Die Stimme (Eigene Story, keine FF)
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am 28.10.2014 um 23:30 (2856 Hits)
Mir ist es nicht erlaubt diese Geschichte normal zu posten, daher muss es in Blogform sein.
Die Stimme
Eine kleine braune Wüstenechse läuft über den warmen Wüstenboden. Die Sonne steht niedrig und der Tau vom Morgen ist bereits verdampft. Die Echse sprintet über den Boden und krabbelt auf einen Stein. Es ist das Röhren eines Motors zu hören, und die kleinen Kiesel fangen an zu vibrieren. Die Echse rennt von dem Felsen herunter - gerade rechtzeitig, bevor der Reifen eines Geländewagens über den Stein fährt.
Der Wagen wird gefahren von einem dunkelhaarigen jungen Mann Ende zwanzig, in dunkler grün- brauner Kleidung. Er ist sichtlich angespannt, denn direkt neben ihm sitzt eine junge blonde Frau, welche sich die Hand auf den Bauch drückt. Ihre Kleidung ist vollgesogen mit Blut und läuft langsam in den Innenraum des Wagens direkt am Maschinengewehr vorbei, welches zwischen ihren Beinen liegt.
„Verdammt Mila! Wir sind nicht so weit gekommen, damit du mir hier jetzt verreckst“, ruft der Fahrer und blickt abwechselnd zu ihr und zurück auf die Straße.
Um sie herum ist nur eine steinige Wüste, umgeben von ein paar niedrigen Bergen. Direkt vor ihnen stehen Häuser. Ein großes Haus mit zwei abseits stehenden Schuppen kommt in Sichtweite. Hinter und vor dem Haus stehen kleine, flache Wüstenbäume. „Wo sind wir?“, fragt sie und stöhnt. „Da vorne sind Häuser, wir sind gleich da. Hörst du, Mila? Wir haben es gleich. Du wirst es schaffen!“ Ihr Gesicht wird immer blasser und ihre Atmung langsamer. „Jonas.“
„Mila halte durch, wir sind gleich da.“
Die Abstände zwischen ihren Atemzügen werden langsamer. „Jonas, bitte halt an!“
Jonas schaut ihr in die Augen, er schluchzt auf und blickt wieder auf die Straße. Der Wagen wird langsamer und kommt schließlich vor den Häusern zum Stehen. Er wendet sich zu ihr und legt seine Hand auf die ihren. „Lass es nicht umsonst gewesen sein. Okay?“ Ihr läuft eine Träne die Wange hinunter. Er schließt seine Augen und lässt den Kopf sinken. „Versprich es mir!“, sagt sie in einem ernsten Ton und aller Kraft. „Wir sind nicht tausende Meilen weit gereist für nichts, okay?“ Er hebt seinen Kopf und nickt entschlossen. „Ist gut. Ich verspreche es.“ Sie wird immer schwächer, ihr Brustkorb hebt und senkt sich so gut wie nicht mehr. Er lässt seinen Blick über sie schweifen und küsst sie auf den Mund. „Ich liebe dich!“ Sie lächelt und öffnet die Lippen, aber sie sagt nichts mehr. Ihr Blick ist starr und ihr Körper still. Jonas zieht sie zu sich her und kann seine Tränen nicht mehr für sich behalten. Er schluchzt auf, atmet unkontrolliert und schluckt ein paar Mal, als er ihre Augen schließt. Er steigt aus und legt sie behutsam auf den Rücksitz. Dann nimmt er das Gewehr und Milas Pistole.
Er betrachtet die Häuser vor sich. Ein größeres hölzernes Wohnhaus. Ein Stock mit Terrasse und Vordach. Klassische Bauweise, wie sie seit gut 50 Jahren nicht mehr gebaut werden. Links und rechts daneben sind ein paar kleine Schuppen. Womöglich Lagerräume oder Geräteschuppen. Das ganze erhält ein wenig Schatten von zwei Wüstenbäumen, die neben dem Haus stehen. Das gesamte Gelände ist zudem stellenweise umgeben von Sträuchern und umzäunt. Vermutlich um Wildtiere abzuhalten.
