Geleitschiffe hundert Kilometer achteraus.“ „Gut“, antwortete Siska, „Formation einnehmen und Kurs auf Kyoto setzen. 2000 Kilometer außerhalb der Demarkationlinie in einen Orbit einschwenken.“ Sie beobachtete auf der großen Navigationsanzeige, wie die Schiffe in ihre Positionen innerhalb einer Standart-Marschformation, behielt aber auch im Augenwinkel das taktische Hologramm, im Grunde eine kleinere Fassung jener Maschine in der Gefechtszentrale, im Auge. Mit Daten der Zielerfassungssensoren gespeist zeigte es einige Schiffe, die den Planeten in einem hohen Orbit mit respektvollem Sicherheitsabstand zu den Trümmern der Schlacht umkreisten. Nur wenige Minuten später signalisierte der Unteroffizier der Kommunikation mit einer Geste eine eingehende Nachricht. Siska setzte sich ihr Headset auf und bedeutete Jagoda dasselbe zu tun. Dann sagte sie: „Lassen sie hören.“ Der Unteroffizier tippte kurz auf die Tastatur seiner Konsole ein. Ein seltsames Zirpen, beinahe wie statische Signale, die man mit Funkgeräten bei Frequenzdurchläufen auffing, drang aus den Kopfhörern. Jagoda runzelte die Stirn und setzte dazu an etwas zu sagen. Dann mischten sich aber auf einmal Klicklaute in die Untertöne und er verstand, dass sie die Sprache einer Spezies hörten, die unfähig war menschliche Laute zu erzeugen.

    Die Meldung war kurz und klang aggressiv, legte man die Maßstäbe menschlicher Intuition an. Dann lösten die Schiffe sich aus dem Orbit und setzten einen Abfangkurs auf das menschliche Geschwader. Alarmiert erhob Siska sich und befahl: „Ich brauche sofort einen detaillierten Scann dieser Schiffe.“ Die Frage ob die Computer die Sprache erkannten erübrigte sich. Wäre dem so gewesen, hätte das System die Meldung mit kalter, mechanischer Stimme wiedergegeben. Software, die zu einer Interpretation von Tonfall und Wortmelodie in der Lage war, war ebenso kostspielig wie nutzlos und Spielzeug für alle, die ihre eigene Bedeutung maßlos überschätzten. Diplomaten oder Geschäftsleute, für die es wirklich von Bedeutung war solche Dinge zu wissen, bekamen lebendige Dolmetscher zur Seite gestellt.

    Nach einigen Augenblicken tauchten neben den Symbolen, die auf dem taktischen Hologramm die fremden Schiffe darstellten, die Sensordaten auf. Sie kannte den Schiffstyp nicht, doch die massive Konzentration von Energie in einigen länglichen Strukturen, die aus den diskusförmigen Rümpfen heraus ragten, ließ keinen Zweifel, dass sie ihre Waffen aktiviert hatten. Sie seufzte und murmelte leise: „Was für ein Planet...“ Sie schüttelte den Kopf und befahl, dieses mal mit lauter, fester Stimme: „Schilde hoch und Kampfflieger starten.“ Die beiden Geschwader näherten sich einander schnell. Dann wurden die Fremden vom Planeten aus angefunkt. Kurz bevor sie in Schussweite des jeweils anderen kamen – theoretisch hätten sie schon aus einer Entfernung von mehreren Lichtsekunden das Feuer aufeinander eröffnen können, doch faktisch suchten erfahrene Kommandeure stets eine Distanz von nur wenigen hundert Kilometern, um eine saubere Zielerfassung zu gewährleisten – deaktivierten sie schließlich ihre Waffen. Die Kampfflieger beider Seiten jagten aneinander vorbei, ohne dass ein Schuss abgegeben wurde. Kaum merklich atmete Siska auf. Ein grundloser Schusswechsel wäre kaum ein guter Einstand gewesen. Die Fremden drosselten ihre Maschinen und nahmen wieder Kurs auf den Planeten, von dem in diesem Moment mehrere Kampfflieger japanischer Bauart aufstiegen. Während die Japaner sich zwischen beiden Geschwadern platzierten, wurden auch die Europäer vom Planeten aus angefunkt.

