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Reziwelten

Achtzehn

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Der Wodka half ihm zu verdrängen, was er hier im Namen von Mütterchen Russland tat. Die Deutschen verdienten es für die Gräuel bestraft zu werden, die sie zu Anfang des großen Krieges über seine Heimat gebracht hatten, nämlich d ie Grausamkeit zu erfahren, die sie selbst unschuldigen Familien angetan hatten: Kinder zu misshandeln, ihre Mütter zu missbrauchen und die Väter einfach zu erschießen.

Wassili nahm einen weiteren Schluck und holte tief Luft. Opfer mussten gebracht werden, und da zählte es nicht, dass er schon das dritte Weihnachtsfest nicht zu Hause verbracht hatte, dass seine Frau die Kinder alleine durchbringen musste. Wie gerne hätte er ihr beigestanden, als der kleine Grischa im Sommer …

Nein, daran wollte er jetzt nicht denken. Noch einmal setzte er die Flasche an die Lippen, dann stand sein Entschluss fest. Er musste etwas tun – und wenn er in die Gesichter seiner Kameraden blickte, dachten die ähnlich. Warum also nicht, zeigen, dass sie jetzt die Herren hier waren, dass keine Truppen den Deutschen hier mehr zur Hilfe kommen würden.

Ein polnischer Kollaborateur hatte von einem Gehöft erzählt, dass einer deutschstämmigen Familie gehörte. Er grinste schief und leckte sich über die Lippen. Eine Mutter und ihre Kinder. Hübsche Töchter … vielleicht konnten sie zusätzlich noch ein wenig Spaß haben. So wie damals, als seine Schwester Marja …

„Auf auf, Genossen lasst uns nicht einfach nur hier herum sitzen und Däumchen drehen, bis neue Befehle kommen!“ rief er und klatschte in die Hände. „Ich weiß etwas, mit dem wir uns vergnügen können.“

* * *

Eine halbe Stunde später näherten sie sich dem Gehöft. Es stand wie so viele andere Häuser hier inmitten der Felder und weit genug entfernt, dass die Nachbarn nicht viel von ihrem Treiben mitbekommen würden.

„Eine Frau, ein paar Mädchen und ein halbwüchsiger Junge“, knurrte Wassili. Die werden uns keine Schwierigkeiten machen. „Nehmt euch, was ihr wollt, sie haben es verdient!“

Die anderen lachten zustimmend. Jetzt, wo der hochprozentige Alkohol in ihren Adern kreiste, fühlten sie sich stärker als je zuvor. Was sie taten war gerecht. Sie zahlten es denen heim, die ihre eigenen Familien und Freunde hatten leiden lassen.

Wassili verdrängte die Stimme seines Gewissens und verbannte sie an den Rand seiner Wahrnehmung. Na und, dann waren sie eben nicht besser als die anderen … aber hieß es in der heiligen Schrift nicht auch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“?

Mit festem Schritt ging er auf das Gehöft zu. Seine Kameraden und er machten sich nicht mehr die Mühe sich heran zu schleichen. Warum auch? Was konnten die Bewohner dieses Hauses ihm und den anderen schon entgegen setzen? Und wenn sie es versuchen sollten … er entsicherte seine Waffe … nun, dann würden sie dafür zahlen.
Genüsslich bereitete er sich darauf vor, dass sie erst einmal eine kleine Jagd veranstalten mussten, um die Kinder zu finden. Die Frau würde sich ihnen sicherlich stellen, um Gnade flehen und alles tun, was sie verlangten …

* * *

Doch je näher er der Tür kam, desto mehr irritierte ihn die Ruhe, die auf dem Gehöft herrschte. Nirgendwo klappten Fenster zu, wurden Läden verriegelt oder schauten blasse Gesichter aus dem Inneren. Zudem war auch nur ein Raum beleuchtet – die gute Stube, wie es schien.

Was hatte das zu bedeuten?

Doch nun waren sie einmal hier und Wassili nicht gewillt, den Schwanz einzuziehen und zurückzuweichen. Entschlossen legte er seine Hand an die Haustür. Es bedurfte keiner Kraftanstrengung, sie aufzustoßen. Und auch drinnen war niemand zu sehen.