Jonas hört ein Krähen. Auf dem Hausdach sitzt ein Schwarm Krähen. Einzelne fliegen zwischen dem Dach und den Bäumen hin und her, aber ansonsten sie sind ganz ruhig und bewegen sich so gut wie überhaupt nicht.
Er nähert sich dem Haus und ruft, „Hallo?“ Es folgt keine Antwort, nur ein paar der Krähen geben Laut. Er entschließt sich, näher zur Tür zu gehen und klopft; dabei bemerkt er, dass sie offen ist. Er öffnet sie weiter und schaut hinein. Das Haus ist dunkel und im Kontrast zur hellen Sonne, kann er so gut wie nichts erkennen. Er öffnet die Tür ganz und auch das Fliegengitter dahinter und tritt ein. Es kommt nur wenig Sonnenlicht durch die geschlossenen Fensterläden, seine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.
Das Haus selbst ist sehr dezent eingerichtet. Er befindet sich schon im Wohnzimmer und sieht vor sich ein Sofa und links davon einen Sessel. An der Wand befindet sich ein Kamin. Rechts von ihm sind ein Schrank und ein paar Bilder. Gemalt wie auch fotografiert. Überall stehen Bücher und im Raum dahinter scheint die Küche zu sein, in welcher sich noch ein Ausgang befindet. Er geht in die Küche und bleibt vor dem Esstisch mit zwei Stühlen stehen, dahinter ist gleich die Arbeitsfläche.
Am Tischende steht ein Teller mit einem Löffel darin und auf dem Herd köchelt noch ein Teekessel vor sich hin. Jonas erkennt sofort, dass jemand hier war.- In diesem Moment hört er ein Klacken. „Langsam die Waffe runter!“ Jonas verflucht sich selbst. Links von ihm war noch ein Türrahmen, den er nicht überprüft hat. Ein dummer Anfängerfehler. „Ich sagte, Waffe runter!“, wiederholt die Stimme und wirkt nun aufdringlicher. Jonas legt das Gewehr auf den Tisch. „Die anderen auch.“ Jonas verdreht die Augen und legt auch seine beiden Pistolen auf den Tisch. „Geh ans andere Tischende!“ Jonas geht an das Tischende mit dem Teller. „Setz dich!“ Er nimmt den Stuhl und dreht sich um. Da erblickt er die Person, die ihn bedroht. Ein alter Mann mit dunkler Haut, ungefähr Mitte sechzig, in hellem Hemd und brauner Hose. Der Karabiner, mit dem er ihn bedroht, muss mindestens doppelt so alt sein wie der Mann selbst. Jonas setzt sich und zieht den Stuhl heran. Der Mann nimmt eine Hand von dem Karabiner und steckt sich eine Pistole in die Hose, die andere schaut er erst an und behält sie dann in der Hand. Er setzt sich an das andere Tischende und stellt den Karabiner neben sich.
Die beiden Männer blicken sich angespannt an, als der Kessel zu pfeifen beginnt. „Das Wasser ist fertig. Füll es in die Tassen!“
„Tee?“
„Mach schon!“ Jonas steht auf und geht an den Herd. Er nimmt den Kessel herunter - sieht, dass zwei Tassen bereitstehen. Der Mann wusste, dass jemand kommt. Ist ja auch nicht so, dass so ein Wagen sehr leise ist, denkt sich Jonas und füllt das Wasser in die Tassen.
Jonas füllt das Wasser in die Tassen und will sich umdrehen. „Langsam!“, hört er den alten Mann sagen und Jonas gehorcht. Er stellt eine Tasse zu dem Mann und setzt sich daraufhin wieder an das andere Tischende. Der alte Mann schlürft einen Schluck und mustert ihn aufmerksam. „Trinkst du keinen Tee?“
„Bei der Hitze?“, entgegnet Jonas.