    „...ropäische Flotte, hier Raumüberwachung Kyoto. Bitte kommen. Ich wiederhole: Hier Raumüberwachung Kyoto...“ „Kyoto, hier spricht Admiral Siska an Bord der 'Agincourt'. Ich höre sie.“ „Einen Moment, Admiral, ich stelle sie zu Premier Shima durch.“ Unfähig ihre Überraschung zu verbergen riss sie die Augen weit auf. Für einige Sekunden war statisches Rauschen zu hören, dann drang eine Männerstimme an Siskas Ohr. „Seien sie mir gegrüßt, Admiral. Ich hatte nicht erwartet sie so bald zu sehen.“ Sie schmunzelte. Viel hatte dafür gesprochen, dass alte Offiziere und politische Führer die Köpfe hinterm Widerstand waren. Ein dreckiger Haufen Bauern und Flüchtlinge, die nie eine Waffe in der Hand gehabt hatten, wären weder fähig gewesen die Koreaner bei der ersten Besetzung zu vertreiben, noch die jüngste Offensive zu organisieren. Doch niemals hätte sie erwartet, dass ein Mann wieder auftauchen würde, der seit der Invasion von Hokkaido als tot galt Haimachoro Shima . Er hatte nie als überragender Staatsmann gegolten, war den Ruf der Entscheidungsschwäche und Beliebigkeit bis Kriegsausbruch nie los geworden. Als die Volksarmee mit der Gewalt eines Taifuns über Honshu hinweggefegt war und kurz vor Tokyo und Osaka stand, hatte er sich mit kraftvollen Durchhalteparolen an sein Volk gewandt und das letzte Aufgebot auf Hokkaido mit organisiert. Es waren diese wenigen Wochen 2022 gewesen, die schließlich Jahre politischer Hilflosigkeit vergessen gemacht und seinen Namen in eine Reihe mit Winston Churchill und Franklin Delano Roosevelt gestellt hatten. „Da geht es mir nicht anders, Premier Shima. Ich bin froh, dass sie mir eine Konfrontation erspart haben.“ „Ich ebenfalls. Ich bitte sie das Verhalten unserer Alliierten zu entschuldigen. Die Reetou neigen zu großem Misstrauen gegenüber allen Unbekannten.“ - Ein Eindruck, der sich in der Tat aufdrängte - „Dürfte ich erfahren was sie hierher führt, Admiral? Ihre Schiffe erwecken nicht den Anschein eines Höflichkeitsbesuchs.“ „Wir sind hier, um die Sicherheit des Planeten Mura und der Erde zu gewährleisten.“ „Ich kann ihnen versichern, dass von uns keinerlei Gefahr ausgeht.“ „Sie sind auch nicht Grund für die Sorge meiner Vorgesetzten, sondern ein Feind, der in den letzten zwei Jahren mehrere unserer Kolonien und Verbündeten angegriffen hat. Ich denke sie wissen wovon ich spreche.“ Er schwieg für einen Augenblick. Dann gab er zu: „Ja.“ „Dann wissen sie, dass wir nicht einfach abziehen können, ohne Klarheit zu haben. Selbst wenn das bedeutet, dass wir sie erzwingen müssen.“ Es folgte ein Moment des Schweigens, bis ihr Gesprächspartner sagte: „Das wird nicht nötig sein. Geben sie mir einen Moment die Sache zu klären.“ Die Verbindung wurde getrennt. Sie fuhr auf dem Absatz herum und sah zu Jagoda. „Das war das Stichwort für das diplomatische Korps. Ich kann nicht auf eine anerkannte, verbündete Regierung schießen. Setzen sie sofort eine Meldung nach Brüssel ab.“

    Auf Kyoto:

    Ein hochgewachsener, hagerer Mann im schwarzen Mantel saß im Schneidersitz auf einer hölzernen Veranda und betrachtete den kunstvoll angelegten Garten, der um eine blaue Pagode herum angelegt worden war. Sein tätowiertes Gesicht erschien regungslos, doch ein leichtes Zucken seiner Augenlider verriet eine Angst, wie weder die unendliche Leere zwischen den Sternen, noch ein Schlachtfeld sie jemals in ihm hatte wecken können und die weit über Furcht um das eigene Leben hinaus ging: Die Furcht sein Volk vor einem Feind gerettet zu haben, um nun auf Gedeih und Verderb der Gnade eines anderen ausgeliefert zu sein. Schweigend saß er da. Seine rechte Hand glitt immer wieder zu seiner Waffe, ohne sie jedoch zu ergreifen.

    In der Stadt herrschte seit der Schlacht Chaos. Soldaten durchsuchten die Straßen und Gebäude noch nach versprengten Feinden, niemand konnte das volle Ausmaß der Kampfschäden abschätzen und zu allem Überfluss drängten viele Millionen Flüchtlinge vom sterbenden Weltenschiff ins Umland der Siedlung. Es war momentan unmöglich dort jemandes oder etwas Sicherheit gewährleisten zu können, so dass man die Anführer zu einem Tempel in einem Tal einige Kilometer außerhalb gebracht hatte. Zunächst schien dieser Ort Frieden versprochen zu haben, doch nun fühlte er sich, als habe er auf der Flucht verharrt, um zu erkennen, dass er nicht weit genug gelaufen war.

    Das Geräusch hastiger Schritte auf dem Holz weckte ihn aus seiner Lethargie. Er drehte sich um und sah den Kommandanten des Weltenschiffs zusammen mit zwei Japanern herbei eilen, die er als den Premier – offenbar der Titel eines Anführers ohne militärischen Rang – und einen hohen Diplomaten erkannte. Er erhob sich und begrüßte die Männer mit einer Verbeugung. „Erlauchter Premier, ehrenwerter Unterhändler. Kapitän.“ Die beiden Japaner erwiderten die Verbeugung und der Premier fragte: „Man hat es euch schon gesagt, General?“ Er nickte. „Es scheint, dass wir noch eine Schlacht ausfechten müssen.“ Der Diplomat hob beschwichtigend die Hände. „Einen solchen Kampf würden sie verlieren. Der letzte Kampf hat uns schon zu viel gekostet.“ „Was schlagen sie statt dessen vor?.“ „Es gibt keinen Grund für uns heute zu sterben“, meinte Shima. „Wir werden verhandeln. Aber das bringt ein Problem mit sich. Hören sie zu...“

    Einige Stunden später:

