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Reziwelten

Neunzehn

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Sir Henry Cole, seines Zeichens Staatsbeamter und Direktor, starrte entsetzt die lange Liste an, die ihm einer seiner Mitarbeiter reichte. „Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, James!“

„Leider doch Sir. Das ist die Aufstellung der Geschäftspartner des vergangenen Jahres, die Sie haben wollten“, erwiderte der Angesprochene ruhig. „Ich bin die Bücher sogar zwei Mal durchgegangen, um niemanden zu vergessen.“

„Danke, James. Das war gute Arbeit. Sie können jetzt wieder an ihre Arbeit zurückgehen!“ Cole nickte dem jungen Mann wohlwollend zu. Erst als dieser die Tür hinter sich geschlossen hatte, erlaubte er sich, die Liste noch einmal genauer anzuschauen, zählte die eng beschriebenen Blätter durch und seufzte schwer.

„Das schaffe ich doch nie und nimmer in den nächsten zwei Wochen. Dafür bräuchte ich Monate und unzählige Fässer Tinte ...“ murmelte er, als er an den Berg von Briefen dachte, den er dadurch zu schreiben hatte.

Dann schüttelte er den Kopf und legte die Blätter auf den Tisch. „Das geht so nicht … denn eigentlich erlaubt es mir meine Zeit mich damit zu beschäftigen. Es gibt bei Gott wirklich weit wichtigere Aufgaben zu erledigen …“ Er stützte sein Kinn gegen die Hand und musterte mit immer größerem Widerwillen die Adressen. „Aber nun ja,, der Anstand gebietet es leider, sich persönlich bei den Herren und Damen für die Zusammenarbeit zu bedanken und ihnen ein schönes Weihnachtsfest zu wünschen.“

Aus diesem Dilemma kam er nicht so einfach heraus. Wenn sein sorgsam zurechtgelegter Plan für die Zukunft England nicht schon im Keim ersticken sollte, weil er die feine Gesellschaft des Adels und des aufstrebenden Bürgertums, dessen Kapital und Wohlwollen er in den kommenden Jahren braucht, nicht brüskieren wollten, dann musste er schnellstens eine Lösung finden.

Dabei fiel sein Blick auf die neusten Litographien, die ihm James ebenfalls mitgebracht hat, vermutlich, weil er die Drucke absegnen sollte, damit sie in Massenfertigung gehen konnten. Die Bilder stammten diesmal von dem jungen Künstler John Callcott Horsley, den er durch eine Veranstaltung der Royal Academy of Arts kennengelernt hatte …
Er nahm eines der Blätter in die Hand.
„Eine gute, stabile Qualität, und die Linien des Bildes kommen gut heraus. Und das Motiv gefällt mir auch – ja, der Mann hat Potential. Hm, wenn man vielleicht ein kleineres Format wählen würde …“, brummelte der findige Staatsbeamte, der durch seinen Ideenreichtum und seine Sturheit für schon so manche Neuerung in Wirtschaft und Handel, Post- und Verkehrswesen gesorgt hatte. Seine Gewirnwindungen begannen zu rattern, als sich eines zum anderen fügte und er schließlich die Lösung bei der Hand hatte.
Mit einem zufriedenen Grinsen griff er nach Feder und Tinte. Gleich heute noch würde er Horsley einen Brief schicken und ihn zu sich einladen, um ihm seine Idee zu unterbreiten und dem jungen Maler gleich auch den entsprechenden Auftrag zu geben …

Er war nie ein Mann gewesen, der das Risiko scheute. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“ bekräftigte er seinen Entschluss und machte sich rasch ans Werk, mit der sicheren Gewissheit, dass seine neuste Idee - wie viele andere Dinge, die er in die Wege geleitet hatte – bahnbrechend sein würde …

* * *

Cole sollte recht behalten. Zusammen mit John Callcott Horsley entwarf er noch im Dezember 1843, die erste Weihnachtskarte der Welt mit dem Text „Merry Christmas and a Happy New Year“. Die tausend hergestellten Karten wurden zudem noch von fleißigen Händen handcoloriert, damit sie nobler wirkten.
Geschäftstüchtig wie er war, beschloss er zudem die Exemplare, die er nicht selbst für seine Weihnachtspost benötigte, für einen Shilling pro Stück in einem seiner Läden zu verkaufen. Die Unkosten bekam er so mit Leichtigkeit wieder heraus, denn jeder – der es sich leisten konnte – war fasziniert von der neuen Mode.

Damit trat Sir Henry Cole, der 1851 auch noch zum Initiator der ersten Weltaustellung (Great Exhibition) im Londoner Hyde Park wurde, einen Trend los, der bis heute ungebrochen ist, weil auch die bereits 1841 eingeführte Briefmarke vieles erleichterte … nämlich den Brauch, Weihnachtskarten an seine Partner, Bekannte, Freunde und Verwandte zu verschicken.
Stichworte: story
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