„Beduinen trinken warmen Tee seit sie wissen, was Tee überhaupt ist. Glaub mir, es gibt nichts Besseres.“
„Was soll der Scheiß?“
„Ich habe hier selten Gäste und eigentlich bevorzuge ich es auch so, aber wenn du schon mal hier bist, gibt es keinen Grund, nicht gemütlich einen Tee zu trinken. Wie zivilisierte Menschen.“ Der alte Mann deutet mit Jonas Pistole auf ihn. Jonas nimmt die Tasse hoch und nimmt einen Schluck. Der Blick des Mannes schweift auf das Gewehr. „Ihr seid ziemlich gut ausgerüstet.“
„Die Welt ist ein unfreundlicher Ort“, antwortet ihm Jonas unbeeindruckt.
„Ich nehme nicht an, dass deine Freundin draußen ein Nickerchen macht.“ Jonas schnauft - er will etwas sagen, aber der alte Mann kommt ihm zuvor. „Was suchst du hier?“, Jonas atmet tief ein. „Ich bin auf der Suche nach einem Mann.“
„Tut mir leid, zu diesem Ufer schwimme ich nicht.“
„Einen bestimmten Mann.“
„Weswegen?“
„Damit er mir helfen kann.“
„Bei was helfen?“
„Die Welt zu reparieren.“ Der alte Mann lacht: „Die Welt zu reparieren? Warum? Ist sie kaputt?“ Jonas hebt den Arm. „Sie sehen doch selber, was los ist.“ Da erkennt Jonas, dass er zwar Bücher gesehen hat, aber weder ein Radio, noch ein Telefon oder einen Fernseher. Nein, nicht einmal eine alte Zeitung scheint herumzuliegen.
„Wie in aller Welt soll ein einziger Mann die Welt reparieren?“
„Ich weiß es nicht.“
Der alte Mann lacht erneut. „Deine Geschichte ist bisher nicht sehr gut.“
Jonas blickt ihn an: „Hören Sie! Die Welt versinkt immer mehr im Chaos und niemand weiß warum.“
„Und das soll ein Mann reparieren?“, fragt der alte Mann.
„Oder zumindest sagen, warum es so ist. Wir sind verzweifelt. Plötzlich herrschen überall Seuchen, Katastrophen, Terror und Krieg.“
„Das herrschte schon immer!“
„Ja - aber nie in diesem Ausmaße. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt und die Apokalypse ausgelöst.“
„Vielleicht ist es so.“
„Die Apokalypse?“
„Nein, dass jemand einen Schalter umgelegt hat.“ Der alte Mann legt die Waffe auf den Tisch, bleibt aber ernst: „Wie kommst du hierher? Und wehe, du sagst jetzt mit dem Auto.“
Jonas überlegt sich kurz, nach der Waffe zu greifen, aber antwortet ihm stattdessen: „Wir haben begonnen zu recherchieren. Haben angefangen, nach einer Antwort zu suchen, warum all die kleinen Krisen, die überall brodelten, urplötzlich jetzt alle losschlagen. Warum Situationen eskalieren, die man früher nicht einmal als Pulverfass bezeichnet hätte.“
„Das beantwortet meine Frage nicht.“
„Per Flugzeug“, antwortet Jonas mit regungsloser Miene. Der alte Mann lächelt: „Warum glaubst du, es ist eine bestimmte Person?“
„Weil mir eine Quelle einen Tipp gegeben hat und wir daraufhin recherchiert haben.“
„Eine Quelle - soso. Kann es sein, dass du den Namen dieser Quelle nicht kennst und auch nicht mehr weißt, wie sie aussieht?“
„Sie hat mit mir nie persönlich kommuniziert.“
„Wie dann?“
Jonas will antworten, aber zögert. Der alte Mann fährt fort. „Du hast keine Ahnung, warum der Gedanke, dass ein einzelner Mensch für Seuchen, Katastrophen, Krieg und Terror verantwortlich sein soll, für dich logisch erscheint.“ Jonas blickt zum Tisch. Langsam wird er nervös - aber nicht aufgrund des alten Mannes, sondern weil er sich selbst nicht mehr an seine Quelle erinnern kann. Er blickt wieder zu ihm. „Das mag sein, aber warum habe ich plötzlich das Gefühl, dass meine Suche beendet ist?“
Der alte Mann nimmt einen Schluck und schaut in die Tasse. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen:
Es war einmal ein Junge. Sechs oder sieben Jahre alt. Er lebte zusammen mit seinen Eltern, als ein Krieg ausbrach und sie flüchten mussten. Welcher Krieg spielt keine Rolle. Zuerst starb seine Mutter. Sie war krank geworden, immer dünner, da sie den Kindern all das Essen gab. Sie mussten sie in einem Graben zurücklassen wie ebenfalls seine Geschwister. Eines nach dem anderen. Als sie seinen Vater erschossen haben, da er zu schwach und zu abgemagert war, um noch nützlich zu sein und sie auch ihn töten wollten, lief er davon.