    Der Marineinfanterist drehte sein Feuerzeug zwischen den dicken Fingern seiner gepanzerten Hand und versuchte es zu entzünden, doch sein Daumen glitt immer wieder ab. Erst beim neunten Versuch gelang es und ein Funke löste sich am Zündstein. Er zündete die Zigarette an, die er zwischen den Lippen hielt und zog daran, während er das Feuerzeug wieder einsteckte. Gute drei Stunden hatten er und die fünf Männer bei ihm auf ihren Gefechtsposten gewartet, während die Schiffe des Verbands ihren Orbit über Kyoto gehalten und jene fremdartigen Aliens – es trommelte über die Wasserrohre sie seien mannshohe Insekten – beobachtet, die zweifelsohne dasselbe taten, voneinander getrennt nur von einigen japanischen Piloten, die gleich einem Käfer zwischen zwei wütenden Elefanten tapfer, wenngleich auch unkluger Weise ihre Stellung zwischen beiden Geschwadern hielten. Dann war der Befehl gekommen sich mit seinem Trupp zu Luftschleuse sechs (mittschiffs an Backbord, Deck 9) zu begeben. Niemand hatte ihnen gesagt was sie hier sollten, aber für gewöhnlich bedeutete ein solcher Befehl, dass eine Fähre erwartet wurde, deren Passagieren man nicht völlig vertraute, weshalb man sie nicht in die Nähe der verwundbareren Hangars ließ. Statt dessen lotste man sie zu einer Luftschleuse im Hauptpanzergürtel, an deren Außenseite eine 36-kt-Bombe explodieren konnte, ohne das Schiff ernstlich zu beschädigen.

    Er vermutete, dass sie jemanden vom Planeten erwarteten. Wer immer es auch sein würde, würde sich im Zweifel nicht wirklich willkommen fühlen können, wirkten er und seine Begleiter in ihren Rüstungen, die Körper und Gesicht völlig bedeckten und mit ihren Sturmgewehren in Händen eher martialisch und waren keinesfalls für eine Parade oder einen ehrenvollen Empfang angemessen gekleidet. Nach einigen Minuten an der Schleuse hörten sie Schritte sich durch den ansonsten menschenleeren Gang nähern. Admiral Siska und ein Adjutant tauchten an einer Biegung des Korridors auf und hielten auf sie zu. Der stieß sich von der Wand ab, an die er sich die letzten Minuten gelehnt hatte, drückte die Zigarette an seiner Rüstung aus, setzte seinen Helm auf, stellte sich zu seinen Leuten in eine Reihe und rief: „Aaaachtung!“ Zackig nahmen sie Haltung an. Siska erwiderte den Gruß und sagte: „Wir erwarten japanische Vermittler für Verhandlungen. Bilden sie ein Ehrenspalier.“ „Jawohl, Frau Admiral!“, erscholl die Antwort wie aus einer Kehle. Sie stellten sich links von der Schleuse auf, schulterten ihre Waffen und warteten. Das laute Geräusch von Metall auf Metall war zu hören, als die Fähre außen gegen die Schleuse stieß und die Halteklammern einrasteten. Es folgte ein merkliches Zischen und die Tür glitt auf. Der Soldat rief: „Präsentiert da...“ Er beendete den Satz nicht. Im Augenwinkel sah er neben einem Asiaten im Nadelstreifenanzug mit einer Aktentasche unter dem Arm eine große, hagere Gestalt im schwarzen Mantel in der Schleuse stehen. Sein Blick fiel auf das tätowierte Gesicht, auf die Waffe am Gürtel des Mannes und seine verhärteten Züge. Hastig machte er einen Schritt in den Gang hinein und stellte sich vor den Admiral, die Waffe auf den Fremden.

    „Keine Bewegung!“, herrschte er ihn an und fügte sofort an einen seiner Leute gerichtet hinzu: „Entwaffnen.“ „Nehmen sie sofort die Waffe runter.“ „Admiral?“ „Das war ein Befehl, Marine. Ich habe diese Leute an Bord eingeladen.“ Zögerlich und den Nyxkrieger – vielleicht sogar Offizier – misstrauisch taxierend senkte er sein Gewehr. Auch wenn sein Gesicht hinter dem Helm verborgen war, sagte seine Körperhaltung seinem Gegenüber doch eines sehr deutlich: Ich behalte dich im Auge. Sie trat an den Schützen vorbei auf die beiden Männer zu und verneigte sich nach japanischer Sitte. „Ich bitte um Entschuldigung für diesen Empfang. Manche meiner Leute sind angesichts der Tatsache, dass wir bei unserem letzten Treffen noch aufeinander geschossen haben, etwas nervös.“ „Gewiss“, antwortete der Japaner. „Wenn sie einen Raum hätten, wo wir miteinander reden können...“ Sie nickte. „Folgen sie mir.“

