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Reziwelten

Siebzehn

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Drei Tage saßen sie jetzt schon in der Herberge fest und Johanna fragte sich, ob sie jemals rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest zu ihrer Schwester gelangen würde. Zudem war ihr der letzte Tag recht lang geworden, denn Friedrich ging ihr seit gestern aus dem Weg. Und das alles nur, weil sie sich unter dem Mistelzweig geküsst hatten …

Johanna seufzte. „Mein Herz ward schwer …“, zitierte sie eine Zeile ihres Lieblingsdichters und verstummte dann abrupt. Nein, sie durfte sich jetzt und hier nicht treiben lassen, sie musste einen Weg finden, die Sache aus der Welt zu schaffen. Es ehrte Friedrich, dass er sich ob dieses Augenblicks der Zügellosigkeit schämte.

Aber - mussten sie beide sich wirklich etwas vorwerfen, nur weil die Gesellschaft, von Menschen gemachte Regeln, es verboten? Die Liebe war etwas Schönes und Reines, eine Blume, die gerade in dieser Zeit, sorgsam gehegt und gepflegt werden musste, weil niemand wusste, wie lang der kostbare Frieden Bestand haben würde, der erst vor ein paar Wochen von den Fürsten beschlossen worden war, denn die Völker Europas waren einander mehr feind denn je …

Liebe und Hoffnung zu bewahren, hatte sie gerade in diesen Tagen von den freundlichen Herbergseltern und ihren Kindern gelernt, die die Gäste an ihrem Brauchtum teilhaben ließen, wo immer sie konnten, ohne je etwas für die Güte und Freundlichkeit einzufordern.
Johanna dankte ihnen von Herzen, dass die Familie ihnen allen die Wartezeit auf die Weiterreise so einfach machten. Und die konnte vielleicht bald in Angriff genommen werden, wenn sie dem Kutscher glauben wollte. In der Nacht hatte der Schneefall nämlich nachgelassen, jetzt sah es so aus, dass die Wolkendecke jeden Augenblick aufreißen konnte.

„Der liebe Herrgott hat heute am Tag des armen Lazarus ein Einsehen mit uns Menschenkindern. Und das grad' rechtzeitig zum Christkindel-Einläuten!“, rief die Wirtsfrau nach einem Blick aus dem Fenster, als sich die Zeiger der Uhr in der Wirtsstube der dritten Nachmittagsstunde näherten. Sie hatte einen warmen Umhang um Kopf und Schultern gelegt, wirkte eben so, als wolle sie jetzt noch ausgehen. „Kommt und beeilt euch Kinder, wir müssen los, ehe die Dämmerung herein bricht!“

Johanna sah sie verständnislos an.

„Ach mein Kind … kennt Ihr das nicht, von dort, wo ihr her kommt? Heut' ist doch der „Tag des armen Lazarus“, und gleich kommt die Stund', in der das Weihnachtsfest eingeläutet wird!“, erklärte die Frau mit einem sanften Lächeln und nahm zwei große Körbe vom Tresen.
Aus der Küche tauchten ihre vier Kinder auf. Sie waren ebenfalls warm angezogen und reich beladen. Die kleinen Gesichter glühten vor Aufregung, als sie ihrer Mutter folgten.

Und als habe es ihr Aufbruch herausgefordert, erklang durch die offene Tür von fern und kaum hörbar eine Glocke. Nach und nach fielen das Geläut in anderen Türmen aus dem Tal ein, zuletzt aus der Kirche deren Türme sie heute morgen direkt im Tal unter der Herberge gesehen hatte.

Unwillkürlich erhob sich Johanna und trat an das Fenster, fragte sich aber immer noch, was die Frau und ihre Kinder vor hatten, während sie beobachtete, wie diese tapfer durch den Schnee stapften, bis sie nur noch als kleine Punkte inmitten der weißen Landschaft zu sehen waren.

„Sie besuchen die einsamen Alten und Kranken im Dorf, um ihnen Gutes zu tun“, hörte sie plötzlich Friedrichs Stimme hinter sich. „Denn anders als im Gleichnis von dem reichen Mann und dem armen Lazarus, das uns Lukas in seinem Evangelium erzählt, wollen sie alles richtig machen. Denn der ließ einen Bettler vor seiner Schwelle verhungern und büßte darauf im Fegefeuer, während der aber arme Mann in Abrahams Schoß ausruhen durfte.
Deshalb versorgen die Frau und ihre Kinder nun diejenigen, die der Hilfe bedürfen im Hier und Jetzt … und machen ihnen eine kleine Freude, die ihnen die kommenden Tage versüßen sollen. Denn Nächstenliebe ist schließlich eine Christenpflicht, eines der sieben Werke der Barmherzigkeit.“
Er blickte verlegen zu Boden, als er abrupt das Thema wechselte. „Verzeiht meine gestrige Ungebührlichkeit“, fügte er dann leise hinzu. „Ich weiß nicht, was über mich …“

Johanna legte einen Finger auf seine Lippen und brachte ihn so zum Verstummen. „Ich auch nicht“, gestand sie. „Wenn jemanden eine Schuld trifft, dann eher mich oder allenfalls uns beide und nicht nur einen, vor allem nicht Euch.“
Sie lächelte zaghaft.
„Wie ihr schon sagtet. Friedrich: Die Liebe ist eine Christenpflicht, eine der Tugenden, denen wir folgen sollen. Deshalb - kann an dem, was wir taten wirklich etwas Unreines und Schlechtes sein, wenn unsere Taten doch aus dem Herzen kamen?“
Einen Moment hielt sie inne.
„So wie eben auch bei diesen guten Leuten hier … Euer Magister mag deren Bräuche dummen und heidnischen Aberglauben schimpfen und verächtlich auf das Treiben herab blicken. Jedoch glaube ich, diese Familie ist ist weiser als so manch gelehrter oder geistlicher Herr! Vor allem hat sie eine Herzensbildung, die ihresgleichen sucht und sicherlich vor dem Herrgott Gefallen finden wird.Denkt Ihr das nicht auch?“

„Ihr sprecht mir aus der Seele, Frau Johanna.“ Friedrich nahm ihre Hand in die seine und hielt sie sanft fest. „Mein Herz erkennt die tiefe innere Wahrheit Eurer Worte und lässt es vor Glück fast zerspringen. Ich habe mir immer gewünscht, jemanden zu treffen wie Euch.“

„Und ich nicht minder. “ Johanna ergriff nun auch seine andere Hand und sah Friedrich tief in die Augen, um ihren neu geschmiedeten Bund zu bekräftigen - und ein Versprechen zu geben, das in dem ausgelassenen Geläut der Kirchglocken seinen Widerhall fand …
Stichworte: story
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