Er lief tagelang. Hat gestohlen, lebte von der Hand in den Mund, bis er es eines Tages nicht mehr ertragen konnte und in einem Loch zusammengebrochen ist. Er betete zu Gott, schrie ihn an. Schrie, dass er hier sei und dass er will, dass es endlich aufhört. Da bekam er etwas, mit dem er nie gerechnet hätte. Eine Antwort. Eine Stimme sprach zu ihm. Sie war unmenschlich, weder männlich, noch weiblich und sie sagte: „Ich kann dafür sorgen, dass es aufhört.“ Und der Junge fragte, wie das gehen sollte. Die Stimme wurde zu einem Schatten, welcher ihn umkreiste. Der Junge versuchte, ihn mit seinen Blicken zu erhaschen, aber es gelang ihm nicht.
Die Stimme antwortete: „Geh zehn Schritte von deinem Haus weg, dann werde ich zu dir kommen und dich fragen, ob du willst, dass es aufhört. Sagst du nein, wird es nicht geschehen. Du wirst nicht wissen, was es war. Du wirst nur wissen, dass es etwas Schlimmes war. Der Junge dachte überhaupt nicht lange darüber nach und wollte sofort einwilligen, aber die Stimme fuhr fort: „Aber es hat einen Preis. Du wirst all das Leid, welches das Ereignis verursacht hätte, in dir spüren. Für den Rest deines Lebens. Das Leid wird dich begleiten und ein Teil von dir sein.“
„Ist gut“, sagte der Junge.
„Desto näher dir die Menschen stehen, desto schlimmer wird es sein“, erklärte die Stimme weiter.
„Es kann nicht schlimmer sein als das, was ich gerade fühle“, sagte der Junge. „Und der Gedanke, dass ich anderen ihr Leid erspare und andere nicht ihre Eltern oder ihre Geschwister verlieren, wird mir Kraft geben.“
„Du wirst dir wünschen, tot zu sein“, fuhr die Stimme fort.
„Meine Mutter und mein Vater, meine Brüder und meine Schwestern sind tot. Dann sehe ich sie wieder. Es ist nicht so schlimm tot zu sein - nicht, wenn die Menschen, die du liebst, ebenfalls tot sind“, erklärte der Junge. Aber die Gestalt hörte nicht auf. „Wenn du stirbst wird all das geschehen, zu dem du nein gesagt hast.“
Der Junge war erst sieben Jahre alt. Er hatte keine Ahnung, worauf er sich da einließ; wie er sich den Tod wünschen würde und wie er trotzdem weiterleben musste. Er willigte ein.
Jonas verzog sein Gesicht. „Und dieses Wesen war Gott? Oder wie soll ich mir das vorstellen?“ „Vielleicht“, antwortet der alte Mann.