    Als sie wenig später die Brücke betrat, konnte Jagoda ihr ihre Unzufriedenheit deutlich ansehen. Sie ging ohne sonst irgendwelche Worte an jemanden zu verlieren zur Kommunikationsstation und, sagte dem dort sitzenden Unteroffizier: „Ich brauche eine Prioritätsverbindung nach Brüssel. Verschlüsselung und Zerhacker drauflegen.“ Sobald die Verbindung stand scheuchte sie ihn beiseite, setzte sich und begann eine Nachricht nebst eines Satzes Daten zu übermitteln, den sie von einem Datenträger nahm, den der japanische Unterhändler ihr gegeben hatte. Er trat an die Konsole, lehnte sich dagegen und fragte: „Wie ist das Gespräch verlaufen?“ „Gemischt“, antwortete sie, „die haben mit eine seltsame Geschichte aufgetischt. Meinten ihr Volk sei im Krieg beinahe ausgelöscht worden und sie seien die einzigen Überlebenden. Haben die bedingungslose Kapitulation aller Soldaten des Weltenschiffs angeboten.“ Sie erhob sich wieder und kam hinter der Konsole hervor. „Wäre es meine Entscheidung, ich würde annehmen. Aber die Sache ist zu heikel, als dass ich auf Rückendeckung aus Brüssel verzichten möchte. Soll man dort entscheiden.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen meinte sie: „Wir halten den Orbit und bauen eine Blockade auf. Wenn irgendet...“ Sie wurde vom plötzlichen Ausruf des Sensoroffiziers unterbrochen, der rief: „Mehrere Hyperraumfenster öffnen sich über dem Planeten!“ Ruckartig wandte sie den Blick zuerst zur taktischen Anzeige und danach aus den Brückenfenstern. „Was zur...?“, kam es ihr über die Lippen, als sie erkannte wer sich gerade die Ehre gab. „Informieren sie Negabatow. Und schaffen sie unsere Gäste hier her.“

    Verwirrt sah der Unterhändler sie an, als er in Begleitung des Weltenschiffoffiziers von einem Trupp der Marineinfanterie auf die Brücke eskortiert wurde, und fragte: „Gibt es ein Problem?“ „Ja. Dieser Problem zieht jeden Bekloppten mit einem großen Raumschiff im Umkreis von 10000 Lichtjahren an. Ihre Freunde haben wirklich ein Talent Schwierigkeiten anzulocken.“ Sie deutete aus den Fenstern, wo sich mittlerweile die Lichter einer gewaltigen Gruppe von Raumschiffen vor der Schwärze des Alls abzeichneten. „Eine Flotte der Aschen. Sie haben 12000 Kilometer vom Planeten Stellung bezogen und Verlangen die Auslieferung des Weltenschiffs, seiner Besatzung und seiner Bewohner.“ Die Augen des Japaners weiteten sich und er sah zu seinem Begleiter, der nicht minder erschrocken wirkte. [„Wer sind diese Leute?“], kam es ihm nach einigen Sekunden in der harten Sprache seiner Leute über die Lippen. „Hat es schon eine Reaktion gegeben?“ Sie nickte. „Kampffliegerstarts und eine Aufforderung den Orbit zu verlassen, vorgebracht mit dem Taktgefühl eines besoffenen englischen Hooligan. Die Aschen haben mit einem Ultimatum und der Drohung den Planeten zu bombardieren geantwortet.“

    Der Japaner machte einen Schritt auf sie zu. „Admiral, wir brauchen ihre Unterstützung. Diese Leute werden es nicht riskieren anzugreifen, wenn sie sich auf unsere Seite stellen.“ Sie sah zuerst ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Spott im Blick an, dann richtete sie ihren Blick wieder aus dem Fenster. „Schauen sie mal nach da draußen. Wir haben bisher achtzig Schiffe gezählt. Die sind nicht hier um einfach wieder zu verschwinden. Geben sie ihnen die Koordinaten des Schiffs.“ „Nein“, kam augenblicklich die Antwort des Weltenschiffoffiziers. „Hören sie mir zu: Selbst wenn ich jetzt sofort unsere Reserven rufe, habe ich nicht genug Schiffe um die dort“ - sie streckte zwei Finger in Richtung der Aschen aus - „wirksam verschrecken zu können. Wenn die Aschen in zwanzig Jahren Krieg gegen die Serakin eins bewiesen haben, dann dass sie die Auseinandersetzung nicht scheuen. Sie wiederholen keine Ultimaten, geben keine Warnschüsse und verfolgen ihre Ziele unerbittlich. Wenn wir sie angreifen befinden sich die Union und die Hegemonie morgen um diese Zeit im Krieg. Und das werde ich nicht riskieren. Sie selbst haben mir geschworen ihr Schiff sei nur noch ein Wrack und ihre Leute seien auf den Planeten evakuiert worden. Also werfen sie diesen Hunden einen Knochen hin, auf dem sie ein wenig herumkauen können, bis wir eine Lösung für diese beschissene Situation gefunden haben.“

    „Es befinden sich noch fast sechs Millionen Menschen auf dem Schiff. Sie zu evakuieren dauert Stunden.“ „Sechs Millionen auf ihrem Schiff, siebzig Millionen auf Kyoto, neun Milliarden auf der Erde. Die Koordinaten!“ Der Offizier schenkte ihr einen stechenden Blick. Als sie ihm nicht auswich, straffte er sich, reckte das Kinn und schwieg. Sie wartete noch einen Moment. Dann sagte sie: „Ganz wie sie meinen.“ Sie sah zu Jagoda und nickte. Der Kapitän erwiderte das Nicken und sagte: „Alle Schiffe zurückziehen. Rudergänger, bringen sie uns 250000 Kilometer vom Planeten weg.“ „Admiral“, rief der Unterhändler, doch sie schüttelte den Kopf. Dann, die Offiziere an der Ruderstation gaben gerade den Kurs ein, meldete sich auf einmal der Kommunikationsoffizier: „Admiral Siska, wie bekommen gerade eine Meldung von Konteradmiral Negabatow herein.“ Sie setzte sich das Headset auf und nickte. Ruhig als erzähle er von einem Familientreffen drang die Stimme des Russen aus dem Kopfhöhrer: „Wir haben das Ziel lokalisiert. Wir können das Schiff sofort aufbringen. Wie sagte Ciliax so schön: Schwarzer Springer auf E8. Wie damals 1588.“ Es folgte ein kurzer Signalton, an den sich eine automatische Standortmeldung anschloss, wie sie im Einsatz allen Funksprüchen an den Flottenkommandeur angehängt wurde. Ein breites Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. „Oh, Alexej, sie sind ein sehr böser Mann.“ Jagoda, der ebenfalls mitgehört hatte, sah sie ratlos an. „Was zur Hölle meint er damit?“