Zwei seiner Kameraden sicherten den Aufgang zum oberen Stock und die Tür zum Küchenraum, während er mit einer Hand die Klinke zur Stube hinunterdrückte und die Waffe hob.
Mit großen Schritten polterte er in den Raum und erstarrte, denn das war ein Anblick, mit dem er am wenigsten gerechnet hatte.

Kerzen erhellten einen Teil des Raumes. Ein schwerer dunkler Eichentisch war an die Wand geschoben worden. Auf ihm - umgeben von Tannengrün und einigen wenigen Blumen stand ein kleiner Sarg. Und in ihm lag ein Kind, kaum ein Jahr alt.

Wassili schluckte und hatte nur Augen für das blasse stille Baby, das zu schlafen schien, auch wenn die Blässe seiner Haut im Kerzenschein zu erkennen war. Er achtete nicht auf die dunkel gekleidete Frau und die Kinder, die drumherum saßen und kaum zu atmen wagten.

„Grischa …“, flüsterte er tonlos. Sein Kleiner war auch nicht viel älter gewesen und zu einem Opfer der Entbehrungen geworden, die der Krieg ihnen allen auferlegte. Der Stich in seinem Herzen klärte seinen Geist. Verflogen war die Lust, der Familie etwas anzutun und Spaß zu haben.

Unwillkürlich fiel Wassili auf die Knie, legte seine Waffe auf den Boden, nahm rasch die Mütze ab und sprach ein Gebet. Er blieb nicht allein. Seine Kameraden, die nacheinander in den Raum stolperten, taten es ihm gleich. Auch in ihren Gesichtern zeigte sich keine wilde Entschlossenheit mehr, sondern nur noch Ernüchterung, Entsetzen und Trauer.

Wassili sah zu der verhärmten Frau, in deren Gesicht sich das Leid tief eingebrannt hatte, zu dem mit Trauerflor umhängten Bild eines Mannes, den Kindern, die ihn verängstigt ansehen, dann zu dem kleinen Leichnam und schluckte hart.

Nein, das hier waren keine Feinde, sondern Menschen, die das gleiche Leid erfahren hatte, wie die seine. Eine Frau, der nichts als ihre Kinder und eine ungewisse Zukunft geblieben waren … kein Monster, dass nach Blut und Leben hungernde Bestien ohne Gewissen und Moral hervorgebracht und an ihrem Busen genährt hatte.

Wassili setzte seine Mütze wieder auf, nahm seine Waffe und gab den anderen ein Zeichen. „Lasst uns hier verschwinden, damit die Leute in Ruhe trauern und das Kindlein zu Grabe tragen können“, sagte er zu den anderen und fügte in gebrochenem Deutsch eine Beileidsbekundung zu.

* * *

Still verließen sie das Haus. Er zog leise die Tür hinter sich zu und neigte noch einmal den Kopf für ein Stoßgebet. Verflogen war die Lust nach Spaß und Rache, genau so wie der Rausch. Stattdessen schlichen die Männer kleinlaut nach Hause zurück. Keiner sprach ein Wort, doch Wassili ahnte, dass sie vermutlich alle ähnlichen Gedanken nachhingen.

Auch wenn der Krieg – die Befehle der Heeresleitung, sie dazu verdammte, Feinde zu sein … so wusste er jetzt , dass gerade die einfachen Leute, hier und jenseits der Grenzen, einander ähnlicher waren, als er je vermutet hatte, mussten sie doch das gleiche Leid ertragen und mitansehen, wie die große Bestie nicht nur die Männer verschlang, sondern auch unschuldiges Leben, das gerade erst seinen Anfang genommen hatte. Dabei war es doch heilig.

Was für einen Moment wie ein makaberes Krippenspiel gewirkt hatte, war nun nur noch eine bittere Lektion dieses fünften Kriegswinters, die sich tief in seine Seele einbrannte.


(Nach einer wahren Begebenheit bei der Familie meiner Mutter im Kriegswinter 1944/45)
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