Jonas verliert nun jegliche Fassung und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, „Schwachsinn! Ich habe keine Expedition um die halbe Welt gemacht, jeden Winkel abgesucht und meine Freunde und meine Freundin verloren, nur damit sie hier und jetzt eine Märchenstunde abhalten können! Sie reden mir ein, dass es da draußen ein Wesen gibt, das über alle Katastrophen vorher Bescheid weiß und sie nur nicht geschehen lässt, weil ein Kind sie nicht will? Dass das Schicksal der Welt von einer kleinen Antwort abhängt?“
Der alte Mann bleibt ruhig, „Bist du vertraut mit dem Prinzip der Kausalität?“
„Kausalität?“, erwidert Jonas spöttisch. „Jetzt sind Sie nicht nur Märchenonkel, sondern auch noch Wissenschaftler oder was auch immer.“
Der Tonfall des alten Mannes wird ernster: „Ich habe nicht behauptet, Wissenschaftler zu sein. Ich habe dich gefragt, ob du mit dem Prinzip der Kausalität vertraut bist. Ob du verstehst, dass eine Aktion eine Reaktion nach sich zieht. Dass ein Ereignis ein weiteres zur Folge hat.“
Jonas schweigt.
„Wir alle bestehen aus Teilchen. Kleine, für uns unsichtbare Teilchen. Die Urbausteine des Lebens. Sie finden ihre Wege aufgrund der Wege, die sie bereits beschritten haben. Auf dieselbe Art wie Menschen ihre Entscheidungen treffen, aufgrund ihrer Erfahrungen, die sie gemacht haben. Wenn man es wollte, könnte man aufgrund ihrer früheren Bewegungen, ihre zukünftige Bestimmung berechnen. Das wäre nicht nur ein Blick in die Zukunft, sondern könnte man als den Beweis eines Schicksals betrachten. Hochgerechnet auf komplexe Wesen wie uns, deren Entscheidungen dann nur eine Illusion wären, da alles wie auf Schienen verläuft. Würdest du mir theoretisch damit recht geben?“
„Was ist mit dem freien Willen?“
„Wie gesagt, eine Illusion. Alles was du tust, machst du aufgrund deiner früheren Erfahrungen.“
„Und wenn ich mit Absicht etwas anderes mache?“
„Dann tust du das aufgrund deines Wunsches zu rebellieren, welcher ebenfalls schon zu ermitteln war, aufgrund deiner Erfahrungen, die besagen, dass du in diesem Moment rebellieren willst.“ Jonas schweigt wieder.
„Was ich damit sagen will ist, dass, wenn das Ende schon im Moment des Anfangs beschlossen war und das Chaos nur eine Illusion ist, es lachhaft ist, anzunehmen, dass so ein in sich geplantes und organisiertes Uhrwerk, das wir die Existenz nennen, durch Zufall entstanden ist.“
„Aber warum sollte ein Wesen den Plan für einen Mann ändern? Ist das nicht eine unmögliche und eingebildete Vorstellung, dass ein allmächtiges Wesen oder Gott eine Ausnahme für einen Menschen machen würde?“, fragt Jonas, worauf ihm der alte Mann entgegnet: „Und trotzdem beten jeden Abend Millionen Menschen genau für eine Ausnahme.“ Auf diese Antwort war Jonas nicht vorbereitet. „Und warum geschieht nun doch alles? Ist der Junge tot? Warum zerbricht die Welt nun doch?“
Der alte Mann atmet aus und erzählt weiter:
Der Junge fand ein Zuhause. Er ging zehn Schritte von diesem weg und rief in die Luft, dass er nun hier sei. Monate sind vergangen, bevor der Schatten das erste Mal gekommen ist. Er fragte den Jungen: „Willst du, dass es geschieht?“, und der Junge sagte: „Nein“, und fühlte sofort die Schwere in seinem Herzen. Zuerst kam die Gestalt nur alle paar Monate. Dann alle paar Wochen, dann alle paar Tage, irgendwann sogar mehrmals am Tag, doch nie in der Nacht. Trotzdem konnte der Junge nicht schlafen. Der Junge sagte immer Nein und es wurde ihm immer schwerer um sein Herz. Aus Angst davor, dass sein Leid noch größer werden würde, heiratete er nie, bekam keine Kinder. Aus Angst zu sterben und die Welt im Stich zu lassen, zog er die Isolation vor. Manchmal zweifelte er und sagte „Ja“ und sah im Fernsehen oder in der Zeitung, was geschehen war. Also hat er auch die Medien hinter sich gelassen. Irgendwann wurde ihm klar, dass es immer schlimmer wird. Dass die Welt am Zerbrechen ist und er es nur herauszögerte. Also zog er davon und zögerte beim neunten Schritt. Er ging in sein Haus und beschloss, dort auf das Ende zu warten.“
„Er hat aufgegeben?“
„Da es niemals etwas zum Retten gab.“
Jonas widerspricht sofort: „Natürlich gab es etwas zum Retten.“ Er zeigt hinaus auf seinen Wagen, „Mila hätte man retten können. Hongkong hätte nicht untergehen müssen. Die Seuchen in Afrika und die Atombomben auf Amerika hätten nicht sein müssen. Indonesien hätte nicht in den Fluten versinken müssen! Das alles haben Sie einfach geschehen lassen!“
„Weil es keinen Unterschied gemacht hätte. Irgendwann wäre sie sowieso gestorben und all das wäre auf einen Schlag passiert“, verteidigt sich der alte Mann mit geladener Stimme.