    Auf dem Flaggschiff der Aschenflotte lauschte der Kommandant der abgefangenen Kommunikation der Tau'Ri. Er beherrschte nur eine Sprache der Terraner, die er im Bestreben sie besser einschätzen zu können, in minutiösem Selbststudium erlernt hatte, nur um später festzustellen, dass es eine seit fast anderthalb Jahrtausenden tote Sprache war, die nur noch einigen unter ihnen zu liturgischen Zwecken diente. Nicht nur der Drang zu glauben, sondern auch der Habitus überkommenes zu konservieren war ihm am Verhalten dieser Leute unverständlich. Es fiel ihm zuweilen schwer zu glauben, dass sie tatsächlich der selben Spezies angehören sollten. {„Schicken sie das zur Übersetzung“}, wies er seinen Kommunikationsoffizier an. {„Jawohl, Kommandant.“}Die Computer brauchten einen Moment, die Nachricht in verständliche Worte zu übertragen. Die Übersetzungssoftware funktionierte ebenso zuverlässig, wie die Entschlüsselungsalgorithmen, die ihre Auftraggeber ihnen gegeben hatten. Er stellte nicht erst die Frage, wie sie an so hoch geheime Codebücher jener Fraktion der Tau'Ri gekommen waren. Die Überlegung war für die Verfolgung ihrer Ziele unerheblich und letztlich sollte der Umstand ihm recht sein, verschuf er ihnen doch einen Vorteil. Als die Übersetzung auf seinem Bildschrim erschien, runzelte er zuerst die Stirn. Teile waren immer noch unverständlich, doch er vermutete, dass es sich dabei um ein Sprichwort oder einen Kurzcode handelte. Es war allerdings genug verständlich, um ihnen weiter zu helfen. „Befehl an die Flotte: Orbit verlassen und zu den Ursprungskoordinaten dieses Kommuniqués springen.“

    Die Schiffe der Aschen mochten im Normalraum recht behäbig sein, ihre Hyperantriebe waren allerdings äußerst effektiv, so dass der nur gut 80 Lichtjahre lange Flug lediglich wenige Minuten in Anspruch nahm. Die Flotte fiel aus dem Hyperraum und begann ihre Formation sofort für einen Angriff auszufächern. Der Kommandant sah auf die Sensoranzeigen und initiierte überrascht eine Systemdiagnose, als ihm auffiel, dass kein Schiff der Tau'Ri in der Nähe war. Lediglich eine Signalboje schwebte vor seinen Schiffen im All. Dann wurde ein Schiff der Formation auf einmal von etwas getroffen, das seinen Rumpf eindrückte und mehrere Gleiter wurden von Schrapnellen durchlöchert. Schlagartig wurde ihm klar, dass sie mitten in die Trümmerwolke eines großen Asteroiden gesprungen waren. „Bringen sie uns sofort hier heraus. Alle Geschütze: Feuer frei für Punktverteidigung.“

    Auf der 'Agincourt' beobachtete Siska, wie die Flotte der Aschen zurück in den Hyperraum ging. Sie musste sich beherrschen, um nicht laut zu lachen und verbarg mit einer Hand ihr schadenfrohes Lächeln. „Sollen wir hinterher springen?“, hörte sie Jagoda fragen. „Zur Hölle, nein. Ich würde zwar viel drum geben zu sehen, was der Konteradmiral im Sinn hatte, aber... nein, wir haben nicht genug Zeit.“ „Was meinte er damit?“ „Negabatow ist ein Schachspieler, Kapitän. E8 ist die Position der schwarzen Königin und wenn er vom schwarzen Springer spricht, meint er nicht die 'Machiavelli', sondern die vierte Aufklärungsgruppe, Rufzeichen 'Black Knight'. Dort müssen wir hin.“ „Und 1588?“ „1588 vernichtete ein Sturm im Ärmelkanal die spanische Armada. Ein Hinweis an uns nicht zu seinen Koordinaten zu springen.“ Der Unterhändler wollte dazu ansetzen eine frage zu stellen, doch sie unterbrach ihn sofort. „Sind sie...?“ „Nein. Wenn Negabatow nicht gerade über eine Supernova gestolpert ist, wird es kaum etwas geben was diese Flotte komplett erledigen könnte. Ohne Befehl des Oberkommandos werde ich jeder Konfrontation aus dem Weg gehen, aber wir können ein kleines Ablenkungsmanöver initiieren, um ihnen Zeit zu verschaffen ihr Schiff zu evakuieren. Mehr kann und werde ich nicht für sie tun.“

    Der Japaner nickte. „Danke, Admiral.“ „Danken sie mir noch nicht. Die Sache kann noch hässlich werden.“ Sie befahl die Flotte in Sprungformation zu bringen und zur vierten Aufklärungsgruppe zu springen. Die Aufklärer hatten das Weltenschiff in einem Asteroidenfeld unweit von Kyoto aufgespürt. Bilder zeigten massive Schäden an der Superstruktur und stützten somit die Geschichte der Unterhändler zumindest in Teilen. Nachdem sie auch diese Informationen zur Erde übermittelt hatten, antwortete Brüssel mit einer Annahme der Kapitulation und dem Befehl das Weltenschiff bis zur vollständigen Evakuierung zu schützen. Der Befehl der Hochkommissarin war ebenso radikal, wie eindeutig: Auch wenn Kyoto keine europäische Kolonie war, so hatten die Aschen doch gedroht eine terranische Welt zu bombardieren. Ihnen war kein Milimeter nachzugeben.

    Im Zielsystem hatte Siska ihr Geschwader mit den Einheiten von Negabatow und Pradesh vereint und diese einige Lichtminuten entfernt von ihrem Ziel in das Asteroidenfeld geführt. Das Weltenschiff hatte mittlerweile seine Energie verloren und begonnen auszukühlen, so dass es zwischen den Felsen im All nur schwer auszumachen war. Die konzentrierte Aktivität der Verbündeten musste in Ermangelung eines anderen offensichtlichen Ziels also die Aufmerksamkeit der Aschen erregen. Als sie in das System sprangen, sah Siska, dass Negabatows Plan ihnen deutlich weniger zugesetzt hatte, als sie gehofft hatte. Ihre Flotte war ihnen zahlenmäßig immer noch überlegen und zu stark, als dass sie, sollte es ihnen überhaupt gelingen, hoffen konnten sie zu besiegen ohne dabei fast alle eigenen Schiffe zu verlieren. Es blieb nur sie so stark bluten zu lassen, dass sie als pragmatisch und auf ihren eigenen Vorteil bedachte Wesen zum Schluss kamen, dass es das Opfer nicht wert war.

    Als der Gegner sich außerhalb des Feldes formierte, stand Siska in der Gefechtszentrale der 'Agincourt'. Alle Informationen, die sie brauchte um die Flotte effektiv führen zu können, strömten aus dutzenden Hologrammen und Funksprüchen auf sie ein. Sie sah die holographischen Darstellungen der Sensordaten schnell durch, schob dann alle Hologramme beiseite und schloss die Augen. Im Geiste sortierte sie alle Daten und befahl: „Befehl an alle Schiffe: Das Feld verlassen. Kampffliegerstaffeln 1 bis 12 geben Deckung für die Großkampfschiffe. Staffeln 13 bis 26 in den Angriffskeil. 26 bis 32 mit den Torpedobooten zurückfallen. Das Feuer noch zurückhalten. Wir werden keinen Kampf vom Zaun brechen. Die müssen den ersten Schuss abgeben. Feuer erwidern nach eigenem Ermessen. Achtung, Kampfflieger: Schalten sie ihre Zielhilfen aus und fliegen sie manuell um eine Sensorerfassung zu erschweren.“

    Ein leises Summen ging durch das Schiff, als die Triebwerke beschleunigten und die 'Agincourt' ihre Position im Zentrum der Schlachtlinie einnahm. Siska öffnete die Augen wieder und beobachtete die Annäherung beider Flotten auf den Hologrammen. Die Situation war alles andere als optimal, doch letztlich blieb nichts anderes als zu hoffen, dass sie genügend Variablen in ihre Erwägungen mit einbezogen hatte, damit ihr Plan eine Chance auf Erfolg hatte. Tatsache war, dass die Schiffe der Aschen zwar die Eleganz von Backsteinen mit Antrieben besaßen und ihre Anführer nicht für überbordende Finesse bekannt waren, doch im Feuerkampf auf kurze Distanz wurden sie zu Monstern. Nicht umsonst gab es in der Marine der Serakin den Ausspruch: Er ließ sich auf einen Nahkampf mit den Aschen ein und war auch sonst von mäßigem Verstand.

    Die Angriffskeile beider Flotten trafen bei einer Entfernung der Hauptkampflinien von 600 Kilometer zueinander aufeinander. Die Aschen zögerten nicht das Feuer zu eröffnen. Mehrere Staffeln von Counterpunches und J305ern brachen darauf aus den hinteren Reihen des Keils aus. Die Piloten flogen 'über' – räumliche Begriffe wie Oben und Unten waren in der Schwerelosigkeit absolut relativ – den Gegner und stürzten sich in das Geschehen. Nur wenige Minuten später waren die Großraumschiffe auf Feuerreichweite herangekommen. Beide Seiten fochten auf kaum 30 Kilometer Distanz heftige Artillerieduelle aus. Siska ließ ihre Flotte dabei die Formation immer enger zusammenziehen und zwang die Aschen so dasselbe zu tun. Im Vertrauen auf ihre überlegene Zahl und Feuerkraft nahmen sie dabei in Kauf, dass ihre Schiffe einander in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkten. Als die Formation dicht genug war, befahl sie: „Torpedoboote und zweites Treffen der Kampfflieger: Kampflinie durchstoßen beschäftigt die Bastarde. An alle Großraumschiffe: Schubumkehr auf den Haupttriebwerken. Mindestens 100 Kilometer Distanz aufbauen.“