„Möglicherweise - aber die Menschheit hätte sich entwickelt, sie hätte es überleben können, sie hätte nur Zeit gebraucht.“
„Zeit? Die Menschheit hatte Tausende von Jahren Zeit und noch einmal sechzig und hat sich nicht entwickelt! Der Junge war doch nur ein Scherz! Der Junge dachte, er würde Menschen helfen - sie vor Leid bewahren, aber er hat sein Leben nur verschwendet. Alles gehörte weg! Es hätte schon längst vorbei sein sollen. Der Junge hat nur noch mehr Leid heraufbeschworen - wie bei einem Hirntoten, den man künstlich am Leben erhält. Du glaubst - es war Gott der ihm diese Bürde auferlegt hat? Versuche es in der anderen Richtung!“
Es herrscht Stille. Der alte Mann nimmt einen langen Schluck aus der Tasse und Jonas steht auf. „Vielleicht wollte man aber auch nur sehen, zu welcher Größe die Menschen fähig sind. Ein Exemplar, welches ihnen die Zeit gibt, nach seinem Vorbild zu streben. Sich zu verbessern. Sodass die Liebe, die der unschuldige Junge für die Menschheit empfindet, weswegen er all den Schmerz aufnimmt, nicht umsonst ist. Dass die Menschen ihn nicht peinigen wollen und daher der Wandel eintritt. Vielleicht hätten Sie sich nicht verstecken sollen, alter Mann!“ Der alte Mann steht auf und dreht ihm den Rücken zu: „Du glaubst mir?“
„Ich bin um die halbe Welt gereist, Sie zu finden. Ich kann es mir nicht leisten, nicht zu glauben. An diesem Punkt ist Ihre Geschichte das einzige, was ich noch habe.“ Der alte Mann streicht sich mit der flachen Hand über das Gesicht. „Vielleicht bin ich wirklich der Falsche für diese Bürde.“ Er dreht sich wieder zu Jonas und streckt ihm die Hand entgegen. „Wenn ich dir vor Jahren begegnet wäre, wenn ich nicht allein gewesen wäre, hätte sich vielleicht alles anders entwickelt.“ Jonas schüttelt seine Hand. „Vor Jahren, hätte ich dir wahrscheinlich nicht geglaubt.“ Da hören sie einen Wagen vor dem Haus, worauf beide in Richtung Tür blicken.
„Das sind nicht zufällig Freunde von Ihnen?“ Jonas geht zum anderen Tischende und nimmt sein Gewehr vom Tisch, „Ich habe hier keine Freunde.“ Der alte Mann nimmt seinen Karabiner und geht an Jonas vorbei. „Die sind euch gefolgt.“ Jonas überprüft das Magazin des Gewehrs, es ist fast voll. „Zu unserer Verteidigung – wir hatten keine Wahl und wir wussten nicht, dass sie uns folgen würden.“
„Was sind das für Kerle?“
„Banditen, Soldaten. Keine Ahnung. Sie haben auf uns das Feuer eröffnet, als wir getankt hatten.“
Der alte Mann überprüft noch einmal das Magazin in seinem Karabiner: „Deswegen gehe ich nicht mehr unter Menschen.“