    Die kleinen Torpedoschiffe und die bisher zurückgebliebenen Kampfflieger, vor allem schwere Bomber der Typen 'Fairy' und 'Kahn' – fragte man die Piloten definitiv das beste Design seiner Klasse – rasten zwischen den Großkampfschiffen hinweg, durchstießen die Zone in der Jäger beider Flotten einander ihren tödlichen Tanz lieferten und stürzten sich aus allen Waffen feuernd auf den Feind. Zugleich gaben alle größeren Schiffe der verbündeten Flotte Gegenschub. Moderne Schlachtschiffe besaßen mächtige Ionenbeschleuniger als Triebwerke, die den Schub aus der Wechselwirkung zwischen Magnetfeldern und elektrisch geladenen Teilchen zogen, welche dabei beschleunigt wurden, eine Technik die in sehr viel rudimentärerer Form schon bei den Voyager-Raumsonden der NASA Jahre vor der Entschlüsselung des Sternentors Verwendung gefunden hatte. Diese Triebwerke konnten durch Umkehrung der Orientierung ihrer Magnetfelder auch die Orientierung der Beschleunigung umkehren, so dass die Schiffe praktisch einen „Rückwärtsgang“ besaßen. Als sie wieder einige Kilometer mehr zwischen sich und den Feind gebracht hatten, ließen auch die Torpedoboote und Kampfflieger sich zurückfallen. Einige Zerstörer nebelten die Flotte dabei ein, indem sie vor ihr entlang flogen und Wolken feiner Metallsplitter freisetzten, die Sensorsignale zurückwarfen oder durch zehntausendfache Reflektion in unterschiedliche Richtungen streuten. Dann schlug Dohnas große Stunde.

    Siska hatte seine Einheiten, die das Gros der europäischen Schlachtschiffe während dieser Operation darstellten, bis zu diesem Moment bewusst zurückgehalten. Als nun das Signal „Scharfschütze“ in den Äther gestrahlt wurde, sprangen sie in die Flanke des Gegners. Zwischen ihnen und den Aschen lagen 60000 Kilometer, die es ihnen erlaubten ihre Stärke voll auszuspielen. Ihre schweren Massebeschleuniger konnten gewaltige Eisenprojektile binnen Sekundenbruchteilen auf ein Zehntel der Lichtgeschwindigkeit schießen und so zu einer Furcht erregenden Waffe machen. Wie die meisten Völker hatten auch die Aschen die Raumfahrt erst entwickelt, als das Prinzip der Projektilwaffe schon lange keine Rolle mehr für sie gespielt hatte, so dass ihre Schiffe ausschließlich mit Energiewaffen bestückt waren. Aber so tödlich diese auch sein mochten, sie hatten eine Schwäche: Ihre Reichweite war begrenzt, so dass sie unfähig waren das Feuer auf solch gewaltige Distanzen auch nur annähernd zu erwidern. Massebeschleuniger hingegen hatten dank des glücklichen Umstandes, dass das Universum bei der Schöpfung mit dem Gesetz der Massenträgheit beschenkt wurde, eine buchstäblich unbegrenzte Reichweite. Solange ihre Projektile auf kein Hindernis trafen würden sie ewig weiter fliegen. Feuerte man diese Waffen ab, erwischte man damit garantiert irgendwann und irgendwo irgendjemanden.

    Doch hier lagen die Hindernisse sehr nahe: Die Schiffe der Aschen. Jeder der schweren Massebeschleuniger feuerte alle zehn Sekunden. Bei den Schwesterschiffen der 'Agincourt' wurde dabei ein 250kg schweres Stück Eisen zu einem Projektil von 26,8 Megatonnen schierer kinetischer Wucht verwandelt. Die neueren Schiffe der 'Süleyman'-Klasse entwickelten mit 200 kg zwar „nur“ 21,48 mT, besaßen aber zwei Geschütze dieses Kalibers mit höherer Kadenz. Und Dohnas Flaggschiff, die 'Nereid', besaß gleich vier Hauptgeschütze mit Projektilen von 175 kg und 18,79 mT. Das konzentrierte Feuer von Dohnas Schiffen traf die Flanke der dichten Formation der Aschen. Zwei schwere Kreuzer wurden binnen weniger Augenblicke vernichtet und ein Schlachtschiff erhielt mehrere schwere Treffer. Einige Projektile der vierten und fünften Salve besaßen sogar noch genug Wucht, um ihre Ziele komplett zu durchschlagen und auch die Schiffe dahinter zu treffen. Als drei Schlachtschiffe und fünf kleinere Einheiten der Aschen in gewaltigen Explosionen vergangen waren, flüchtete sich ihre Flotte in den Hyperraum. Siska ballte in der Gefechtszentrale triumphierend die Hände zu Fäusten und murmelte mehrmals und voller Inbrunst: „Ja.“ Sir Isaak Newton war eben doch der tödlichste Kriegsherr aller Zeiten.

    Einen Tag später:

    Klingend schlugen die Gläser gegeneinander und in einem schwappte etwas vom Whisky darin über den Rand. Alexej Negabatow, Albrecht zu Dohna Schlodien und Manmohan Pradesh standen an der Bar der Offiziersmesse der 'Agincourt' beisammen und stießen auf den Sieg an. Auf allen Schiffen wurde gefeiert. Die hohen Offiziere waren auf dem Flaggschiff zusammen gekommen. Die Stimmung war ausgelassen, der Alkohol floss reichlich und die Bordkapelle, die Siska vor einigen Jahren, wie mancher beim Flottenkommando vermutete in böswilliger Absicht, zu einer brauchbaren Bluesformation umstrukturiert, spielte Musik von Ray Charles.

    Die Aschen hatten sich zurückgezogen, um ihre Wunden zu lecken und die Männer des Weltenschiffs Nyktelos hatten sich den europäischen Streitkräften ergeben. Man hatte die Japaner damit beauftragt sie auf Kyoto zu internieren, während sie entwaffnet wurden. Noch während die Kapitulation auf der 'Nereid' unterzeichnet worden war, hatte eine Meldung die Flotte erreicht, dass die angloamerikanische Allianz angesichts der Nachricht, dass tatsächlich eine legitime japanische Regierung die Kontrolle auf Kyoto übernommen hatte, auf öffentlichen Druck durch Exiljapaner und Exilanten reagiert und eine Flotte zur Sicherung des Planeten entsandt hatte. Es bestand sogar begründeter Anlass zur Hoffnung, dass der Weltsicherheitsrat dieses Vorgehen noch durch ein Friedenstruppenmandat absegnen würde. Zwar spuckte Pjöngjang Gift und Galle und China war aufgrund dieser öffentlichen Brüskierung seiner Verbündeten wenig erfreut, doch angesichts der Tatsache, dass die Nordkoreaner die Volksrepublik zuvor bei einigen Gelegenheiten vor den Kopf gestoßen hatte, war nicht zu erwarten, dass man in Nanking besonderen Elan zeigen würde Pjöngjang beizustehen.

    Es gab viele offene Fragen und niemand konnte vorhersagen, wie das Schicksal von Kyoto aussehen würde, doch der jüngste Sieg machte Hoffnung. Die verbündete Flotte hatte sechs Torpedoboote und einige Kampfflieger verloren, sowie schwere Schäden an mehreren größeren Schiffen in Kauf nehmen müssen – auch die 'Agincourt' hatte es hart getroffen – gleichzeitig aber acht Schiffe der Aschen zerstört. Obwohl jeder an Bord wusste, dass es anders hätte ausgehen können. Dohna stürzte den Inhalt seines Glases herunter und fragte an Negabatow gewandt: „Was mich noch interessieren würde, Alexej: Warum dieses Täuschungsmanöver. Warum kein offener Funkspruch?“ „Ich dachte das läge auf der Hand: Die Aschen mussten unsere Kommunikation überwachen. Sie wussten wo das Weltenschiff zu suchen war, kannten aber die genaue Position nicht. Also hatten sie es nicht verfolgt, sondern aus der gleichen Quelle von seiner Anwesenheit erfahren, wie wir. Ich musste also annehmen, dass sie jedes Wort verstehen würden, das ich sende.“ „Aber würde das nicht bedeuten, dass sie unsere Kom entschlüsselt haben?“, fragte Pradesh. Der Russe nickte. „Das wäre die beunruhigendste Alternative.“ Dohna schlug mit der flachen Hand auf die Theke. „Selbst wenn dem so wäre: Wir haben ihnen gezeigt was es bedeutet sich mit uns anzulegen.“ Er schenkte ihnen allen nach und hob sein Glas. „Ich denke, dass diese drei Worte alles sagen: Auf die Erde.“ Die anderen beiden erhoben ebenfalls ihre Gläser. „Mit vereinten Kräften“, meinte Negabatow. „Bis zum Sieg.“
    Geändert von Protheus (16.05.2011 um 17:47 Uhr)
    Die Freiheit des Bürgers heißt Verantwortung.

    (Joachim Gauck)


    "You may belong to any religion[...] - that has nothing to do with the buisness of the state. We are starting with this fundamental principle, that we are all citizens and equal members of one state." (Sir Mohammed Ali Jinnah)

    Meine FF:

    Laufend: 2036 - A Union at War

    Abgeschlossen: 2034 - Das neue Sternentor

  25. Danke sagten:


  26. #39
    Senior Master Sergeant
    Registriert seit
    23.04.2010
    Ort
    Lippe
    Beiträge
    108

    Standard

    Wen du die Kapitel nicht kürzer machen kannst geht es halt nicht anders! Aber wen man sieht wie gut sie sind macht die länge dan auch nichts mehr! Freu mich schon wen du wieder was neues hast. Schreib so weiter!

  27. #40
    Gehasst, Verdammt, Vergöttert Avatar von Colonel Maybourne
    Registriert seit
    24.11.2004
    Ort
    Im Harz
    Beiträge
    3.843

    Standard

    Da werden die sich aber noch in die Nesseln setzen, wenn die Asceh oder gar die Antiker nach dem Schiff suchen.
    Wobei ich mich frage, warum die Aschen sich von den Antikern so einspannen lassen und einfach Vasallen spielen.

    Und die Nordkoreaner müssen die Chinesen ja gewaltig verärgert haben, dass sie nicht lautstark intervenieren.
    Die sind immerhin ein wichtiger Satellitenstaat und verhindern, dass die USA über Südkorea an der Chinesischen und sogar Russischen Grenze stehen.

    Übrigens hat mir die Anspielung auf Newton am besten gefallen.

    Bis dann.
    Das Leben ist ein Schwanz und wir die Eier, die mitgeschleift werden.


    Meine aktuellen Fanfiction:


    TGE Combined Season 1 Fire of War:

    http://www.stargate-project.de/starg...ad.php?t=11836




Seite 2 von 5 ErsteErste 1234 ... LetzteLetzte

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •